Die Schriftkultur des Mittelalters Sitzung 2:

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Jahrhundert. Einziges schriftliches Relikt eines germanischen Heldenliedes in einem deutschen Idiom. Erzählt vom Zweikampf zwischen Vater (Hildebrand) und.
Die Schriftkultur des Mittelalters Sitzung 2: DIE ANFÄNGE DEUTSCHSPRACHIGER ÜBERLIEFERUNG Prof. Dr. Stephan Müller Universität Wien, Österreich

Glossen zum Johannesevangelium

Codex Vadianus 70

Aus der Bibliothek des Humanisten Joachim von Watt (†1551) in St. Gallen.

Althochdeutsche Glossierung (8. Jahrhundert) in einem lateinischen Bibeltext (5. Jahrhundert) Glosse zwischen den Zeilen: Interlinearglosse

Andere Methoden der Glossierung: - Am Rand: Marginalglosse - In die Zeile: Kontextglosse

aft(er)

deisu

so

pat

POST HAEC AUTEM RO GAVIT PILATUM IO SEPH AB ARIMATHI der

uuas

disco

A QUI FUIT DISCIPUL taucono

so

UM IH(ES)U OCCULTE AU duruh

forahtun

TEM PROPTER METU(M) iudeono

IUDAEORUM UT TOL LERIT CORPUS IH(ES)U (Joh 19,38) Danach aber bat den Pilatus Joseph von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, heimlich aus Furcht vor den Juden – dass er den Körper Jesu abnehmen dürfe. Einzelglossen oder Interlinearversion? After deisu so pat PILATUM IOSEPH AB ARIMATHIA der uuas disco IHESU taucono so duruh forahtun iudeono ... ut tollerit corpus IHESU

Schrift des Trägertextes: Unziale

Schrift der Glossen: Frühe karolingische Minuskel, aber Glossenschrift schwerer zu bestimmen als Buchschrift. Also: Extremer Überlieferungszufall eines spielerischen Umgangs mit der deutschen Sprache. Kein systematisches Interesse an der Bewahrung deutscher Handschriften.

Der Abrogans - Das älteste deutschsprachige Buch -  Übersetzung eines spätantiken lateinisch-lateinischen Synonymwörterbuches Handschriften: -  St. Gallen, Stiftsbib. Cod. 911 (Ende 8. Jh.) = K (früher einem Mönch ‚Kero‘ zugeschrieben, den es nie gab) -  Paris BN, Ms. lat. 7640 (Anfang 9. Jh.) = Pa -  Karlsruhe, LB Cod. Aug. CXI (Anfang 9. Jh.) = Ra

Erst Seite aus der St. Galler Handschrift (K)

Erste Seite der Pariser Handschrift (Pa)

aot

mot

Abrogans humiles fa(ter)lih

Abba

fater

pater

St. Gallen: Kontextglossen, Paris: Interlinearglossen St. Gallen: dheomodi und samft moati (Demut, Santfmut) Paris: aotmot (Demut) – Nichtübersetzung zu subtiler Bedeutungsdifferenzierungen. Ablauf: Zunächst wohl Interlinearglossen, die dann in die Zeile

Abba . fater lih . pater fater Abrogans . theo moti . humilis . sampt moti . Wie entsteht eigentlich eine alphabetische Liste? Ka: A1: Adonai, Agnus, Angelus.. Pa/K: A2: Abrogangs, Abba, Abnuere A3 wäre: Abba, Abnuere, Abrogans … aber das gibt es im frühen Mittelalter kaum. A1: 23 mal durchgehen A2: 23x23 mal durchgehen A3: 23x23x23 mal durchgehen

Auf Vor- und Nachsatz einer in Fulda entstandenen Handschrift: Kassel LB, 2° Ms. theol. 54 (auf den Außenseiten 1r und 76v) Handschrift entstanden im 4. Jahrzehnt des 9. Jh. Text entstand schon im 8. Jahrhundert Einziges schriftliches Relikt eines germanischen Heldenliedes in einem deutschen Idiom. Erzählt vom Zweikampf zwischen Vater (Hildebrand) und Sohn (Hadubrand) 2.9.1939 in den Tresor der Kasseler Filiale der Landeskreditanstalt 1943 nach Bad Wildungen ausgelagert – 1945 verschwunden Der Pierpont Morgan Library zum Kauf angeboten (durch Rosenbach; Ablehnung, da identifiziert und Handel mit Beutegut verboten). 1. Blatt in Kaliforniern aufgetaucht (von dem identifiziert, der den Kauf ablehnte) 1955 wieder in Kassel 2. Blatt verschollen: 1970 diplomatische Bemühungen in der RosenbachCollection aufgefunden, auf Vermittlung von Julius Lessing Rosenwald 1972 zurück nach Kassel

Form

horta dat Ik gihorta dat seggen đat sih urhettun ænon muo tin . hildebraht enti hadubrant untar heriun tuem . Ik gihorta đat seggen, đat sih urhettun ænon muotin, Hiltibrant enti Hađubrant untar heriun tuem.

Warum eine Abschrift und wer schreibt ab? -Sprachmischung: Ik (niederdeutsch) aber auch ih (=ich) (hochdeutsch) - Wohl von einem Schreiber, der auf der Insel ausgebildet wurde: wenRune für das W: welihhes (=welches)

- Worttrennungen: ik mi de odre uuet (Ich weiß mir die anderen) in der Handschrift: ik mídeo dreuuet

Fazit: Spontaner Schreibakt eines nicht Muttersprachlers (evt. nach Diktat), der dann mechanisch nochmal abgeschrieben wurde.

Die Merseburger Zaubersprüche Auf Blatt 85 r eines Sakramentars (Messbuch) gefolgt von lateinischem Gebet: Nachtrag 2. oder 3. Jahrzeht des 10. Jahrhunderts Die Handschrift enstand im späten 9. Jahrhundert ‘Heidnischer Text’ (Götternamen: Wotan, Balder etc.) gerahmt von lateinischen Messtexten. Versteckt in der Handschrift (?) Davor bereits ein zweiter deutscher Text

Merseburg, Domstiftsbibl., Cod. 136

Das ‚Fränkische Taufgelöbnis‘ (Blatt 16r), das in einer insularen Halbunziale geschrieben ist. Aus der Entstehungszeit der Handschrift

‚Forsahhistu‘ (schwörst Du ab) Spitze Schaftansätze R und S G ohne Körper

Fazit: In der Handschrift schon früh Interesse an deutschen Texten. Dann Ort für den Ort für den Nachtrag des einzigen heidnischen Zauberspruchs der früh überliefert ist.

‚Wessobrunner Gebet‘ oder besser ‚Wessobrunner Schöpfungsgedicht‘ Überlieferung: München BSB, clm 22053 um 814 Entstehung: Ende des 8. Jahrhunderts Sprache: Bairisch aber mit niederdeutschen Merkmalen

München BSB, clm 22053 um 814

Schreibgewohnheiten Sternrune * für ‚gi-‘

Tironische Note ˥ für ‚enti‘

De poeta

(vom Dichter, über den Dichter, über den Schöpfer?)

Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista, Das erfuhr ich bei den Menschen als größtes Wunder Dat ero ni uuas noh ufhimil, Dass keine Erde war noch der Oberhimmel noh paum noh pereg ni uuas, weder Baum noch Berg war ni sterro nohheinig noh sunna ni scein, nicht ein einziger Stern noch die Sonne schien

noh mano ni liuhta, noh der mareo seo. noch leuchtete der Mond noch der glänzende See Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo, Als da nichts war, kein Ende und keine Wende, enti do uuas der eino almahtico cot, und da war der eine allmächtige Gott manno miltisto, enti dar uuarun auh manake mit inan der mildeste Mann und da waren auch mit ihm viele cootlihhe geista, (enti) cot heilac. göttliche Geister und der heilige Gott.

5

Cot almahtico, du himil enti erda gauuorahtos, enti du mannun so manac coot forgapi, forgip mir in dino ganada rehta galaupa enti cotan uuilleon, uuistom enti spahida enti craft, tiuflun za uuidarstantanne enti arc za piuuisanne enti dinan uuilleon za gauurchanne. Allmächtiger Gott, der du Himmel und Erde gemacht hast, und der du den Menschen so viel Gutes gegeben hast, gib mir nach deiner Gnade den rechten Glauben und guten Willen, Weisheit und Klugheit und die Kraft, den Teufeln zu widerstehen und das Böse zu meiden und deinen Willen auszuführen. Schöpfungsgedicht im Stabreim gefolgt von christlichem Prosagebet. (Schreiber sicher Angelsachse)