Der neue Roman von Kai Meyer

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Der neue Roman von Kai Meyer. Leseprobe aus Arkadien erwacht“. „. Schon bei ihrer Ankunft auf Sizilien fühlt sich Rosa, als wäre sie in einen alten Film.
Der neue Roman von Kai Meyer Leseprobe aus „Arkadien erwacht“

Schon bei ihrer Ankunft auf Sizilien fühlt sich Rosa, als wäre sie in einen alten Film geraten – der Chauffeur, der ihre zufällige Reisebekanntschaft Alessandro am Flughafen erwartet, der heruntergekommene Palazzo ihrer Tante, und dann die Gerüchte um zwei Mafiaclans, die seit Generationen erbittert gegeneinander kämpfen: die Alcantaras und die Carnevares, Rosas und Alessandros Familien. Trotzdem trifft sich Rosa weiterhin mit Alessandro. Seine kühle Anmut, seine animalische Eleganz faszinieren und verunsichern sie gleichermaßen. Zusammen geraten sie zwischen die Fronten in einem Kampf um Leben und Tod … Das Navigationsgerät führte sie nach Genuardo. Sie hatte vorgehabt, dort den weiteren Weg zum Castello Carnevare zu erfragen, aber das erwies sich als unnötig. Die Festung des Clans erhob sich auf einem Gipfel über dem Dorf, ein mittelalterlicher Koloss aus gelbbraunen Bruchsteinmauern, der von außen so wohnlich aussah wie ein Haufen Hinkelsteine. Die Straße führte in engen Serpentinen den Berg hinauf. Unterwegs, schon vor dem Dorf, waren ihr mehrere Wachtposten aufgefallen. Ein Motorradfahrer, der am Straßenrand so tat, als überprüfe er seinen Auspuff. Ein Mann mit Fernglas, der in einer Parkbucht auf seiner Motorhaube saß und vorgab, die Vögel in den Felsen zu beobachten. Wahrscheinlich gehörte sogar der halbwüchsige Junge dazu, der an der Gabelung zur Bergstraße einen Hund spazieren führte, telefonierte und dabei verstohlen ihren Wagen musterte. Sicher waren ihr noch ein paar andere entgangen. Aber niemand hielt sie auf. Sie lenkte Zoes Porsche Cabrio auf das Tor der Burg zu. Aus der Nähe wirkte die Fassade so wenig einladend wie vom Fuß des Berges aus, aber sie sah jetzt, dass die historischen Mauern täuschten. Die Dächer waren mit glasierten Keramikziegeln ge-

deckt. In die uralten Wände hatte man moderne Fensterrahmen eingelassen. Das eiserne Hoftor konnte niemand passieren, ohne von mehreren Kameras beobachtet zu werden. Dass es offen stand, war der letzte Beweis dafür, dass sie erwartet wurde. Im Schritttempo fuhr sie in den Tortunnel. Gleich zweimal rumpelten ihre Räder über Roste aus verschränkten Stahldornen, die im Ernstfall aufgerichtet werden konnten. Weitere Kameras schwenkten ihr nach, während sie auf den Innenhof der Festung rollte. Der weitläufige Platz war mit Palmen, Orchideen und Kletterrosen bewachsen. Riesige Buchsbäume waren zu sitzenden Tieren zurechtgestutzt. Rosa glaubte erst, sie sollten Hunde darstellen, aber bei genauerem Hinsehen entpuppten sie sich als mannshohe Katzen. Sie hatte einen finsteren Stammsitz wie aus einem Schauerroman erwartet. Stattdessen fand sie gepflegte Gartenkunst vor, mit plätschernden Springbrunnen und einer Voliere voller Singvögel auf der anderen Seite des Hofs. Im Halbdunkel offener Garagentore blitzten die Karosserien polierter Oldtimer. Etwas wuselte zwischen ihnen hindurch – ein schwarzer Hund. Sarcasmo! Er erkannte sie wieder, wedelte mit dem Schwanz – und fuhr plötzlich herum, als hätte ihn jemand aus den Schatten zu sich gerufen. Vielleicht Fundling, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Auf Balkonen mit Steingeländern saßen mehrere Männer und verbargen ihre Augen hinter Sonnenbrillen. Rosa war sicher, dass sie alle zu ihr heruntersahen. Sie stellte den Motor ab und wollte aussteigen, als das Portal oberhalb eines marmornen Treppenaufgangs aufschwang. Alessandro trat ins Freie, in Turnschuhen, ausgeblichenen Jeans und einem T-Shirt mit irgendeinem Bandlogo. Er sah wütend aus. Kurz blickte er über die Schulter ins Innere des Gemäuers, rief etwas, das sie nicht verstand, dann eilte er die Stufen herab und beugte sich über die Beifahrertür. »Lass den Motor an«, sagte er ohne Begrüßung. Sie legte wieder die Finger an den Zündschlüssel, drehte ihn aber nicht um.

Sie setzte zu einer Erwiderung an, die nicht besonders freundlich werden sollte, doch er schüttelte grimmig den Kopf und schwang sich über die geschlossene Tür auf den Sitz. Die Bewegung war so lässig, dass eine ihrer Brauen vor Verblüffung nach oben rutschte. »Ich bin wahnsinnig beeindruckt.« Die Ironie sollte nur überspielen, dass sie es wirklich war. »Fahr los.« Sie wartete noch einen Moment länger, sah hinüber ins Dunkel jenseits des offenen Portals und bemerkte, dass sich die Männer auf den Balkonen wie auf Kommando von ihren Sitzen erhoben. Als hätte ein unsichtbarer Puppenspieler über den Dächern an ihren Fäden gezogen. Jetzt erst bemerkte sie, dass alle Headsets trugen. Sie ließ den Motor an und wendete den Wagen. »Was ist mit dem Tor?«, fragte sie. »Keine Sorge. Ich bin bei dir.« Das war so sehr die falsche Antwort, dass es ihr glatt die Sprache verschlug. Um Haaresbreite wäre sie auf die Bremse getreten und hätte ihn aus dem Wagen geworfen. Wäre da nicht dieser Unterton gewesen, der ihr sagte, dass dies keine Angeberei war. Er war wirklich überzeugt, dass seine Anwesenheit sie gerade vor Schlimmerem bewahrte. Sie seufzte. »Sag’s schon: Ich hätte nicht herkommen dürfen.« »Du hättest nicht herkommen dürfen.« Er sah sie von der Seite an und grinste flüchtig. »Aber ich bin froh, dass du es trotzdem getan hast.« Sie lenkte das Cabrio in den Tortunnel und erwartete, dass die Eisenkrallen im Boden ausgefahren wurden. Die Reifen rollten mit einem leichten Hüpfer über die erste Sperre. Gleich kam die zweite. Die Kameras unter der Decke blickten aus dunklen Augen dem Wagen nach. Hinter ihnen im Hof wurden Stimmen laut. Als sie kurz in den Rückspiegel sah, bemerkte sie, dass jemand an die Balustrade der Marmortreppe trat, sich mit beiden Händen daraufstützte und ihnen nachschaute. Das Rumpeln, als sie über die zweite Sperre fuhren, verhinderte, dass sie den Mann erkannte.

»Cesare?«, fragte sie. Alessandro nickte. Sie verließen den Tortunnel und passierten die Kameras und Mikrofone an der Außenseite. Auf der Serpentinenstraße gab Rosa mehr Gas, als nötig war. Alessandro wurde blass, als sie um die nächste Kurve rasten. Sie lächelte zufrieden. »Deine Tante hatte Recht«, sagte er. »Ganz sicher nicht.« »Doch, es war richtig, dass sie dich von der Insel geholt hat. Tano hat einen Mordsärger bekommen, als Cesare erfahren hat, dass du bei uns warst und er dir nicht mal … einen Schrecken eingejagt hat.« Den Schrecken hatte vielmehr Alessandro ihr eingejagt, als er sich bei seinem Kampf mit Tano verändert hatte. Oder sie geglaubt hatte, dass er sich veränderte. Er lächelte plötzlich. »Wir tun einfach so, als hättest du mich zu einem Ausflug abgeholt.« »Wenn du jetzt sagst ›Fangen wir noch mal von vorne an‹, dann schreie ich. Mein Bedarf an Szenen aus schlechten Filmen ist seit Tanos Bikinifreundinnen gedeckt.« Er lachte und berührte flüchtig ihre Hand an der Gangschaltung, aber seine Finger waren so schnell wieder fort, dass es auch ein warmer Luftzug hätte gewesen sein können. »Wie geht’s dir?« »Du meinst das nicht nur höflich, oder?« Er schüttelte den Kopf. Rosa zuckte die Achseln. »Meine Schwester hat sich gestern Nacht in eine Riesenschlange verwandelt. Und dein Cousin Tano –« »Großcousin.« »Er war auch da, als Tiger. Ich hab ihn an seinen Augen erkannt. Er und die Schlange haben miteinander gekämpft. Dann bin ich bewusstlos geworden.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Wie klingt das?« »Nach Äsops Fabeln. Der von der Schlange und dem Tiger.« »Die gibt’s wirklich?« Er lachte. »Nein. Würde aber passen.« „Arkadien erwacht“ erscheint unter der ISBN 3551582017 im Carlsen Verlag und ist ab November 2009 zum Preis von 19,90 Euro im Buchhandel erhältlich. Mehr zum Buch unter www.carlsen.de/arkadien-erwacht und unter www.kaimeyer.com