VO Literaturgeschichte 1 - Universität Wien

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Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. Günter Grass: Die Blechtrommel. Peter Handke: Wunschloses Unglück. Thomas Bernhard: Heldenplatz.
VO Literaturgeschichte (W. Kriegleder)

SS 2011

VO Literaturgeschichte 1 Wynfrid KRIEGLEDER

Fr., 09.30 - 11.00, Hörsaal 50

ORGANISATORISCHES Die Vorlesung bietet einen Überblick zur deutschsprachigen Literatur von 1900 bis zur Gegenwart. Es sind die Werke laut Lektüreliste, die zusätzlichen Texte auf der Plattform OLAT, ein kanonisierter nicht-deutschsprachiger Roman, ein moderner deutschsprachiger Roman (ab 1990) zu lesen und die Beschäftigung mit 2 Epochen (Kapitel aus Literaturgeschichten oder eigene Werke) ist ebenso verpflichtend. Lektüreliste (selbst zu besorgen): Schnitzler: Leutnant Gustl Kafka: Das Urteil Thomas Mann: Der Tod in Venedig Bert Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder Joseph Roth: Radetzkymarsch Texte auf OLAT-Plattform: Hofmannsthal: Chandos-Brief Hugo von Hofmannsthal: Manche freilich Gottfried Benn: Kleines Aster Gottfried Benn: Schöne Jugend Jakob van Hoddis: Weltende Georg Trakl: Grodek Bert Brecht: Vom armen B.B. Günter Eich: Inventur

Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame Günter Grass: Die Blechtrommel Peter Handke: Wunschloses Unglück Thomas Bernhard: Heldenplatz

Peter Rühmkorf: Hochseil Erich Kästner: Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn? Paul Celan: Todesfuge Ingeborg Bachmann: Böhmen liegt am Meer Ernst Jandl: wien, heldenplatz Rolf Dieter Brinkmann: Einer jener klassischen Durs Grünbein: Grauzone, morgens Rainer Maria Rilke: Archäischer Torso Apollos

Nach freier Wahl: 1. Kanonisierter nicht-deutschsprachiger Roman der klassischen Moderne oder der Postmoderne (Vorschläge: James Joyce, Virginia Woolf, Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway, William Faulkner, Thomas Pynchon, John Updike, John Fowles, Salman Rushdie, Albert Camus, Jean-Paul Sartre, Alexander Solschenizyn, Italo Calvino, Umberto Eco, Gabriel Garcia-Marquez, Harry Mulisch etc.) 2. Deutschsprachiger Roman aus der Zeit seit 1990 (Vorschläge: Marcel Beyer, Thomas Brussig Arno Geiger, Thomas Glavinic, Norbert Gstrein, Josef Haslinger, Peter Handke, Daniel Kehlmann, Michael Köhlmeier, Helmut Krausser, Robert Menasse, Christoph Ransmayr, Gerhard Roth, Robert Schneider, Ingo Schulze, Martin Suter, Uwe Tellkamp, Uwe Timm, Urs Widmer usw.) Verpflichtende Lektüre aus der Sekundärliteratur: Nach freier Auswahl selbständige Beschäftigung mit ZWEI der behandelten Epochen wie z.B. zwei der folgenden Bücher …  Dorothee Kimmich / Tobias Wilke: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende. Darmstadt: WBG 2006.  Ralf Georg Bogner: Einführung in die Literatur des Expressionismus. Darmstadt: WBG 2005.  Johannes G. Pankau: Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit. Darmstadt: WBG 2010.  Gregor Streim: Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt: WBG 2009.  Jürgen Egyptien: Einführung in die deutschsprachige Literatur seit 1945. Darmstadt: WBG 2006.

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… oder ausgewählte Kapitel aus frei zu wählenden Literaturgeschichten wie z. B.:  Ehrhard Bahr (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur: Kontinuität und Veränderung; vom Mittelalter bis zur Gegenwart. In 3. Bden. Bd. 3.: Best, Otto F.:Vom Realismus bis zur Gegenwartsliteratur. Tübingen u. Basel: Francke 1998. (UTB 1465)  Beutin, Wolfgang u.a.: Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart. 7., erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 2008.  Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom „Ackermann“ zu Günter Grass. Tübingen: Niemeyer 1996.  David E. Wellberry (Hg.): A New History of German Literature. Cambridge, Mass. / London 2004, S. 183-592. (daraus ausgewählte Kapitel) Es können in jeder 1. Sprechstunde des Monats Kolloquien abgelegt werden. Prüfungen zu dieser Vorlesung werden noch 3 Semester lang möglich sein!

NATURALISMUS, JAHRHUNDERTWENDE & WIENER MODERNE 1. Einheit (Fr., 4. März 2011) NATURALISMUS Der Naturalismus versteht sich als eigene literarische Strömung, die ein komisches Scharnier zwischen der traditionellen Vormoderne sowie der Moderne der Jahrhundertwende darstellt. Es herrscht jedoch allgemein kein Konsens über den Begriff „Moderne“ vor. In der traditionellen Literatur des atlantischen Kulturraums (Gesamteuropa sowie die USA) herrschte vor dem Naturalismus der Realismus, der in der 2. Hälfte des 19. Jhs. dominant war. Diese Stilrichtung, bei der sich hauptsächlich Bürger als Literaturen versuchten, wollte, die wirklich wahrnehmbare Realität zu beschreiben, aber schönte die Dinge. Es ging somit nicht um eine zufällige Wahrnehmung, sondern darum den tieferen Sinn des Wahren zu erfahren. Es wurden hässliche Aspekte zwar akzeptiert, aber nicht dezidiert beschrieben. In den 1880/90er Jahren kam der Naturalismus als avantgardistische Jugendströmung auf, die sich vor allem auf das Deutsche Reich konzentrierte (in anderen Kulturen kam es nicht zu solchen literarischen Ausprägungen) und proklamatisch vorging. Man sagt, dass eine neue Literatur her müsse, um somit einen Anschluss an die Moderne zu finden. Nicht unwichtig für diese Richtung ist die Staatsgründung Deutschlands 1870. Die Naturalisten hatten ein eigenartiges Selbstbewusstsein, denn sie behaupteten von sich selbst, dass sie neu/modern wären und sahen sich als Schriftsteller wie Naturwissenschafter, die experimentieren mit der Imagination von Personen und Figurenkonstellationen. Dieser kalte, wissenschaftliche Blick auf das wahre Leben spiegelt sich in den Themen dieser Epoche wider, denn meist wird Unerquickliches zum Thema gemacht, wodurch ein bewusster Bruch mit dem Realismus vollzogen wird. Eigentlich wird dieser jedoch weitergeführt, da ebenso die aristotelische Mimesis, also künstliche Imitation der Realität, weitergeführt wird. Laut Arno Holz ist Kunst zwar nahe an der Natur, aber ein gewisses Etwas für die totale Abbildung der Realität fehlt doch (Kunst = Natur - x) Die wenigen Vertreter dieser Richtung sahen die Aufgabe der Literatur in der Abbildung der Realität/Welt durch Sprache. JAHRHUNDERTWENDE Um die Literatur der Jahrhundertwende besser in ihrem Kontext begreifen zu können, sollte man die historischen Ereignisse besser kennen: Seit 1870/71 gibt es ein geeintes Deutsches Reich, wodurch die „Deutsche Frage“ gelöst wurde. Das multinationale Österreich, in dem es seit der Revolution von 1848 kriselte, wurde nicht an Deutschland angeschlossen („Kleindeutsche Lösung“), obwohl es in der österreichisch-ungarischen © A. Sigmund

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Monarchie einen großen Teil an deutschsprachigen Bürgern gab. Es gab jedoch in der 2. Hälfte des 19. Jhs. viele Befürworter der „Großdeutschen Lösung“ - unter ihnen v.a. junge Studenten. 1918 zerbrach die KuK-Monarchie und aus ihr gingen einige Nationalstaaten hervor, aber dem nun neu entstandenen Österreich wurde verboten, sich an Deutschland anzuschließen. Auch die sozialhistorischen Umstände wirken sich auf die Literatur aus, weshalb sie bedacht werden müssen: Es kam zu einer starken Modernisierung, die sich hauptsächlich in den Städten entwickelte (Urbanisierung) und zu einem Städtewachstum führte (Berlin wuchs zu einer Riesengröße an, während Wien immer schon - verglichen mit anderen Städten im deutschsprachigen Raum - groß war). Die neuen technischen Möglichkeiten wie Elektrizität, Autos etc. führten zu einer Beunruhigung/Reizüberflutungen der Menschen (v.a. der Städter), die um ca. 1900 nur mit Reizen zugeschüttet wurden. Aufgrund dieser Reizüberflutung entsteht eine kollektive Nervosität, folglich spricht man auch von „Nervenkunst“. Aus einer diesbezüglichen Kulturkritik entstand die Rückkehr zum Heimatlichen („Heimatkunst“), die das Leben am Land behandelt, während früher eher die Städte - sowie der keimende städtische Antisemitismus (vgl. Karl Lueger) - im Mittelpunkt der literarischen Auseinandersetzung standen. Der Impressionismus, der aus der französischen Kunst stammt, versucht die Realität ungefiltert zu beschreiben und stellt eine Momentaufnahme dar. Am Fin-de-Siècle kam eine Verfallsstimmung auf, da man die alten Sicherheiten zerfallen sah, selbst die Realität sowie die Naturwissenschaften (neue Erkenntnisse!) schienen zu zerfallen. Sogar dem Ich wurde ein Verfall vorausgesagt (der Wr. Physiker Ernst Mach meinte, dass das Ich unrettbar sei), was tiefgreifende Folgen hätte. Seit der Renaissance war das Ich die Basis der Kultur (vgl. „Cogito ergo sum.“ = Ich denke, also bin ich - René Descartes) und bis hin zu Sigmund Freud und darüber hinaus, wurde nach dem Ich gefragt. Der Psychoanalytiker meinte, dass wir zwar Herr im eigenen Haus seien, aber uns das Unbekannte kontrolliert. Seiner Meinung nach habe das Ich im Laufe der Geschichte bereits 3 Kränkungen erlebt: die 1. Kränkung durch Galileo Galileis Entdeckung des heliozentrischen Weltbilds (nicht Erde und Mensch im Mittelpunkt), die 2. Kränkung durch Darwin (Mensch ist nicht Krone der Schöpfung) sowie die 3. Kränkung durch die Erkenntnis, dass das menschliche Denken nur zu geringen Teilen bewusst ist und von Trieben sowie unbewussten Einflüssen getrieben wird. Hugo von Hofmannsthal: „Ein Brief“ an Lord Chandos Er war damals ein junger Autor und verfasst dieses Werk zu einer Zeit, in er eine Krise hatte und sich über sein eigenes Sein und seine allgemeine Befindlichkeit klarwerden musste. Hofmannsthal siedelte diesen fiktiven Brief 1603 an und versetzte sich in die Rolle von Lord Chandos, der an Francis Bacon (bekannt für sein „naturwissenschaftliches Paradigma“) schrieb. Zum Inhalt: Lord Chandos ist ein junger Autor, der schon in frühen Jahren Erfolg hatte, aber nun nichts mehr schreibt. Er beschreibt seine Bredouille, da ihm die Wirklichkeit, sein geschlossenes Ich sowie seine eigenen Sprache abhanden gekommen seien. Er meint, dass die Sprache nicht mehr die Wirklichkeit adäquat beschreiben kann, also ein Konstrukt sei, das sich über die Natur stülpt. Er verwendet die Metapher „ihm zerfallen die Wörter wie modrige Pilze“, womit er die Tatsache bezeichnet, dass die Sprache nur abstrakte Begriffe seien, die er nicht mehr anwenden kann. Als Ausweg bleibt nur der Versuch, ein authentisches Leben zu führen - am Ende des Briefes spricht er davon, dass die Gegenstände fast zu ihm sprechen (jenseits der Sprache können Dinge sprechen). Obwohl Chandos davon spricht, dass er nicht mehr schreiben kann, verfasst er einen hochliterarischen Brief. Daraus schließt man, dass Literatur mit Sprache arbeitet und diese reflektieren bzw. mit ihr bewusst umgehen muss, denn sie ist nicht selbstverständlich. Hugo von H. geht der Frage nach, ob es Kunst ohne Sprache gebe und kommt zum Schluss, dass Musik, Malerei, Stummfilme, Tanz etc. etwas können, was Sprache nicht kann. Auch andere Zeitgenossen der Jahrhundertwende reflektierten über Sprache und interessierten sich für die Großstadt, die Krise des Ichs sowie der Wahrnehmung. © A. Sigmund

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JUNGWIEN/WIENER MODERNE Während in Berlin und München der Naturalismus vorherrschend war, entwickelte sich in Wien Anfang des 20. Jhs. eine eigene kulturelle Strömung, die in der Literatur, bildenden Kunst, Architektur sowie Malerei den Weg in die Moderne ebneten. Warum konnte in Wien überhaupt so eine starke kulturelle Gruppe entstehen? Wien wurde ab der Jahrhundertwende vom Tourismus entdeckt, was an den großen Söhnen und Töchtern Wiens (Schnitzler, Mozart, Freud etc.) lag. Ebenso ist die damalige Größe (um 1910 gab es über 2 Mio. Einwohner!) sowie die multikulturelle Gesellschaft ab den späten 19. Jh. (Metropole des KuK-Reiches als Schmelztiegel der Kulturen, Sprachen und Religionen - v.a. Ostjuden aus Galizien sowie der Bukowina) wichtig für die Entstehung der Wr. Moderne. Besonders bedeutend für die Kultur allgemein waren die Juden, die jedoch seit jeher schikaniert wurden, aber seit dem 18. Jh. besserte sich ihre Lage (1867: Gleichstellung der Juden) zumindest offiziell. Die Judenfeindschaft hielt jedoch noch weiterhin an - nach der ursprünglich christlichen Judenfeindschaft folgt ein rassisch-biologischer Antisemitismus (Jude ist Jude durch Abstammung), der sich mit dem beginnenden Nationalismus (Bürger fühlen sich als Nation) verbindet, wodurch Juden als Eindringlinge gesehen wurden. Es bildeten sich erstmals auch Massenparteien wie die Christlich-Sozialen und die Sozialdemokraten, die von vielen gewählt wurden. Der damalige Wr. Bürgermeister Karl Lueger sorgte zwar dafür, dass Wien erfolgreich in die Moderne starten konnte, aber er war ein bekennender Antisemit. Doch nicht jeder sei - seiner Meinung nach - Jude, denn er bestimme, wer es sei und wer nicht (er war also kein pathologischer Antisemit. Georg Ritter von Schönerer und seine deutschnationale Partei hetzte auch ordentlich gegen Juden mit Parolen wie „Ob Jud‘, ob Christ ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei!“. Trotz dieses Judenhasses ist die Wiener Kultur ganz stark von den jüdischen Einwanderern der 2./3. Generation beeinflusst, die es schon zu bürgerlichen Wohlstand gebracht hatten und als Kulturträger fungierten. Im späten 18. Jh. wird die deutsche Literatur erst langsam berühmt, davor gilt sie als langweilig. Dafür gibt es mehrere mögliche Theorien: Laut Albrecht Schönes „Säkularisation als sprachbildende Kraft“ sind fast alle Dichter/Literaten Söhne von protestantischen Familien (sprachlich-bezogene Religion, da die Predigten wichtig sind!). Dadurch kam es zu einer Verweltlichung der christlich-biblisch-protestantischen Sprache, die v.a. in Norddeutschland wirkte. In Heinz Schlaffers „Die kurze Geschichte der deutschen Literatur“ wird die deutsche Literatur als eher uninteressant beschrieben, die in der Mitte des 18. Jhs. und um 1900 (v.a. im süddeutschen Raum) durch die jüdische Kultur bereichert und verbessert wird. Durch die Säkularisation vieler Juden in Wien gab es zwar weniger Gläubige, aber die ursprünglich wortgewaltige Kulturtradition lebte weiter. Der Begriff der Wiener Moderne ist jedoch nicht nur auf die Literatur (u.a. Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal) beschränkt, sondern auch in der Musik (Arnold Schönberg, Gustav Mahler etc.), Kunst (Schiele, Kokoschka, Klimt, Secession etc.) sowie der Medizin (v.a. Sigmund Freud!) zu finden. Die Schriftsteller des „Jungwiens“ sind eine kleine Gruppe von jungen Literaten, die um 1860/70 entstand und sich als Schule verstand. Diese Strömung hatte natürlich auch Gegner wie zB Karl Kraus (jüdische Familie), der 1899 die Zeitschrift „Die Fackel“ gründete (bald schon seine alleinige Zeitschrift), die sich als Aufklärer sah und somit gegen bürgerliche Moral & Kultur verstand. Er übte eine harsche Sprachkritik („die Sprache prostituiert sich“), die man heute als Satire betrachten kann. Man muss nur vorlesen, was Leute sagen, denn es spricht für sich selbst - er nahm Passagen aus der „Presse“, um sie zu kritisieren.

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Hermann Bahr, der sich selbst als programmatischen Beeinflusser der Wiener Moderne stilisierte, stammte aus dem antisemitischen Lager und ging nach Paris, wo er den Naturalismus einführen wollte. Später führte es ihn nach Berlin und schließlich wieder nach Wien, wo er seine Kritik am Naturalismus niederschrieb („Die Überwindung des Naturalismus“) und dadurch wieder die „Nervenkunst“ proklamiert (sinnliche Rätsel sind wieder wichtig!). Bahr ist als typischer Vertreter der Wiener Moderne zu betrachten, da er das Gegenteil des damalig Aktuellen verkörpert, weshalb er oft als „Mann von Übermorgen“ bezeichnet wurde. Ebenso widmete er sich der Provinzkunst, die sich mit der Zuwendung zu Österreich beschäftigt. Er verkehrte mit vielen (literarischen) Größen der damaligen Zeit und war ein Anreger der Jungwiener Literatur (= Kaffeehausliteratur). Eine genaue Einteilung der Jungwiener ist problematisch, da man nicht weiß, ob es sich um eine homogene Gruppe handelte (der Naturalismus war klar homogen, aber die Jungwiener nicht mehr) und es ist ebenfalls unklar, wie „modern“ sie tatsächlich waren (Abhebung vom Vorherigem → Flucht in Ästhetizismus). Bedeutendste Autoren: Hugo von Hofmannsthal. Er stammte aus einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie mit jüdischem Hintergrund, dies war ihm jedoch egal, da er den säkularisierten Juden angehörte. Er galt als Wunderkind, weil er schon als Schüler als Schriftsteller tätig war. Zuerst schrieb er Lyrik, während er sich später dem Musiktheater (Libretti für Richard Strauss - zB: „Der Rosenkavalier“, „Elektra“). Am Ende seines Lebens verfasste er 2 Theaterstücke („Der Schwierige“ und „Der Unbestechliche“), die als Konversationsstücke angelegt waren, um Fragen zu behandeln und wurde selbst sehr konservativ. Er passt sich der österreichischen Tradition an und konstruierte sich eine solche nach dem 1. Weltkrieg, was man bei den Salzburger Festspielen, die er initiierte, bemerkte - sie zielen stark auf Österreichs Tradition als Alpenrepublik (Berge, Ländliches) sowie den Katholizismus ab. Arthur Schnitzler. Er war Arzt wie sein Vater und stammte auch aus einer jüdischen Familie. Anders als viele Zeitgenossen war er bereits zeitlebens erfolgreich, wobei er in der 1. Republik ein eher unmoderner Autor war und dann erst in den 60/70er Jahren eine regelrechte Renaissance erlebte. Er verfasste Theaterstücke: Anatol (Zyklus, Professor Bernhardi (politischstes Stück!), Der Reigen (Folge von Einzelszenen, nach 1. Weltkrieg erst zugelassen, im Zentrum Sex → Hohlheit der Beziehung & Ausnützung der Machtverhältnisse wird dargestellt) Erzählprosa: Traumnovelle (nach 1. Weltkrieg entstanden und von Stanley Kubrick „Wide Eyes Shut“ verfilmt), Leutnant Gustl (1900 - berühmt, weil 1. großer deutscher Text als innerer Monolog [gab es schon bei James Joyce]), Fräulein Else (1920 - formal gleich wie Leutnant Gustl)

EXPRESSIONISMUS 2. Einheit (Fr., 11. März 2011) Die Zeit nach der Jahrhundertwende von ca. 1910 bis 1925 wird in den Literaturgeschichten zum Expressionismus gezählt, wobei auch hier unterschiedliche Auffassungen bestehen. Das expressionistische Jahrzehnt schlechthin sind die 10er Jahre des 20. Jhs., aber v.a. im Drama sowie im Film lebte diese Strömung noch lange weiter. Im Gegensatz zum Impressionismus, von dem sich die Expressionisten entschieden distanzierten, wurde der Expressionismus bereits von seinen Anhängern/Kritikern so genannt und entstand zuerst in der bildenden Kunst. Stilistisch ist diese Richtung schwer beschreibbar und teilweise sogar in sich widersprüchlich.

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Fest steht, dass es sich um eine oppositionelle, avantgardistische Strömung von jungen Autoren ab etwa 1910 handelt (nach dem 1. Weltkrieg spricht man auch von „historischer Avantgarde“), die sich proklamatisch vom Establishment abhebt. Es ist ein Phänomen der Literatur seit der Romantik, dass sich junge Schriftsteller als Avantgarde gegen das Bisherige stellen und gegen den Zeitgeist aufbegehren. Dieser dezidiert oppositionell-rebellische Charakter äußert sich auch in anderen Strömungen, aber besonders der Expressionismus will schockieren, das Etablierte und gesetzte Bürgerliche in Frage stellen - besonders geht er gegen das bürgerlich-ruhige Leben seit den 1860er Jahren mit ihrer bürgerlichen Ordnung, Familienmoral und -vorstellung, den Kapitalismus, die Sexualmoral sowie den Optimismus der Liberalen vor, jedoch kann man nicht von einem konkreten Programm sprechen. Während diese Richtung am Anfang dezidiert unpolitisch vorging und nur eine Änderung des Lebens anstrebte, wurde sie gegen Ende des 1. Weltkrieges etwas politisch („Aktivismus“ → eine politische Änderung scheint möglich). Die Anhänger dieser Strömung entwickelten sich, sofern sie politisch aktiv waren, hauptsächlich in zwei Richtungen - den Nationalsozialismus sowie den Kommunismus, die beide gegen das Etablierte aufbegehrten. In den 30er Jahren des 20. Jhs. brach eine große Diskussion über den heterogenen Expressionismus aus. Ein typisches Thema für diese Epoche ist das Antibürgerliche, d.h. es werden oftmals „Unbürgerliche“ gezeigt, also Außenseiter der Gesellschaft wie Kranke, psychisch Kranke, Vagabunden, Bohème oder auch Prostituierte - es entstand das „Prostituierten- oder Dirnenlied“ wie zB „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ von Marlene Dittrich im Film „Der blaue Engel“ als einer der berühmtesten sowie letzten Ausläufer dieser Gattung). Die Frauenbilder im Expressionismus sind ebenso äußerst interessant, denn diese Strömung war - wie andere literarische Avantgarden - ein reiner Männerverein. Ihr Ansicht über Frauen ist nicht unproblematisch, was sich v.a. in Otto Weiningers (Wr. Philosoph aus jüdischer Familie) Bestseller „Geschlecht und Charakter“ äußert. In seinem Buch versucht er, die Welt ausgehend von der Bipolarität Männlich und Weiblich zu erklären, denn jeder sei laut ihm bisexuell, wobei immer das Männliche oder Weibliche überwiege. Er setzt das Männliche mit dem Rationell-Intellektuellen gleich und das Weibliche mit dem Intuitiv-Natürlichen, daher sollte man die Frau in sich zurückdrängen sowie den Mann hervorkehren. Das Weibliche sei somit nur Geschlecht ohne Geschichte, denn einzig das Männliche habe Charakter - er geht sogar so weit, das Weibliche mit dem Judentum und das Männliche mit dem Arischen zu vergleichen. Die Expressionisten übernehmen zwar dieses Bild, aber drehen die Wertung um, wodurch sie Kritik üben am Bürgertum, da die Frauen vom männlichen Kapitalismus ausgebeutet werden. Prostituierte werden somit auch als Menschen gesehen, die sich unmittelbar ihren Gefühlen hingeben. Die meisten Expressionisten stammen aus dem gehobenen Bürgertum, haben studiert und bürgerliche Berufe ergriffen (es gab fast keine freien Autoren, die sich nur als Schriftsteller verdingen konnten) - dennoch stilisierten sie sich selbst als Außenseiter. Sie entwickelten eine Vorliebe für den Körper und das Kreative („Vitalismus“), weswegen sie die Freiheit (FKK entstand damals) und das Abgehen vom Bürgerlichen (zB: Frauen sollten sich nicht mehr in Korsette zwängen) propagierten. Auch entwickelte sich ein starkes Interesse an „primitiven“ (nicht europäischen) Kulturen, also den indigenen Völkern Südamerikas sowie Afrikas, die - so der damalige Tenor - ein unmittelbares Leben führten und nicht durch die Gesellschaft verdorben seien. Die bildende Kunst beschäftigte sich zuerst mit primitiver Kunst, wodurch sich die Trennung vom Impressionistischen/den Details hin zum Abstrakten vollzog. Exkurs: „Aschanti-Geschichte“ und Peter Altenberger Peter Altenberger war Anhänger des Jungen Wiens, der von allen geschätzt wurde (sogar von Karl Kraus), der eher ein Impressionist war und Wert auf genaue Momentaufnahmen legte. Etwa um 1900 kam eine „Völkerschau“ nach Wien (= ein Unternehmer holt indigene Völker nach Europa und stellt sie wie einen Zirkus in Städten aus, damit man sie und ihr Leben beobachten kann) © A. Sigmund

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in den Prater, wo ein afrikanisches Dorf nachgebaut wurde, um den Wienern das „ganz normale“ Leben dieser Völker zu zeigen. Peter Altenberger war so fasziniert davon, dass er bei ihnen lebte (obwohl er abends im Hotel schlief) und wollte mit seinen Skizzen und Notizen dazu die entfremdete, dekadente Lebensweise der Wiener aufzeigen. In den USA gab es die sogenannten „Buffalo-Bill-Shows“, bei denen Indianer klischeehaft der Bevölkerung gezeigt wurden, wurde das Bild der Indianer dann auch ins europäische Gedächtnis kam (vgl. Karl May). Der Expressionismus zeichnet sich durch eine große stilistische Vielfalt im Schreiben aus, weshalb es nicht einfach ist, Texte dem Expressionismus zuzuordnen. Jakob van Hoddis: „Weltende“ Der Autor verfasste am Ende seines Lebens dieses Gedicht und griff den Sarkasmus sowie die Apokalypsestimmung der Expressionisten auf, die sich in inkongruenten Bildern wie dem Dachdecker, der abstürzt, dem Schnupfen aller Menschen, der Eisenbahn, die vom Himmel fällt, äußern. Diese literarische Technik, bei der v.a. in der Lyrik unverbundene Bilder parataktisch aneinander gereiht werden, wodurch der Rezipient die Kohärenz selbst erschließen muss, nennt man „Reihentechnik“. Er verzichtet bewusst auf Adjektive und rhetorischen Schmuck, um zur Sache zu kommen, denn es geht um das Essentielle, nicht die Oberfläche wie im Impressionismus. Dies führt auch zu einem Verlust der Individualität der Charaktere - oft ist in Werken nur mehr von „der Mann“ oder „die Frau“ die Rede. Der Inhalt entspricht der Zeit, denn es geht um die Apokalypse (typisch für Expressionismus), der das Ende der alten, verkommenen, kapitalistischen Welt einläutet und eine neue, bessere Welt bringt (messianische Vorstellung aus dem Christentum → Hoffnung auf Besseres bei den Expressionisten). Nach 1916/17 (Revolution in Russland) gab es auch eine stärkere Verbindung zwischen dieser Verbindung sowie der Politik. Gottfried Benn: „Schöne Jugend“ und „Kleine Aster“ Der Schriftsteller war Arzt und schon damals ein berühmter Autor, der beide behandelten Gedichte in der Welt des Spitals, wo Leichen obduziert werden, ansiedelte. Er schockiert, denn er sieht die Körperlichkeit als Verfalls unserer menschlich-leiblichen Existenz. In seinem Werk herrscht oftmals ein großes Pathos vor, wofür er auch berühmt wurde (Pathos kommt aus der antiken Rhetorik, d.h. der Lehre von der Verfassung von Texten/Reden, um bestimmte Wirkungen damit zu erzielen: docere/belehren [rational], delectare/erfreuen sowie movere/bewegen [emotional]). Ein weiterer Expressionist, der für sein großes Pathos bekannt ist, ist Franz Werfel, der ebenso dem Kreis um Kafka zugerechnet wurde (seine Dichtung wird auch oft „Oh-Mensch-Dichtung“ genannt). Die Epoche der „neuen Sachlichkeit“ kritisierte später stark dieses Pathos, das man ab dem 2. Weltkrieg auch wieder beim frühen Paul Celan sowie Ingeborg Bachmann finden kann. Georg Trakl: „Schlacht von Grodek“ Trakl, ein junger Salzburger Dichter, bezeichnete sich selbst als Expressionist, der auch die Reihentechnik verwendet und sogar glaubte, sie entwickelt zu haben („…ich habe eine neue Manier erfunden…“). Obwohl er schon zeitlebens etwas geschätzt wurde, war er selbst ein unglücklicher Mensch wie viele andere Anhänger dieser Strömung auch. Er war deshalb schwer drogenabhängig (hatte Pharmakologie studiert!), weshalb er auch keiner bürgerlichen Karriere nachgehen konnte. Trakl kam auf tragische Weise durch eine Überdosis ums Leben, aber man weiß nicht, ob es ein Unfall oder beabsichtigt war.

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Fast alle Expressionisten wie auch Trakl wurden in den 1. Weltkrieg eingezogen, was sie nicht weiter störte, da sie fast alle kriegsbegeistert waren und Vorstellungen von Abenteuern zu Pferd aus alten Zeiten hatten und daran glaubten, dass nach dem Krieg die alte, verkommene Ordnung weg sei und eine bessere Welt vorherrsche. Mit Freude zogen sie in den Krieg und dachten, dass er schnell wieder vorbei sei wie der letzte Krieg zwischen Preußen und Frankreich im späten 19. Jh. - niemand rechnete mit einem Stellungskrieg, Giftgasangriffen und Co. Nach dem Krieg wandelten sich viele zum Pazifismus, wodurch eine stärkere Politisierung dieser literarischen Richtung eintrat, und zahlreiche andere starben im Krieg. Trakl arbeitete damals in der Schlacht von Grodek in Galizien (heutiges Polen), die eine der erste großen Schlächtereien war, als Sanitäter und kehrte psychisch daran gebrochen heim, wo er einen Selbstmordversuch machte und einige Tage später daran verstarb. Wie auch in seinem Gedicht zeichnet sich der Expressionismus besonders durch große Bildlichkeit sowie religiöse Komponenten (v.a. Apokalypse, Gott etc. aus. Durch dieses Gedicht versuchte er, seine Kriegserlebnisse literarisch zu verarbeiten, um den Leben doch noch einen Sinn abzuerkennen. Seine geradezu absolut gesetzten, schwer auflösbaren Bilder (fast schon Chiffren) sollen die Vorkommnisse unterstreichen. Der Expressionismus ist hauptsächlich in der Lyrik zu finden, aber auch in der Prosa, wobei es keine langen Texte (außer Alfred Döblin in den 20er Jahren) gibt. Die Erzählprosa dieser Strömung ist nicht richtig anzugrenzen und wies selbst in ihrer Hochzeit nur wenige avantgardistische Leser auf, aber in den 20ern wurde sie kanonisierte und große Anthologien erschienen am Markt. Die expressionistische Dramatik konnte er durch geänderte Formen der Medialität entstehen, weil es nicht mehr die Guckkastenbühnen gab wie im Realismus und Naturalismus, sondern neue Arten der Bühne, von denen die Literatur sowie deren Inszenierung profitiert hat - doch aufgrund der starken Zensur während des 1. Weltkriegs sowie der noch nicht stattgefundenen Etablierung des Expressionismus als Bewegung erlebte das expressionistische Drama erst in den 20ern seine Blütezeit. Nach dem 1. Weltkrieg zieht sich diese neue Strömung noch bis in die 20er Jahre hinein, wenn sich auch von der „neuen Sachlichkeit“ (Gegner des Pathos, Kults des Irrationalen sowie der messianischen Vorstellung) stark kritisiert wurde und in den frühen Jahren dieser Dekade im Mainstream verschwand. In den späten 20ern und frühen 30ern gab es noch vereinzelte Experimente dieser Richtung, doch spätestens ab dem Nationalsozialismus starb er aus. Anfänglich wurde diese literarische Epoche von den Nazis akzeptiert, doch bald schon galt sie als „entartete Kunst“. Selbst im Exil (v.a. in Moskau in den 30er Jahren) entstand eine Debatte über den Expressionismus, da die Meinung laut wurde, dass er zum Nationalsozialismus geführt habe. Es wurde ebenfalls eine ästhetische Diskussion geführt und der sozialistische Realismus (= wahre, soziale Verhältnisse sollten abgebildet werden im Gegensatz zur bürgerlichen Dekadenz) wurde geprägt. Franz Kafka Kafka wurde 1883 in Prag geboren und gilt als typischer Vertreter der expressionistischen Generation (aus gehobenem Bürgertum, gebildet), war aber zu Lebzeiten nur wenig anerkannt - einige veröffentlichte Erzählungen waren nur Literaturinteressierten ansatzweise bekannt. Er gehörte neben Werfel u.a. auch zum „Prager Kreis“, der junge Autoren aus Prag umfasste, die über Literatur diskutierten und selber Texte verfasst haben. Er verstarb 1924 und verfügte in seinem Testament, dass seine nichtveröffentlichten Texte verbrannt werden sollten. Sein Freund und Testamentsvollstrecker Max Brod jedoch hielt sich nicht daran und veröffentlichte alles posthum - ob dies ethisch gerechtfertigt ist oder nicht, sei dahin gestellt (vgl. dieselbe Situation nach Thomas Bernhards Tod).

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Manchmal wird er zu den Expressionisten gezählt, manchmal nicht - je nach Literaturgeschichte. In seinen Werken finden sich starke Themen dieser literarischen Zeit wie der Vater-Sohn-Konflikt (auch biographisch bedingt!), der schwarze Humor & Sarkasmus sowie ein Messianismus als Hoffnung auf bessere Zeiten. Heutzutage gilt er als wahrscheinlich berühmtester deutschsprachiger Autor des 20. Jhs., der hauptsächlich nach dem 2. Weltkrieg zu großer Berühmtheit aufstieg. Obwohl seine Werke formal nicht revolutionär sind (keine Sprachenexperimente) und leicht übersetzbar sind (daher vielleicht der Erfolg außerhalb des deutschsprachigen Raums?), vermochte er es, die Grundbefindlichkeiten des Menschen in skurrilen Geschichten auszudrücken. Er schrieb nur Erzählungen sowie Romane. Weiters befanden sich 3 unveröffentlichte Fragmente (waren diese Fragmente absichtlich nicht geschlossen verfasst oder wirkliche Fragmente?) in seinem Nachlass, die von Max Brod publiziert wurden. Unter diesen Fragmenten befindet sich „Der Proceß“, der in einer albtraumhaft-grotesken Komik die Situation des bürgerlichen Bankbeamten Josef K., der angeblich verhaftet wurde, beschreibt. Ebenso interessant ist „Das Urteil“, eine kurze Erzählung, in der die Hauptfigur vom Vater zum Tode verurteilt wird und dieser Sohn das annimmt (biographische Parallele). Dieses Werk erlaubt trotz seiner geringen Länge viele unterschiedliche Interpretationen.

GROSSE ROMANE DES MODERNISMUS 3. Einheit (Fr., 18. März 2011) Ab der Jahrhundertwende sprach man von der Krise des Erzählens bzw. des Romans, da man der Meinung war, dass Sprache nicht mehr in der Lage sei, die Wirklichkeit auszudrücken bzw. ihr nahezukommen (vgl. „Chandos-Brief“ von Hofmannsthal). In den nachfolgenden 4 großen Werken, die prägend für den Modernismus war, wurde versucht, jeweils unterschiedlich auf diese Krise zu reagieren. Um 1920 sprach man bereits davon, dass der Roman tot sei, weil das Erzählen im klassischen Sinne nicht mehr funktioniere, was auch durch die Medienkonkurrenz der Zeitungen sowie der ersten Filme bedingt sein könnte. Diese Krise betraf jedoch nur eine bestimmte Art des Erzählens - nämlich den realistischen Roman des 19. Jhs., der nicht mehr möglich war (viele Schriftsteller schrieben trotzdem im alten Schema weiter und hatten auch durchaus Erfolg damit). Die großen realistischen Romane des 19. Jhs. waren alle illusionistisch, d.h. der Roman erweckt den Eindruck beim Leser, dass er tatsächliche Geschehnisse erzähle bzw. über Wahres berichte, also der Roman versucht, die Fiktion des Mediums (das „Romansein“) und künstlerische Sprache in den Hintergrund zu drängen. Die histoire (Geschehen/Geschichte → „Was?“) ist somit wichtiger als der discours (Art des Schreibens/Diskurs → das „Wie?“), weshalb die Erzähltechnik dem Rezipienten vergessen machen möchte, dass sich um ein Sprachkunstwerk handelt. Der auktoriale Erzähler, der bewertet und kommentiert ist wichtig. Realistische Romane sind nicht besonders schwer zu verstehen, da meist schon anfangs in Ort, Zeit und Figuren eingeführt wird (alles überschauende Erzählautorität), ganz anders als im Roman des 20. Jhs., der spontan und teilweise unklarer einsteigt in die histoire. Der geschlossene Roman, der eine abgeschlossene Welt in sich trägt, wird zunehmend unglaubwürdig. James JOYCE: Ulysses (1922) Biographisches: Joyce wurde 1881 in Dublin (damals war Irland noch bei Großbritannien → Bezüge in seinen Werken: „sein Dublin“) geboren. Er genoss eine gediegene Ausbildung in einer katholischen Jesuitenschule, was sich später auch in der Ambivalenz gegenüber dem Katholizismus äußert (erdrückend, aber bestimmend für Sprache und Identität). Bald schon floh er aus Irland und lebte teilweise in Triest, Paris und Zürich, wo er letztlich 1941 auch starb. In seinem Werk finden sich auch

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Elemente, die auf die zweigeteilte Meinung zur englischen Sprache hinweisen - einerseits ist sie die Sprache der Eroberer, andererseits die Sprache, mit der man sich ausdrücken kann. Er war schon zeitlebens ein anerkannter Autor, aber war dennoch kein Bestseller - erst nach seinem Tod wurde er wirklich berühmt. Joyce gilt jedoch als Gründungsvater der modernen Literatur mit seinem Werk „Ulysses“. Werke: Dubliners, Ulysses, Finnegans Wake Histoire des Werks: Ein Tag in Dublin (16. Juni 1904 bis in die Morgenstunden bis nächsten Tags → „Bloomsday“ als touristischer Feiertag in Dublin, obwohl Joyce aus Irland geflohen) wird aus Sicht zweier Männer beschrieben. Einer ist Stephen Dedalus (Anspielung auf Dädalus aus der griech. Mythologie!), ein sehr junger, intellektueller Schriftsteller, der aus Irland geflohen ist und jetzt nach dem Tod seiner Mutter von Gewissensbissen geplagt zurückkehrt (autobiographische Parallele zu James Joyce) und der andere Leopold Bloom (eigentlich die Hauptfigur), ist ein Dubliner Bürger Ende 30, der als typischer Vertreter des durchschnittlichen Menschen gilt (Massenkultur ist jetzt wichtiger geworden, nicht herausstechende Persönlichkeiten!). Bloom ist jedoch jüdischer Abstammung, weshalb er manchmal versteckten antisemitischen Haltungen ihm gegenüber zum Opfer fällt und nicht als richtiger Ire gesehen wird. LB geht aus dem Haus und geht zur Arbeit (er ist Anzeigenakquisiteur) im Wissen, dass ihn seine Frau diesen Tag betrügt, aber er ist dennoch verliebt in Molly. Er stolpert durch die Stadt (Beerdigung, Besuch bei einer Bekannten im Spital, Nausicaa-Episode am Strand etc.) und trifft am Ende des Tages zufällig auf SD, der ebenso durch die Stadt gestreift ist, und nimmt ihn zu sich heim, wo er ihm etwas zu trinken gibt. Das Ende bildet ein langer innerer Monolog der Molly, die in der Früh, nachdem SD weggegangen ist, aufwacht. Discours des Werks: Der Odysseus-Stoff gilt als Grundtext der europäischen Literatur und wurde in diesem Werk als Folie über die Geschichte des durchschnittlichen Lebens eines Dubliners gelegt, wobei die Grundidee der Odyssee immer noch durchschimmert. Joyce hat einen Interpretationsrahmen vorgegeben und hat somit den Roman ganz penibel nach Modell der Odyssee geplant/konstruiert. Man kann das Werk ebenso wie die Odyssee als zweisträngige Handlung verstehen, in der der Vater heimkommen will (Odysseus = LB) und der Sohn ihn sucht (Telemachus = SD). Ulysses ist ein sprachliches Kunstwerk, das versucht, die ganze Welt (hier: Dublin an diesem Tag) in ihrer Totalität zu versprachlichen, weshalb verschiedene sprachliche Mittel je nach Episode eingesetzt werden. U.a. findet man zu Beginn ein meisterhaftes Beispiel für die erlebte Rede (3. Person, aber Erzähler und Bewusstsein der Person verschwimmen ineinander), eine Parodie der Entwicklung der englischen Sprache (vgl. Spitalszene bei schwangeren Bekannten → Entstehung des Englischen wird mit Geburt verglichen), eine an den katholischen Katechismus angelehnte Frage-Antwort-Episode sowie die Bordell-Szene, in der Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen. Bei Joyce sind Wortspiele (puns), die die Ambiguität von Wörtern betreffen, sehr wichtig. Vor allem der Monolog am Ende ist schwer zu verstehen, da es sich hier um eine konsequente Fortsetzung des inneren Monologs (vgl. Schnitzler: Leutnant Gustl) handelt, Molly in den Zeiten springt und nur Personalpronomina verwendet (he, she etc.). Ebenso wirkt sich die Tatsache, dass Molly im Bett liegt, auf das Geschriebene aus - für diesen Dialog hat sich Joyce intensiv von seiner Frau Nora beraten lassen. Wie geht Ulysses gegen die Krise des Romans vor? James Joyce versucht, die Wirklichkeit in Sprache zu übersetzen, aber baut auch teilweise illusionistische Phasen (zB: Mollys Monolog) ein, wodurch der Leser das Gefühl hat, direkt am Geschehen teilzuhaben. © A. Sigmund

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Thomas MANN und seine Romane: Biographisches: Thomas Mann wurde 1875 in Lübbeck, Norddeutschland, in eine reiche Kaufmannsfamilie hineingeboren und galt als Sorgenkind, da er die Schule abbrach und nicht studierte. Er eignete sich jedoch ungeheures Wissen als Autodidaktik an, welches er in seinen Werken auch verwendete - manche Kritiker warfen ihm vor, er wolle in seinen Büchern nur mit seinem Wissen angeben. Er ging früh nach München (damals die Avantgardehauptstadt im deutschsprachigen Raum), wurde mit dem Samuel Fischer Verlag vertraut, der einige Erzählungen von ihm veröffentlichte (Fischer war DER Verlag der Naturalisten!) und veröffentlichte mit 25 sein grandioses Werk „Buddenbrooks“, wodurch er sich in der literarischen Szene fest verankerte und später auch den Nobelpreis bekam. Buddenbrooks ist ein Familienroman (typisch für 19. Jh.) handelt vom kulturell-intellektuellen Aufstieg einer Lübbecker Kaufmannsfamilie (vom derben Kaufmann zum künstlerischen, schwächlichen Sohn) über 4 Generationen verbunden mit einem Verlust von ökonomischer Potenz, der sich in einer physischen Degeneration in der wirklichen Welt niederschlägt (vgl. Darwin und Vererbungslehren). Schließlich werden die Buddenbrooks selbst von einer derben Kaufmannsfamilie abgelöst. Nach den Buddenbrooks war Mann bereits ein angesehener Autor, der nach Beginn des ersten Weltkriegs noch für den Krieg war (Wortführer des Konservatismus!), wobei er Europa in zwei konträre Pole einteilte: England und Frankreich als Westen (= Zivilisation → Politik basiert auf Banalem wie Verfassungen) vs. Deutschland und den Osten (= Kultur → Politik basiert auf Wahrem, Innerem, Tiefem). Er war somit ein Verfechter Deutschlands sowie des Ostens, denn im Westen sei ein Autor nur „Schriftsteller“, im Osten jedoch „Dichter“ - es sollte also die Kultur/der Osten vorherrschen. Sein Bruder Heinrich Mann, ein bekannter linker Autor, stand auf Seiten Frankreichs. In den 20. Jahren (Weimarer Republik) bejahte Thomas Mann die Republik, weil es die vernünftigste Lösung für Deutschland sei („Vernunftrepublikaner“), später sogar ist er ein Vertreter/Aushängeschild der Republik. Viele standen in der Phase den jungen Republiken kritisch gegenüber und wünschten sich einen starken Mann zurück, der sie führen sollte (daher könnten sich auch totalitäre Regime wie der Austrofaschismus oder die Nationalsozialisten durchsetzen). 1933 als Hitler an die Macht kam ging er zuerst nach Frankreich und später nach Kalifornien (Santa Monica), wo er als bedeutender Vertreter der deutschen Kultur im Ausland als Sprachrohr eines anderen, besseren Deutschlands fungierte. Er veröffentlichte oft Reden über das Radio (auch BBC und in deutschen Sendern). Nach dem Krieg kehrte er nach Europa zurück, wusste aber nicht, ob er in den Westen (BRD) oder Osten (DDR) gehen sollte, weshalb er schließlich in die Schweiz zog, wo er 1955 auch starb. In Tonio Kröger (Tonio als italienischer Name ein Hinweis auf Kunst und Kröger als typisch norddeutscher Nachname ein Indiz für die biedere Kaufmannsfamilie) ist eine Künstlernovelle, die vom jungen Künstler Tonio Kröger handelt, der in das Bürgertum eintreten will („ich möchte die Wonne des Bürgerlichen erfahren“), um sein Außenseiterdasein als Künstler zu beenden. Es lassen sich bei Thomas Mann zwei Hauptthemen wiederkehrend finden: die Debatte um Kunst und Wahnsinn, bei denen der Künstler als Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft gesehen wird, der irgendwie nicht in die bürgerliche Welt will, aber auch nicht rein kann. Weiters spielt seine Homosexualität eine nicht unbedeutende Rolle, denn er sieht sie zwar als Außenseiterfluch, aber auch als Erwählung, die ihm Leiden verursacht. In seiner Jugend beschloss er schon, sich in ein bürgerliches, „normales“ Leben zu flüchten („… ich habe mit eine Verfassung gegeben…“), verheiratete und wurde Vater. Seine künstlerische Existenz äußerte sich trotz seiner selbstverordneten Normierung in seinem literarischen Schaffen. Von den deutschsprachigen Schriftstellern des Modernismus geht Mann scheinbar am konventionellsten und der Tradition des 19. Jhs. am meisten verhaftet vor. Er führt die realistische, fragwürdige Erzähltradition durch Bewusstsein und Reflexion weiter, in dem sie mit Ironie betrachtet. © A. Sigmund

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Werke: Buddenbrooks, Tonio Kröger, Tod in Venedig, Zauberberg, Josef und seine Brüder (Neuerzählung einer Geschichte des Alten Testaments, um den Mythos zu humanisieren), Doktor Faustus (Aufgreifen des Faust-Stoffs als Künstlergeschichte - ein Künstler bekommt seine künstlerische Genialität erst durch Geschlechtskrankheiten). Tod in Venedig: Der Protagonist Gustav von Aschenbach hat sich zeitlebens streng an seine selbstauferlegte Normierung gehalten und in ihm Brodelndes unterdrückt. In Venedig (Venedig als Stadt zwischen Wasser und Land steht u.a. für das Außenseitertum, aber auch die Vergänglichkeit sowie den Tod) lässt er sich dann jedoch fallen und gibt sich seinen Wünschen/Vorstellungen (Anziehung zum polnischen Knaben Tadzio) hin, die ihn schlussendlich sein Leben kosten. Trotz Gefahr (die Cholera wütet in Venedig) bleibt er, da er dermaßen von diesem Jungen fasziniert ist. Im Tod in Venedig geht es folglich um den Verfall des Künstlers, der sich ins Bürgertum begeben hat, aber seine Wünsche stets unterdrückt hat. Die Geschichte ist nur so mit mythologischen Motiven gespickt (zB: Anreise per Schiff = Überfahrt über den Styx, Fährmann = Charon etc.) - man spricht auch von der „Leitmotivtechnik“ (= gezieltes Einsetzen von einzelnen Motiven), die sich schon vereinzelt bei traditioneller Erzählliteratur des 19. Jhs. (vgl. Effi Briest von Theodor Fontane) findet. Diese Technik wird auf Richard Wagners Leitmotive in Opern zurückgeführt (bestimmte musikalische Motive in der Komposition, die mit der Handlung verbunden sind, wodurch sich ein Netz aus miteinander verbundenen Motiven ergibt). Histoire des Werkes: Geschichte des jungen Hans Castorp, der in die Schweiz nach Davos reist, um dort in einer Lungenheilanstalt seinen Vetter Joachim Zinnsen zu besuchen. Er ist derart von der unbürgerlichen, morbiden, kosmopolitischen Atmosphäre des Zauberbergs fasziniert, dass er selbst 7 Jahre (1907-1914) dort bleibt. Im Rahmen seines Aufenthalts erlebt er eine hohe geistige Steigerung, doch er bekommt nicht alles vom intellektuellen Gespräch mit seinen Mitpatienten mit. Er trifft weiters eine russische Frau (vertritt Manns Vorstellung des „guten“ Natürlichen) und lernt zwei Lehrer kennen - einen italienischen Humanist sowie einen russischen Jesuit-Kommunist, fast schon Terrorist. Das Ende des Buches ist der 1. Weltkrieg - ein auktorial-ironischer Erzähler meint, dass Hans Castorp wohl im Krieg sterben werde. Äußerlich gibt es somit im Rahmen der histoire außer den zahlreichen Gesprächen am Zauberberg mit anderen Patienten keine großartige Geschichte, wodurch das Werk als Parodie auf den Bildungsroman gesehen werden kann. Ebenso gilt es als Zeitroman, da es einerseits die Gesellschaft dieser 7 Jahre wiedergibt, als auch andererseits das Problem der Zeit diskutiert (v.a. „subjektives Zeitempfinden“ = Neues wird als lang erlebt, Routine vergeht schneller). Wie geht „Der Zauberberg“ gegen die Krise des Romans vor? Mann versucht mit einen mythologischen und anderen Anspielungen ein Netz an sprachlich geformten Leitmotiven zu erzeugen, welches sich über die Handlung legt. Alfred DÖBLIN: Berlin. Alexanderplatz. Biographisches: Döblin war ein wichtiger Vertreter des Expressionismus, der aus einer jüdischen Berliner Familie stammt und als Arzt arbeitete. Später konvertierte er jedoch zum Katholizismus, was sich auch teilweise in seinem Werk niederschlägt. Als er ins Exil ging, war er bei Weitem nicht so bekannt wie Thomas Mann. Histoire des Werks: Das Werk handelt von der Geschichte des Franz Biberkopf, einem Kleinkriminellen, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde, und sich bessern möchte, was ihm jedoch nicht gelingt. Am Ende macht er eine religiöse Erfahrung, die ihn fortan prägt.

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Discours des Werks: Der Titel allein verweist schon auf zwei Inhalte: einen Stadtroman über Berlin als pulsierende Stadt der 20er Jahre sowie die Geschichte des Franz Biberkopf, die typisch für den Expressionismus mit messianischen Elementen (die religiöse Erfahrung) arbeitet. Döblin verwendet in seinem Werk die Montagetechnik, um seine Stadt zu zeigen. Diese literarische Technik kommt aus der bildenden Kunst und will v.a. nicht vertuschen, dass verschiedene Materialien verwendet werden, sondern kontrastive Gegensäte aufzeigen (er verwendet zB deutlich Reiseführer, Zeitungsartikel, Bibelzitate, Fahrpläne etc.). Dadurch will er eine Totalität erreichen, wie sie damals vom Roman gefordert wurde. Die Kritik am traditionell-realistischen Roman ist, dass er diese Totalität nicht abzubilden vermag, weshalb die Moderne die Totalität nicht greifen will und kann. Thomas Mann hingegen hat in seinem Zauberberg indirekt verschiedene Quellen verarbeitet, ohne dass dies offensichtlich wäre. Robert MUSIL: Der Mann ohne Eigenschaften Biographisches: Robert Musil wurde 1880 in Klagenfurt geboren, von wo er schon bald wegging und in Brünn/Brno aufwuchs. Er war zweifellos der intellektuellste Autor dieser Epoche, da er Mathematik sowie Philosophie studierte und sogar mit einer Arbeit über Ernst Machs Erkenntnistheorie dissertierte. Meist lebte er in Wien, musste jedoch 1938 in die Schweiz emigrieren, wo er schlecht lebte. Zeitlebens wurde er zwar von literarisch Interessieren geschätzt und bekam sogar Preise, aber konnte nicht davon leben, weshalb er sehr verbittert wurde und auf Kollegen wie Mann oder v.a. Werfel nicht gut zu sprechen war. Histoire des Werks: Die Geschichte spielt in der Hauptstadt des fiktiven Kakaniens (Anspielung auf die KuK-Monarchie), in der eine Gruppe einflussreicher Bürger sowie Hofbeamter beschließt, das 70. Thronjubiläum von Kaiser Franz-Joseph in ein paar Jahren pompös zu planen, denn in Deutschland werde das 35. Thronjubiläum von Kaiser Wilhelm I. gefeiert. Die Gruppe plant diese „Parallelaktion“, doch was wirklich gemacht werden sollte, bleibt unklar. Ulrich, „der Mann ohne Eigenschaften“ (= verwehrt Anderen, ihm Eigenschaften zuzuschreiben und weigert sich, eine ihm gesellschaftlich zugewiesene Rolle zu leben) nimmt ein Jahr Urlaub und wird zufällig Teil dieser Gruppe, die ihn zum Sekretär ernennt. Das Werk ist unvollendet und kostete Musil 20 Jahre - man weiß aber nicht, ob der Roman absichtlich unvollendet ist oder ob er wegen der Utopie nicht vervollständigbar war. Für die Editionsphilologie war das Werk eine große Herausforderung, denn aufgrund der langen Schreibzeit wurden zahlreiche Kapitel umgeschrieben, weggestrichen etc. Adolf Frisé hat das Werk dann herausgebracht, doch wie bei Kafka weiß man nicht, ob das Werk so ist, wie es vom Autor intentiert war. Musil versucht Intellekt-Ratio-Vernunft sowie Mystik („taghelle Mystik“ = unmittelbare Erfahrung des Göttlichen/Religiösen ohne Esoterik) zusammenzubringen und sich die Frage zu stellen, wie man ohne das Hirn abzuschalten, mystische Erfahrungen machen kann. Er spricht auch vom Erreichen eines „anderen Zustands“ zwischen dem Rationalen und Irrationalen. Wie geht Musil gegen die Krise des Romans vor? Er meint, dass Erzählungen nicht mehr funktionieren, sondern Essays der Hauptteil der entscheidenden Fragen der Zeit sind, über die reflektiert werden muss. Er geht somit ähnlich wie Hermann Broch (Wr. Autor) vor, der eine essayistische Romanauffassung hatte, die besagt, dass ein „Roman“ eher wie ein philosophisches Essay als ein Roman zu lesen sei.

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WEIMARER REPUBLIK & NEUE SACHLICHKEIT 4. Einheit (Fr., 25. März 2011) In der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts beginnen sich die nationalen Literaturen langsam durch ihren jeweiligen Kontext auseinander zu entwickelt - es entstand somit eine österreichische, deutsche und Schweizer Literatur (nach dem 2. Weltkrieg könnte man noch in eine west- und ostdeutsche Literatur trennen). Historiker sprechen oft von einem „langen 19. Jahrhundert“, das 1789 mit der Französischen Revolution als Ablösung des Ancien Régime (alten Systems) beginnt und sich bis zum Ende des „neuen“ Systems mit Ende des 1. Weltkriegs sowie Zerbrechen der großen europäischen Kaiserreiche hielt. Das 20. Jh. wird manchmal als „kurzes 20. Jahrhundert“ bezeichnet, das ab 1918 bis zum großen Umbruch im Osten 1989/90 gesehen wird. Alle literarischen Avantgarden wie Naturalismus, Expressionismus oder Wiener Moderne sind als Reaktion auf die Modernisierungserfahrungen bzw. einen Modernisierungsschock zurückzuführen, der durch die schnelle Änderungen des Systems sowie des Alltags hervorgerufen wurde. Der historische Kontext ist für die Literatur in den 20/30er Jahren sehr bedeutend, daher wird er an dieser Stelle auch kurz behandelt: 1914-1918 tobte in Europa der 1. Weltkrieg, der alle bisherigen Kriege in den Schatten stellte, denn keiner rechnete mit einem derartigen Stellungskampf sowie Giftgasangriffen etc. Nach Ende dieses Kriegs brach die Habsburgermonarchie zusammen und viele nationale Nachfolgestaaten entstanden in Zentraleuropa, die jedoch noch jahrzehntelang (bzw. teilweise bis heute) mit den Problem der ethnischen Vermischung zu kämpfen haben, weshalb keine reine Nationalidentität entstehen konnte. Ab 1945 begannen dann in zahlreichen Ländern, v.a. im ehemaligen Jugoslawien „ethnische Säuberungen“, um reine Nationen für Serben, Kroaten etc. zu erhalten - funktioniert hat dies jedoch bis heute nicht, was immer wieder zu Verstimmungen und Ressentiments führt. Neben dem Ende der KuK-Monarchie brachen auch die Kaiserreiche in Deutschland sowie Russland zusammen, wo sich ebenfalls neue Republiken bildeten. Anfangs gab es Hoffnungen, dass das Leben in Republiken besser und demokratischer als vorher sein könnte, doch schon bald stellten sich erste, ernsthafte Konflikte ein. In Deutschland wurde eine Republik ausgerufen, die dann als „Weimarer Republik“ bekannt wurde, da man die Goethe- und Schiller-Stadt Weimar, das „geistige Zentrum“ Deutschlands, als Basis dieses jungen Staats etablieren wollte, um sich auch von der Hauptstadt Berlin (Zentrum des alten Preußens) distanzieren zu können. Diese bürgerlich-demokratische Republik wurde jedoch wie die anderen „frischen“ Demokratien (z.B.: 1. Republik in Ö) von der Mehrheit der Bürger abgelehnt. Die Linken (v.a. Heinrich Mann als führender Vertreter des links-liberalen Systems sowie Alfred Döblin) setzten große Erwartungen in Russland, das nach der Oktoberrevolution zur „Sowietunion“ wurde und sich vom Kapitalismus lossagen wollte - es wünschten sich eine eventuelle Umsetzung dieses Konzepts in Deutschland. Die Rechten wollten entweder eine Monarchie oder die Herrschaft einen starken Mannes (was 1933 unter Adolf Hitler ja passieren sollte). Beide Seiten - die gemäßigt-linken Republikaner (linke, bürgerliche Intellektuelle) sowie die konservativen Vernunftrepublikaner (u.a. Thomas Mann, der anfangs gegen eine Republik als „westliche“ Erfindung war), die lieber eine Republik als ein extremistisches Regime wollte, waren in der Minderheit. Die Weimarer Republik war nach 1918 anfangs von großen Krisen gekennzeichnet, denn nach dem Krieg hatte sie mit hohen Schulden, einer extremen Inflation sowie sehr hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen. 1923 versuchte Hitler als Anführer einer kleinen Splitterpartei - der NSDAP - in München, einen Putsch durchzuführen, doch er scheiterte und wurde kurz inhaftiert. Während seiner Haft schrieb er das Werk „Mein Kampf“, das zur „Bibel“ des 3. Reichs wurde.

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Durch die katastrophalen Umstände hatten vor allem die ehemaligen Beamten sowie das Bürgertum zu leiden, die früher einen fixen Beruf hatten, weshalb sie zu großen Teilen gegen die Republik waren und schon bald zu den rechtsextremen Parteien (v.a. NSDAP) übertraten. Doch schon bald konnte die die Weimarer Republik langsam konsolidieren und es ging wieder bergauf („Goldene Zwanziger“). 1929 jedoch war es mit dem Aufschwung vorbei und der große Börsenkrach schwappte von den USA auf Europa über, was erneut zu großen Problemen führte. Aus dieser ökonomischen Krise sowie den prekären politischen Umständen konnte die Nationalsozialisten politisches Kapital schlagen - denn seit den späten 20er Jahren bzw. frühen 30er Jahren gewann die NSDAP stets dazu und es gab keine Regierungen mit parlamentarischer Mehrheit. 1933 ernennt Reichspräsident Hindenburg, der aufgrund eines Paragraphen aus dem 1. Weltkrieg in dieser schwierigen Zeit de facto absolute Macht besitzt, Hitler zum Reichskanzler, der vorerst scheinhalber mit anderen Parteien Koalitionen bildet, bevor er alleinregiert und das 3. Reich gründet. Neben dem regionalhistorischen bzw. politischen Kontext, zeichneten sich die 20er Jahre durch zahlreiche neue Entwicklungen aus: Erstmals erschienen neue Medien in größerem Ausmaß wie der Film, den es als Stummfilm bereits seit dem 1. Weltkrieg gab. Der Film wird nun aufgrund eines anderen Verhalten nach der Arbeitszeit neben dem reinen Freizeitvergnügen auch zur Konkurrenz/Beeinflussung der Literatur. Trotz aller Befürchtungen konnte der Film die Literatur nie verdrängen, doch aus Angst über Verschwinden im medialen Gedächtnis machte man sich Gedanken, wie die Literatur filmische Erzählungen übernehmen/verarbeiten sollte. Durch den Aufstieg der Filme kam es ebenso zum Aufkommen des Filmstars und zu erfolgreichen literarischen Verfilmungen, an denen die Autoren mitverdienten. Um sich ein zweites Standbein zu schaffen, schrieben auch nicht wenige Schriftsteller Drehbücher - allgemein kann man anmerken, dass das klassische Autorenkonzept zu wackeln begann, denn beim Medium Film verschwimmt die Autorenschaft. Der Medientheoretiker Walther Benjamin konstatierte, dass durch den Film das Kunstwerk seine Einmaligkeit, d.h. seine „Aura“, einbüße (vgl. „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“). Neben dem Film stieg auch das Pressewesen zu einem ungeahnten Erfolg auf, was hauptsächlich auf den Wegfall der Zensur zurückzuführen ist sowie die zunehmende Urbanisierung (die Kultur der Großstädte wie Berlin oder Wien mit ihrer Massenkultur rückte ins Zentrum des Interesses). Durch die Wichtigkeit der Zeitungen entstand als neuer Beruf erstmals der Journalist, dessen Rolle in der literarischen Epoche der Neuen Sachlichkeit bedeutend war. Das rasche Wachstum der Städte (Berlin hat sich binnen 20 Jahren von 4 Mio. auf 8. Mio. Einwohner verdoppelt!) beschleunigte die Spaltung in Stadt und Land - besonders im plötzlich kleinen Österreich wurde durch die überproportional große Hauptstadt Wien der Unterschied Zentrum - Provinz extrem. Ein sozialhistorischer interessanter Fakt für diese Epoche ist das entstandene Angestelltentum, in dem v.a. Frauen zu finden waren. Siegfried Crackauer, ein soziologischer Schriftsteller sowie Filmtheoretiker versuchte 1929/30 in einem Aufsatz, das Bürgertum zu beschreiben. Diese neue Schicht befand sich in einem prekären Zwiespalt - einerseits grenzten sie sich vom Proletariat ab und steigen langsam zum Bürgertum auf, aber andererseits lebten sie stets in der Angst eines sozialen Abstiegs. Die Angestellten sorgten durch ihr Freizeitverhalten für einen ersten Kulturkonsum und gingen oft ins Kino, in Tanzpaläste oder ins Kabarett, wodurch sich eine unwiderrufliche Trennung von Arbeits- und Freizeit vollzog. In der Literatur wurde über die „neue Frau“ (z.B.: „Das kunstseidene Mädchen“ von Irmgrad Keun, 1932) geschrieben, aber auch im wahren Leben änderten sich tradierte Rollenbilder (wie jung verheiratet werden oder als alte Jungfer von der Familie erhalten werden etc.). Durch das Aufkommen von Büros und Textproduktionsmitteln fanden viele Frauen eine Stelle in Firmen als Vorzimmerdame oder „Tippse“/„Tippmamsell“. Die Frauen warten nicht mehr in ihrem Kämmerchen © A. Sigmund

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auf den Traumprinzen, sondern waren unabhängig, gingen arbeiten und waren auch sexuell selbstbestimmt, denn sie suchten sich ihre Männer aus. Die Männer waren natürlich zunehmend verunsichert aufgrund dieser „Revolution“. Bezüglich der Literatur der 20er Jahre kann man nur schwer stilistisch-literarische Kennzeichen anführen, weil zahlreiche Stile nebeneinander zu finden waren - manchmal wurde einfach nur vom Jahrzehnt der „Neuen Sachlichkeit“ gesprochen. Mit der Konsolidierung der Weimarer Republik in der Mitte dieser Dekade stieg die Neue Sachlichkeit zum dominantesten Genre auf. Diese Richtung ist nicht mit dem Naturalismus oder Expressionismus, die sich beide im Film und Theater bis in die 20er hinein finden ließen, zu verwechseln. Bis heute ist es unklar, was denn diese literarische Strömung eigentlich auszeichnet - schon damals waren sich die Zeitgenossen uneinig, ob es sich um eine konservative oder liberal-fortschrittliche Stilrichtung handle. Es wurde ihr jedoch wie anderen mimetischen (d.h. die Realität abbildenden) Stilen vorgeworfen, dass durch die reine Abbildung des „Realität“, diese akzeptiert werde, obwohl es die Aufgabe der Kunst sei, Änderungen hervorzurufen. Walther Benjamin wetterte gegen Erich Kästner, der bisweilen in diese Gruppe der Neuen Sachlichkeit eingeordnet wird, dass diese Richtung „linke Melancholie“ sei. Unter den Nazis wurde dieses Genre nicht als entartete Kunst angesehen, sondern sogar als förderlich durch die Abbildung des wahren Lebens. Doch was sind nun Kennzeichen der Neuen Sachlichkeit (NSL)? Eindeutig feststellen lässt sich der Habitus der Kälte/Coolness bzw. Distanz, denn es werden keine affektiven Regungen gezeigt. Ebenfalls kann man eine Orientierung am Journalismus beobachten, denn der Reporter ist zum Vorbild der NSL avanciert, da er objektiv über Geschehen berichtet. Die USA werden auch thematisiert und die amerikanische Kultur übt langsam einen starken Einfluss auf Europa aus - hierbei gibt es auch wieder Autoren, die diesen Amerikanismus bejahen oder ablehnen. Abgelehnt wird er von den Linken, die den USA vorwerfen, zu kapitalistisch zu sein (das Fließband war damals eine Horrorvorstellung in Europa) sowie keine Kultur zu haben, und den Rechten, die die mangelnde ethnische Tradition und das Fehlen eines organisch gewachsenen Volkes bekrittelten. Das einzig, als positiv angesehene Import aus Nordamerika war damals der Jazz, doch selbst dieser wurde nur als „Negermusik“ abgetan. Der österreichische Schriftsteller Ernst Krenek schuff in dieser Zeit die Oper „Jonny, spielt auf“, die damals trotz des Rassismus‘ sehr berühmt wurde. Ein weiterer Aspekt des täglichen Lebens wurde in die Literatur aufgenommen - der Sport als Massenphänomen fand auch seinen literarischen Platz. In den 20er Jahren kamen erstmals sportliche Großereignisse wie Radrennen, Boxkämpfe oder Turniere auf. Dieser Hype führte zum Genre der „Sportromane“, die in der Tradition der alten Bildungs- und Entwicklungsromane gesehen werden können, da sie eine Geschichte von positiven Entwicklungen darstellen. Allgemein lässt sich somit sagen, dass Massenphänomene in der Literatur der 20er sowie 30er Jahre Einzug gefunden hat. Bertolt Brecht: „Vom armen BB“ In diesem Gedicht wird die große Distanz sowie coole Attitüde des Schreibens sichtbar. Brecht ist ein zentraler Autor der Weimarer Republik, dessen Stücke immer noch gerne gespielt werden. Er fand zu seiner eigenen Form der Dramatik und löste sich von steifen Regeln wie in der Klassik oder gar Antik. Sein erster großer Erfolg, „Die Dreigroschenoper“, versteht sich als plurimediales Stück, dessen Stoff der Schriftsteller von jemand anderem übernommen hat - bei Brecht lassen sich oft Stoffe Anderer finden, in denen er sich widerfand. Nach dem Exil in Kalifornien während des Kriegs kehrte er wieder nach Europa zurück und wollte zuerst nach Österreich gehen sowie um die Staatsbürgerschaft ansuchen. Als er diese jedoch nicht so einfach wie gedacht bekam, ging er in die DDR, wo er gute Arbeitsbedingungen vorfand und sich zu einem literarischen Aushängeschild dieses Staates entwickelte. © A. Sigmund

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Erich Kästner: „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen?“ Das Gedicht ist bewusst als Parodie auf Goethes berühmtes Gedicht „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?“ (Mignonlied) in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, dem wahrscheinlich berühmtesten Bildungsroman, der regelrecht mit Gedichten gespickt war, geschrieben worden. Es wirkt sehr bedrohlich, wenn man im Hinterkopf die Originalfassung von Goethe hat, doch einige Jahre nach Verfassen dieses Werks (1928) wurde es leider bittere Realität. Kästner, der eher für seine Kinderliteratur wie die Reihe um „Emil und die Detektive“, „Das fliegende Klassenzimmer“, „Pünktchen und Anton“ etc. berühmt wurde, war ebenso begnadeter Lyriker der 20er Jahre und schuf einen bekannten Roman „Fabian - Die Geschichte eines Moralisten“. Ein weiterer Autor, der es in der Zeit der NSL zu großem Erfolg schaffte war Hans Fallada (mit richtigem Namen: Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen), der viele große und umfassende Romane hervorbrachte. Er blieb während des 2. Weltkriegs in Deutschland, obwohl er kein Nazi-Sympathisant war und schrieb zahlreiche Werke in traditioneller Manier (die NSL interessiert sich nicht für expressionistische Ansichten). Seine Kenntnisse im Pressewesen zeigen sich stets in seinen Romanen. Er war schwer alkohol- und drogensüchtig und hatte mehrere Entzüge hinter sich - manche Werke wurden in „Schaffensräuschen“ geschrieben. Sein berühmtestes Werk ist „Kleiner Mann, was nun?“, das sich als exemplarische Beschreibung des Angestelltendaseins versteht. Nach 1945 kam in der DDR sein Werk „Jeder stirbt für sich allein“ heraus, indem es um ein älteres politisches Berliner Ehepaar geht, dessen Sohn im 2. Weltkrieg stirbt. Um mit dem Verlust umzugehen, schreiben sie Postkarten mit Antinaziparolen und verbreiten diese unbekannt. Zur Zeit der Weimarer Republik war im Bereich Theater nur Bertolt Brecht sowie in Österreich Ödon von Horváth erfolgreich. In der Lyrik, die den Expressionismus noch weiterleben ließ, lassen sich Gottfried Benn (später „DER Lyriker der BRD“) sowie Bertolt Brecht (DDR-Lyriker) finden.

1. REPUBLIK (ÖSTERREICH 1918-1938) 5. Einheit (Fr., 8. April 2011) Die Zwischenkriegszeit in Österreich (auch 1. Republik genannt) zeichnete sich wie andere Literaturen durch einen vielseitigen Literaturbetrieb aus. In der deutschsprachigen Literatur des 20. Jhs. kam es zu einer starken Spaltung in die Nationalliteraturen durch das Entstehen von klar ausgeprägten Staaten, die jeweils andere (v.a. institutionelle) Bedingungen aufwiesen. In den meisten Literaturgeschichten wird jedoch ein deutlicher Fokus auf die Literatur der Republik Deutschland gelegt, während Österreich oder gar die Schweiz nur sehr marginal behandelt werden. Historischer Kontext Bezüglich ihres Kontextes bzw. ihrer Probleme glich die 1. Republik der Weimarer Republik, denn beide Staaten lebten, obwohl sie nicht vom Volk, das sich eine starke Autorität zurückwünschte, gewollt waren. Nachdem 1918 das KuK-Reich auseinandergebrochen war, entstanden zahlreiche Nachfolgerstaaten, die sich über eine dominierende Bevölkerungsgruppe bzw. Sprache definierten. Da es im Habsburgerreich jedoch keine klaren ethnischen Grenzen gab, funktionierten diese Nationalstaaten nicht wirklich und liefern bis in die Gegenwart Stoff für zahlreiche Konflikte. In der damals entstandenen Tschechoslowakei z.B. waren Böhmen (großteils deutschsprachig), Mähren (tschechischsprachig), Slowaken und eine große Anzahl an Ungarn (in der Slowakei) in einem Staat vereint - die Probleme zwischen slowakischen Ungarn und dem slowakischen Staat halten immer noch an, ebenso ergeht es den Kärntner Slowenen. Es kristallisierte sich ein weiteres Problem der Nachfolgerstaaten heraus - nämlich die Bezeichnung für das verbliebene deutschsprachige Österreich. Eigentlich sollten alle Deutschsprachigen (auch jene © A. Sigmund

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in Tschechien, Ungarn, Rumänien etc.) der Habsburgermonarchie unter dem neuen Staat „Deutschösterreich“ (≈ heutiges Österreich) zusammengefasst werden und dieses Gebilde an Deutschland angeschlossen werden. Die Pariser Vorortverträge in Saint-Germain verboten jedoch einen Anschluss „Deutschösterreichs“ an Deutschland, denn der große Kriegsverlierer Deutschland könne nach dem Verlieren des Krieges nicht größer sein als vorher! Neben dem anfänglichen Problem der Namensgebung des neuen Staates stellten sich schon bald viele innerpolitische und wirtschaftliche Krisen ein: Eine enorme Inflation fraß die Ersparnisse des Bürgertums auf, das ohnehin mit starker Arbeitslosigkeit konfrontiert war, weil zahlreiche Beamtenposten aufgelöst wurden (Wien war nicht mehr die Verwaltungszentral eines riesigen Reichs und mit 2 Mio. Einwohnern zu groß für das verbleibende Österreich). Neben den Massen an ehemaligen Staatsbediensteten fielen auch andere an massiven Sanierungskonzepten der Regierung zum Opfer. Aus diesem Elend erwuchs schon rasch der Wunsch nach einem anderen System - entweder wieder eine Monarchie oder ein starker Alleinherrscher - weshalb sich früh politische Lager bildeten: Die Arbeiter und Stadtbevölkerung war großteils Anhänger der Sozialdemokraten, während die Christlich-Sozialen die ländliche Bevölkerung und das Kleinbürgertum bedienten. Neben diesen immer noch bestehenden Parteien erfuhren die Deutschnationalen und sonstigen Rechtsnationalen großen Zuspruch. Aus der heftigen Gegnerschaft der Großparteien, die beide paramilitärische Verbände unterhielten (Heimwehr für Christlich-Soziale und Schutzbund für Sozialdemokraten), die sich 1933/34 im Bürgerkrieg erbittert bekämpften. Eine Ankündigung dieses Kampfs war schon der Brand des Justizpalastes am 15. Juli 1927, der durch eine Demonstration von 200.000 Menschen gegen einen Justizskandal ausgelöst wurde. Es wurden in einem Gerichtsverfahren 3 Männer freigesprochen, die bei einem Schusswechsel im burgenländischen Schattendorf auf eine Versammlung von Sozialdemokraten geschossen hatten und somit 2 Opfer gefordert hatten. Insgesamt kamen bei dem Justizpalastbrand sowie der Demonstration 89 Menschen ums Leben. Dieses Ereignis wurde in der Literatur einige Male aufgenommen und findet sich z.B. in Elias Canettis „Blendung“ oder Heimito von Doderers „Dämonen“ wieder. Ab den späten 20er Jahren regierten die Christlich-Sozialen mit Hilfe der Rechtsextremen, die eine Abschaffung der Demokratie wie die deutschen Nationalsozialisten forderten, allein und rückten dadurch selber nach rechts. Im März 1933 kam es parallel zur Machtergreifung der Nazis in Deutschland zur Selbstausschaltung des Parlaments, was schließlich zum Bürgerkrieg führte. Der damalige Bundeskanzler Engelbert Dollfuß regierte dann per Notverordnungen diktatorisch und versuchte, einen autoritären Ständestaat (= Staat besteht aus „Ständen“ - vgl. Mittelalter) einzurichten und die Verfassung sowie das politische System vollkommen umzustellen - ironisch meint man, dass der Staat wie ein Bauernhof regiert werden würde. Dollfuß zeichnete sich durch seine starke Affinität zur katholischen Kirche sowie das bewusste abgrenzen von Nazi-Deutschland ab und versuchte, eine österreichische Identität zu schaffen. In den 20er Jahren kam es noch nicht zu einer Identitätsbildung, da man sowieso vom Anschluss an Deutschland ausging. Während Dollfuß sowie die Christlich-Sozialen gegen Deutschland waren („Österreich ist das bessere, katholischere Deutschland“), sympathisierten die Sozialdemokraten stark mit einem geeinten Deutschland, aber nicht mit den Nationalsozialisten. 1934 kam es schließlich zu einem vorerst dilettantischen Putschversuch gegen den Bundeskanzler und die Putschisten besetzten die RAVAG (Vorgänger des ORF) sowie das Bundeskanzleramt. Während einige Minister noch rechtzeitig fliehen konnten, blieb Dollfuß zurück und wurde dann erschossen. Das Dollfuß-Regime wurde noch nicht wirklich aufgearbeitet in Österreich und noch immer wird der ehemalige Bundeskanzler von einigen als Märtyrer verehrt und von anderen als „Schlächter“ (wegen dem Bürgerkrieg) bezeichnet. Kurt Schuschnigg, der Justizminister unter Dollfuß, folgte ihm nach und herrschte ebenfalls diktatorisch, wobei er versuchen musste, mit den Nazis einen Ausgleich zu finden und sich mit dem italienischen Faschistenführer Benito Mussolini ein Abkommen abschloss. Der Druck der © A. Sigmund

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Nationalsozialisten aus Deutschland wurde immer größer, weshalb Schuschnigg eine Volksabstimmung zur Unabhängigkeit ins Leben rufen wollte, denn das Ergebnis wäre in seinem autoritär regierten Staat eindeutig dafür gewesen. Die Deutschen verbündeten sich mit Mussolini, wodurch die „Garantiemacht“ Italien wegfiel, und marschierten am 11. März 1938 in Österreich ein, noch bevor die geplante Volksabstimmung stattfinden konnte. Was ist „Österreich“? Nach Ende der Monarchie musste man für den verbliebenen deutschsprachigen Kern einen Namen finden - schließlich wurde der Staat Österreich genannt, doch diese Bezeichnung ist durchaus unklar, wie die Geschichte beweisen kann: Alles begann 996 n.Chr. mit „Ostarrichi“, einem kleinen Stück Land an der Donau, das sich im Laufe der Zeit immer mehr ausbreitete und schließlich als Herzogtum Österreich das heutige Ober- sowie Niederösterreich umfasste. Einige Jahrhunderte später wurde der Terminus mit der Habsburgerdynastie gleichgesetzt („Erzherzogtum Österreich“, welches nicht Salzburg, Kärntnen, Steiermark, Tirol etc. umfasste), sodass man auch vom „Haus Österreich“ („Casa Austria“) sprach. Seit der frühen Neuzeit gab es die Tendenz die gesamten Erbländer der Habsburger als Österreich zu bezeichnen (womit das heutige Österreich sowie zahlreiche Gebiete in Mitteleuropa sowie Spanien samt Kolonien gemeint waren). Nach dem 1. Weltkrieg herrschte folglich eine Debatte, ob man den neuen Staat „Österreich“ nennen sollte, wodurch eine gewisse Kontinuität ausgedrückt werden sollte. In den 20er Jahren versuchte man schon eine „österreichische Identität“ zu kreieren, die auf dem typisch österreichischen Geist, der Literatur, Kultur begründet ist und wodurch Österreich zum legitimen Nachfolger des KuK-Reichs wurde, der sich als kulturelle Macht sah. Schon bald sprach man von der „Alpenrepublik“ aufgrund des starken Einflusses der ChristlichSozialen, die sich auf die Landbevölkerung stützten und somit die ländliche Identität Österreichs (also der Westen, die Alpen sowie das Land) betonten. Wien mit seinen 2 Mio. Einwohnern („multikultureller Wasserkopf“) war laut ihrer Meinung nicht typisch österreichisch, daher setzte man Gegenbewegungen wie die Salzburger Festspiele im katholischen Salzburg an (anfangs waren die Salzburger Festspiele noch stark dem Katholizismus verwachsen), um die Spaltung in Stadt sowie Land zu verdeutlichen. Im Rahmen des Kulturgeschehens wurde Österreichs weiterhin von einer Kontinuität durch Autoren aus dem Kaiserreich getragen, die auch in der Republik weiterschrieben. Der Publizist und Kritiker Karl Kraus gab weiterhin seine „Fackel“ heraus und war für viele seiner Anhänger eine „moralische Instanz“. Früher war er bekennender Sozialdemokrat, doch er wandelte sich immer mehr und wurde zum Befürworter des Ständestaats. Berühmt wurde er für seine Aufforderung an den damaligen Polizeipräsidenten, nach dem Justizpalastbrand zurückzutreten. In seiner Zeitschrift äußerte er sich immer öfter gegen den Nationalsozialismus und meinte einmal: „Zu Hitler fällt mir nichts ein!“. Posthum wurde sein Werk „Die 3. Walpurgisnacht“ veröffentlicht, in dem er direkte Zitate der Nazis mit Texten aus der klassischen deutschen Literatur verknüpfte (der Titel ist eine Anspielung auf Goethes „Faust“), darunter „…das Wort entschlief, als jene Welt erwachte…“ (das Wort hatte in Kraus Verständnis als Sprachmystiker eine besondere Bedeutung). Im Rahmen der Literatur kam es zu einer Spaltung in die „Heimatliteratur“ (ab Peter Rosegger), die dem katholisch-ländlichen Selbstbild der 1. Republik entsprach und daher von den Christlich-Sozialen gefördert wurde, sowie die „Großstadtliteratur“. Die „Heimatliteratur“ ist aber nicht mit der „Heimatkunst“ als Gegenbewegung zum „Jungen Wien“ zu verwechseln, denn diese versteht sich als antikatholische, aufgeklärte Strömung ab 1900. Durch den relativ kleinen Markt musste die Regierung immer wieder die Literatur fördern durch Preise, die Geld aber auch öffentliche Anerkennung brachten. Es wurden hauptsächlich Autoren gefördert, die in das Konzept der 1. Republik passten und heute weitestgehend unbekannt sind. Die © A. Sigmund

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heute noch gelesenen Schriftsteller wurden fast nicht gefördert, weil sie ohnehin schon bekannt und viel gelesen wurden. Theater und Dramatik in der 1. Republik In Wien herrschte eine starke Theaterszene während des Kaiserreichs, die sich v.a. im heutigen Burgtheater sowie der jetzigen Staatsoper manifestierte. Doch nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie sowie den wirtschaftlichen Problemen hatte auch das Theater darunter zu leiden, denn in Wien wohnten immer weniger Einwohner und das Bürgertum als stärkste Einnahmequelle verarmte großteils. In der Zwischenkriegszeit wurden „Massenfestspiele“ von den Großparteien ins Leben gerufen, die die Grenzen zwischen Publikum und Darsteller verschwimmen ließen, sodass man „sich selbst feierte“. Wien war damals auch noch eine der Hauptstädte des Films, denn zahlreiche spätere erfolgreiche Hollywoodregisseure begannen ihre Karriere in Wien wie z.B. Michael Curtiz (Michael Kertész), der später den Filmklassiker „Casablanca“ drehte. Franz Werfel war ein Prager Autor, der auch zum „Prager Kreis“ um Kafka gezählt wird, und anfangs sogar von Karl Kraus geschätzt wurde, bevor die beiden aufgrund persönlicher Gründe kein Wort mehr wechselten. Er begann sehr jung als expressionistischer Lyriker und war das Paradebeispiel für pathetische, menschheitsumarmende Lyrik („Oh-Mensch-Lyrik“). In den 20/30er Jahren ist er konventioneller geworden und schrieb zahlreiche gut konstruierte Dramen und Erzählungen. Im Gegensatz zu anderen Kollegen wurde er schon in den 20er Jahren viel gespielt/verfilmt, was ihm viel Popularität einbrachte. Eine seiner berühmtesten Erzählungen ist „Juarez und Maximilian“ (1925), die von der österreichischen Kolonialherrschaft durch Erzherzog Maximilian in Mexiko handelt, der den Präsidenten Benito Juarez ablöste. Maximilian wurde Herrscher, weil Napoleon III Juarez als Präsident absetzte und den österreichischen Adeligen einsetzte. Zwei Jahre später gewann Juarez die Herrschaft wieder zurück und ließ den Habsburger hinrichten. In den 30er Jahren wurde dieser Stoff in Hollywood verfilmt. Franz Theodor Csokor musste während der NS-Herrschaft ins Exil gehen und wurde nachher sehr geehrt. Eines seiner wichtigsten Werke ist „Dritter November 1918“ (1937 uraufgeführt), das die Idee von Österreich als Nachfolgerstaat des Habsburgerreichs sowie die zunehmende Nostalgie nach einer Monarchie wiederspiegelt („Habsburgermythos“ laut Claudio Magris, berühmter italienischer Schriftsteller und Germanist), obwohl bis zum 1. Weltkrieg eine Dekadenzstimmung zu spüren war („das KuK-Reich ist verrottet“). Das Buch handelt von Soldaten, die gegen Ende des 1. Weltkriegs in den Kärntner Bergen in einem Krankenlager liegen und dort von der Außenwelt abgeschnitten sind. Folglich erfahren sie nicht einmal, dass der Krieg schon vorbei ist und das Kaiserreich nicht mehr existiert. Die Soldaten sind allesamt „Österreicher“, aber verkörpern als pars-pro-toto ihre eigentlich Herkunftsländer und kehren schließlich in ihre jeweiligen „neuen“ Heimatländer zurück. Oberst von Radosin, der sich in keinem der neuen Länder verwurzelt sieht, erschießt sich und zu seinem Begräbnis erscheinen die Soldaten wieder. Jeder wirft ein Schäufelchen Erde auf seinen Sarg und spricht dabei von „seiner“ Erde („…polnische/italienische etc. Erde für dich…“), nur der jüdische Regimentsarzt spricht von österreichischer Erde. Sie verklären alle den Krieg und kehren wieder heim, um gegeneinander Krieg zu führen. Jura Soyfer war ebenso ein wichtiger sozialdemokratischer Autor, der aus der Kabarettszene kam (ab den 30er boomte das Kabarett) und sich den verbotenen Kommunisten anschloss. 1937 wurde er deswegen verhaftet und als er freikam, wollte er vor den Nazis fliehen, doch er wurde deportiert und starb im KZ Dachau. Sein Werk zeichnet sich durch neue dramatische Formen aus, die er aus der Kleinkunst/dem Kabarett übernahm, während die meisten anderen Autoren konventionelle Illusionsstücke schrieben. © A. Sigmund

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Ödon von Horváth war ein typisches Kind der KuK-Monarchie, denn er war Ungar, aber sprach Deutsch als Muttersprache. Geboren wurde er in Fiume (heute: Rijeka), in Belgrad, München sowie Preßburg (heute: Bratislava) wuchs er auf, die Matura legte er in Wien ab und in München studierte er. Seine Karriere begann während der Weimarer Republik in Berlin, wo er seine ersten Stücke uraufführte, doch bald musste er wegen den Nazis nach Wien (zur Zeit des Ständestaats) fliehen und von dort aus nach dem Anschluss nach Paris. Der Schrifsteller verstarb auf tragische Weise, denn aufgrund eines Gewitters erschlug ihn in Paris ein Ast auf den Champs-Élysées. Seit den 60er Jahren ist er in Österreich wieder relativ populär und in Wien sind stets Stücke von ihm zu sehen. Eines der beiden bekanntesten Werke ist „Geschichten aus dem Wiener Wald“, das von der jungen Marianne handelt, die an der kleinbürgerlichen Männerwelt zerbricht. Dieses Stück wurde 1931 in Berlin uraufgeführt und spiegelt die damals gängigen Wien-Klischees (blaue Donau etc.) wieder. Der Name von Mariannes Vater - der „Zauberkönig“ genannt - ist eine Anspielung auf die Stücke von Raimund (allgemein muss man sagen, dass Horváth einer der Erneuerer des Volkstheaters war). Selbst in den Regieanweisungen findet man Strauß‘ Walzer „Geschichten aus dem Wiener Wald“, der an manchen Stellen des Stücks zu hören sein sollte. Typisch für Horváth ist in dieses Stück der „Bildungsjargon“ der Figuren - laut dem Autor können sich die Figuren nicht ausdrücken und scheitern an der Sprache, weshalb sie versuchen, sich einer eigenen Sprache (Jargon) zu bedienen, die aus aufgeschnappten Fetzen des öffentlichen Diskurses, aus der Zeitung etc. besteht. Dieser Jargon soll das bewältigen, wozu die Sprache und das außersprachliche Handeln der Personen nicht in der Lage sind. Ebenso ist der Ausbruch aus der bürgerlichen Welt ein typisches Sujet in seinen Texten. Ein weiteres wichtiges Werk von Ödon von Horváth ist „Jugend ohne Gott“, ein Erzählwerk, das einen verstörten Lehrer zeigt, der das stark indoktrinierte nationalsozialistische Denken seiner Schüler nicht verstehen kann. Lyrik in der 1. Republik: In der Zwischenkriegszeit gab es eine ausgeprägte Lyrik, die sich vor allem auf die Natur, das Natürliche sowie das Unvergängliche der Natur bezog. Heutzutage sind die damals bekannten lyrischen Werke eher uninteressant. Josef Weinheber, ein Form- und Sprachkünstler, ist heute eine sehr umstrittene Person, die eine strenge Auffassung der Literatur und Lyrik vertrat und sich an Kraus‘ Sprachmystik orientierte. Er sah sich zeitlebens als verkanntes lyrisches Genie und verstand nicht, warum man andere, aber nicht ihn feierte. Aus Ärger darüber wechselte er zu den Nationalsozialisten, wo er schon vor dem Anschluss gefeiert wurde. Nach 1938 war er im gesamten Dritten Reich hochangesehen, aber brachte sich 1945, bevor die russischen Truppen seine Villa erreicht hatten, um. In der österreichischen Kulturszene herrschte eine hitzige Debatte über ihn, da er kulturell Großes vollbracht hatte, aber politisch gesehen Schlechtes getan hatte (= Unterstützung der Nazis). Theodor Kramer, der in den letzten 20 Jahren wiederentdeckt wurde, war ein sozialdemokratienaher Lyriker, der ins englische Exil gehen musste während der NS-Herrschaft, wo er in Vergessenheit geriet. In seinen Werken verpflichtet er sich der Tradition des François Villon und schreibt v.a. aus der Perspektive der Vernachlässigten (Vagabunden, Landarbeiter, Bauern etc.) leicht rezipierbare Gedichte. Epik in der 1. Republik: Wie vorher erwähnt gab es in der Zwischenkriegszeit eine starke Bewegung der Heimatliteratur, die v.a. von Karl-Heinrich Waggerl getragen wurde, der selbst nach 1945 noch wichtig war. Ein sehr interessanter, wenn auch weniger bekannter Autor ist Alexander Lernet-Holenia, der behauptete ein illegitimer Nachfolger der Habsburger zu sein und anfangs Lyriker war, bevor er sich den erzählenden Texten widmete. Er war ein „konservativer Anarchist“ und meinte nach 1945: „Wir müssen nur dort anschließen, wo uns die Träume eines Verrückten unterbrochen haben“ - sein © A. Sigmund

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starkes Interesse an der Kontinuität Österreichs ist somit nicht zu übersehen. Seine Werke zeichnen sich durch viel Spannung, Abenteuerlichkeit, Übersinnliches sowie Fantasie aus, weshalb sie in den letzten Jahrzehnten wieder aufgelegt und stärker gelesen wurden. Ein Autor ähnlichen Stils war der Altösterreicher und gebürtiger Prager Leo Perutz, der oft gemeinsam mit Lernet-Holenia genannt wird. Franz Werfel ist auch im Bereich der Erzählliteratur wichtig und verfasste in den 20/30er Jahren zahlreiche erfolgreiche Texte (es wurde sogar diskutiert, ob er den Literaturnobelpreis bekommen sollte). Er war mit Alma Mahler-Werfel, der ehemaligen Frau des Operettenautors Gustav Mahler und Liaison von u.a. Kokoschka und Gropius, verheiratet, die ihn, obwohl sie eine wüste Antisemitin war, dennoch liebte. Er ging nach Südfrankreich ins Exil, floh dann abenteuerlich in die USA und war selbst dort sehr erfolgreich, weil er in Europa bereits berühmt war und verfilmt wurde. Während Werfel kein Problem mit der „Krise des Erzählens“ hatte, war Musil auf seinen Schriftstellerkollegen neidisch, weil er selbst nicht so damit umgehen konnte. Einer seiner bekanntesten Romane ist „Barbara oder die Frömmigkeit“, ein Bildungsroman, der sich mit der Verbindung zwischen Judentum und Christentum beschäftigt (Werfel hatte eine große Sympathie für den Katholizismus). Ein weiterer wichtiger Roman von ihm, der von der armenischen Gemeinde zum „Nationalepos“ erhoben wurde, ist „Die 40 Tage des Musa Dagh“, der den türkischen Genozid an den Armeniern thematisiert. Joseph Roth wurde 1894 in Galizien als Sohn eines streng chassidischen Juden geboren und pendelte zeitlebens zwischen Judentum und Katholizismus hin und her. Er starb 1939 in Paris durch seine Alkoholsucht und bei seinem Begräbnis waren Juden, ein katholischer Priester, Sozialdemokraten sowie Otto von Habsburg (Roth entwickelt am Ende seines Lebens monarchistische Ansätze) anwesend. Er schrieb immer wieder eine Biographie um und baute immer Lügen ein. Roth war ein sehr produktiver Autor, der auch als Journalist arbeitete und interessante Reiseberichte veröffentlichte. In Analogie zum frühen Tod seines Vaters findet sich oft in seinen Werken der Verlust seines Vaterlandes, der Habsburgermonarchie, wieder. Eines seiner bekanntesten Werke ist „Hiob - Roman des einfachen Mannes“ (1930), der den HiobStoff samt der Frage, warum Gott Leid zulässt (Problem der Theodizee), behandelt - eigentlich handelt es sich bei diesem Buch um ein jüdisches Märchen, in dem ein osteuropäischer Jude von Gott nur Schlechtes empfängt, doch als er in die USA auswandert, wandelt sich sein Los wieder zum Guten. Ein weiteres berühmtes Werk ist „Radetzkymarsch“ (1932), das von vielen als nostalgischer Rückblick auf die Habsburgermonarchie gelesen wird, aber eigentlich einen kritischen Blick auf dieses Vielstaatenkonstrukt wirft (auf den letzten Seiten des Buches wird dies besonders deutlich!). Strukturell handelt es sich hierbei um einen Familienroman (die Geschichte der Familie Trotta über 3 Generationen) sowie einen historischen Roman (am Ende werden z.B. die Kriegsverbrechen geschildert). Parallel zur Geschichte der Familie Trotta wird die Geschichte der Habsburger eigentlich die Franz-Josephs - erzählt, ohne dass Frauen vorkommen. Das Ende des Werkes markiert der Tod von Kaiser Franz-Jospeh sowie von Karl Josef von Trotta, dem Nachfahren des Retters des Kaisers in der Schlacht von Solferino. Der Roman drückt unmissverständlich aus, dass der gesamte Staat auf Fiktion/Mythos aufgebaut ist, die wichtiger als die Wahrheit ist. Robert Musils Werk „Der Mann ohne Eigenschaften“ gehört ebenso in diese literarische Epoche und reagiert wie bereits erwähnt problemlos auf die Erzählkrise, laut der simple Linearität nicht mehr gehen würde, und zeichnet ein satirisches Porträt der KuK-Monarchie („… Kakanien ist ein Land, das sich irgendwie nur selbst mitmacht…“).

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NATIONALSOZIALISMUS & EXILLITERATUR 6. Einheit (Fr., 15. April 2011) Die Literatur lässt sich nicht in Schubladen einordnen, daher sind literarische Epochen nur als Orientierungswissen zu betrachten. Die Schwierigkeit einer Klassifizierung innerhalb der Literaturgeschichte spiegelt sich vor allem in der Exilliteratur wieder, die sich äußerst schlecht begrifflich fassen lässt. Historischer Hintergrund: Während des Dritten Reichs bzw. der NS-Herrschaft werden die bisherigen literarischen Tendenzen weitergeführt - allen voran die Neue Sachlichkeit, die von den Nazis ab den 20ern gutgeheißen wurde. Die Nationalsozialisten hatten anfangs nur ein geringes Interesse an der Literatur, da für sie die beiden neuen Medien Radio und Film wichtiger waren. Ebenso fanden sich zu Beginn zahlreiche Sympathisanten der Avantgarden unter den heterogenen Nazis, doch schon bald konsolidierte sich die NSDAP und andere Strömungen waren interessanter. 1933 ergriffen die Nazis die Macht, nachdem sie als Sieger aus einer demokratischen Wahl hervorgegangen sind ihre innerpolitischen Gegner ausgeschalten hatten. Nach dem Reichtagsbrand, der von politischen Gegnern Hitlers verübt wurde, häuften sich Gerüchte, dass sie selber diesen Anschlag durchgeführt hatten. Daraufhin wurden Ausnahmegesetze beschlossen, die Hitler die absolute Herrschaft garantierten, die sich selbst durch interne Putschversuche nicht sabotieren ließ. Viele Menschen sind nicht gleich ausgewandert bei der Machtergreifung der Nazis, sondern eher sehr langsam und in Etappen: 1933 gingen erst die linken Autoren wie Heinrich und Klaus Mann ins Exil, später folgten allmählich Bürgerliche. Anfänglich wurden die Juden „nur“ schikaniert, bevor dann eine immer schärfere rechtliche Schlechterstellung (Berufsverbote, Verbot des Universitäts/Schulbesuchs für die jüdische Bevölkerung) und erzwungene Ghettoisierung zur sozialen Segregation bis hin zum Massenmord. Doch zahlreichen Bürgern jüdischer Abstammung war nicht klar, dass es so weit kommen würde und sie dachten, der „übliche“ Antisemitismus in Europa würde sich nicht dermaßen drastisch verschärfen. Die ersten Ziele der Exilanten waren Prag (ein Literaturmarkt war wegen den vielen deutschsprachigen Tschechen gegeben!) oder Wien, doch ab 1938 änderte sich selbst das. Die nächsten Ziele waren dann Moskau bzw. die UdSSR (den Kommunisten erschien die Sowjetunion anfangs als Traumexil) sowie Frankreich. Der Grund für das Aufbegehren der Nazis war eine Vergeltung für die erlittene Demütigung Deutschlands nach den Friedensverträgen, denn sie wollten ihre Nation wieder stärken. Die außenpolitischen Erfolge wie die Besetzung des Saarlandes oder der Tschechoslowakei (zahlreiche Sudetendeutsche in Tschechien sollten zum gemeinten Deutschen Reich) die konnten nur errungen werden, weil Europa (v.a. England und Frankreich) kriegsmüde war und an Kriegen kein Interesse hatte. Der Anschluss Österreichs 1938 ist insofern interessant, weil man früher die Vereinigung mit Deutschland suchte (Österreich war „der Staat, den keiner wollte“), aber dann unter den „antidemokratischen“ Christlich-Sozialen (Ständestaat!) versuchte, sich eine eigene österreichische Identität zu schaffen. Aufgrund des immer größer werdenden Drucks auf Österreich, trat Bundeskanzler Schuschnigg zurück und Seyss-Inquart, ein Minister der Nazis, wurde neuer Kanzler. Nach dem Anschluss wurde noch eine Volksabstimmung durchgeführt, bei der fast 100% für den Anschluss an Deutschland waren. Der 2. Weltkrieg wurde schließlich durch den Überfall deutscher Truppen auf Danzig (Polen) provoziert, weswegen die Allierten des 1. Weltkriegs den Nationalsozialisten ein Ultimatum setzten, denn nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei wollten sie nicht noch eine Ausbreitung Hitlers zulassen. © A. Sigmund

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Die NS nahmen das Angebot nicht an und der Krieg brach aus, doch die Allierten waren nicht auf einen schnellen Krieg vorbereitet und Hitler konnte sich im Westen (v.a. durch die Blitzkriege) rasch ausbreiten. Zu seinem Vorteil hatte er anfangs nur eine Front im Westen, an der es zu kämpfen galt, denn es wurde mit Stalins UdSSR ein Nichtangriffspakt geschlossen - dies ist erstaunlich angesichts der Tatsache, dass viele Kommunisten Feinde der Nazis waren. Viele kommunistisch eingestellte Deutsche im Exil zeigten sich schockiert über diesen Pakt, da sie in der Sowjetunion als Beginn eines neuen Systems seit der Oktoberrevolution ein Heilsversprechen sahen. Während sich die Kommunisten der UdSSR anfänglich sehr international zeigten, verloren sie spätestens ab dem Hitler-Stalin-Pakt viele Sympathisanten. Als einige Linke in die UdSSR reisten, begannen sie von ihrer Ideologie abzugehen (Renegaten = Abtrünnige). Wirklich viele Kommunisten kehrten der Sowjetunion ab dem Spanischen Bürgerkrieg den Rücken zu, denn während sie die gewählte linke Regierung unterstützten, kämpften die Nazis als eigentliche Verbündete Russlands auf Seiten der faschistischen Aufständigen. Zahlreiche kommunistische Freiwillige aus Deutschland, Österreich sowie den USA (z.B. Ernst Hemingway [For whom the bell tolls verarbeitet die Thematik], George Orwell [Animal Farm verarbeitet die Situation in der UdSSR und 1984 das NS-Regime, Osteuropa sowie die Sowjets]) kämpften mit den Demokraten, doch General Franco, der von Hitler und Mussolini unterstützt wurde, gewann. Viele Deutsche gingen nach Frankreich oder England ins Exil, wo sie von den Regierungen als Feinde in Lager gesteckt wurden. Nach dem Blitzkrieg in Frankreich und England marschierten die Nationalsozialisten in diesen Ländern ein und fanden die Inhaftierten wie auf dem Präsentierteller vor. Jenen Flüchtlingen, die nach Südfrankreich gegangen waren, erging es besser, denn das VichyRegime kollaborierte mit Nazideutschland, obwohl es offiziell nicht dazugehörte. Als Hitler jedoch die UdSSR überfiel, begann alles trotz Erfolgen zu Beginn aus dem Ruder zu laufen und der Weltkrieg ging bald zu Ende. Literaturbetrieb während der NS-Zeit Schon die Zeitgenossen fragten sich, wie es überhaupt so weit kommen konnte und glaubten Wurzeln für diese schreckliche Entwicklung im 19. Jh. zu finden, in dem sich Ideologien wie der Biologismus oder Rassismus sowie später literarische Strömungen wie die Heimatkunst, die alles Städtische und Moderne ablehnten, ausbreiteten. Das größte Problem dieser Epoche aus literarischer Sicht ist die Heterogenität der Werke aus dieser Zeit, daher lässt sich nur sehr eine Definition der Exilliteratur treffen. Im deutschen Sprachraum flohen viele wichtige Autoren ins Exil wie z.B. Thomas Mann, der davon spricht, dass alles aus der Nazizeit zu verachten sei. Einige Schriftsteller arrangierten sich mit dem System wie der Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann, der als Repräsentant für ein kulturelles Deutschland gesehen wurde. Anfangs (vor der Konsolidierung der Partei) herrschte bei den Nationalsozialisten noch Interesse, Autoren als Aushängeschilder im Land zu halten. Dennoch wurden die Bücherverbrennungen in Berlin durchgeführt, die als Zeichen galten, dass etwas Neues/eine Revolution folgen sollte. Hauptsächlich wurden Werke von politischen Feinden (v.a. Linke wie Erich Kästner etc.!) sowie jüdischen Schriftstellern verbrannt - mit der bürgerlichen Literatur wie z.B. von Thomas Mann hatten sie eher keine Probleme. Viele große Autoren (z.B. Horváth, Werfel) traten zu Beginn nicht gegen die Nazis auf, da sie Angst um ihre Bücherverkäufer hatten und den muttersprachlichen Markt nicht verlieren wollten. Als typische NS-Literatur kann man die „Blut-und-Boden-Literatur“ (Blu-Bo-Literatur) bezeichnen, die von der NSDAP gefördert wurde, weil sie den ideologischen Vorstellungen der Heimat sowie dem Ländlichen entsprach, wodurch sie stark an die Heimatkunst angelegt war. Die deutsche Klassik wie Goethe und Schiller wurde rasch in das „deutsche Erbe“ integriert und propagiert. Besonders wichtig waren für die Nazis Kleist und Goethe, während Lessing sich trotz seiner jüdischen Themen (Nathan der Weise etc.) durch seine Aversion gegen Frankreich bei ihnen © A. Sigmund

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beliebt machte. Klassiker von Heinrich Heine wurden natürlich nicht als Erbe gesehen, weil er jüdischer Abstammung war. Autoren, die nicht politisch, rassisch oder thematisch gegen die NS-Ansichten verstießen, hatten keine Probleme zu befürchten, daher begaben sich viele in „innere Emigration“ (physisch blieben sie in Deutschland, aber entwickelten in ihren Werken neue Gedanken/Richtungen bzw. eine Widerstandsattitüde = camouflierter/versteckter Widerstand). Vereinzelt gab es auch illegale Untergrundliteratur, doch der innere Widerstand gegen die Nazis war allgemein sehr gering aufgrund des Terrorregimes, selbst dann, als das Ende des Krieges absehbar war, was die Exilliteraten sehr bestürzte. Die meisten linken Autoren im Exil schrieben anfangs sehr politisch, da sie dachten, der Spuk sei bald vorüber und sie auf ihre daheimgebliebene Mitbürger einwirken wollten, doch dann waren sie bald schon unpolitisch-literarisch in ihren Werken, die meist sehr formstreng und teilweise avantgardistisch waren. Im Exil herrschte dann eine hitzig geführte Debatte über den Expressionismus („Expressionismusdebatte“), dem man zunehmend neben den Avantgarden die Schuld für das Aufsteigen der Nationalsozialisten gab und daher ablehnte. Die Linken meinten, dass der Realismus das einzig Wahre sei und das Dogma des sozialen Realismus wurde geboren. Der deutschsprachige ungarische Kritiker Georg Lukács postulierte, der soziale Realismus sollte sich an den großen Realisten orientieren bzgl. seiner Form, womit er einen rückwärtigen Standpunkt vertrat. In seinen Augen hatten die äußerst konservativen Autoren Balzac, Dickens sowie Tolstoi zwar keine links-realistische Einstellung, aber sie spiegelten die objektive Realität sozial Vorliegenden wieder. Der Naturalismus, obwohl er ein großes Problembewusstsein hatte, wurde von ihm abgelehnt, weil er nur zufällige Ausschnitte der Wirklichkeit abbildete, was nicht typisch für die Strukturen gewesen sei. Diese Expressionismusdebatte wurde in den kommunistischen Ländern nach 1945 weitergeführt, wo der soziale Realismus die federführende literarische Richtung wurde. Die Exilliteratur an sich ist sehr divergent, daher ist ihre Beschreibung auch sehr schwammig. Meistens bezeichnet man damit die Literatur von Autoren, die vor den Nazis ins fremdländische Exil geflohen sind. Diese Schriftsteller hatten es natürlich sehr schwer, weil sie mit einer anderen Sprache und Gesellschaft konfrontiert waren (v.a. die Autoren, die auf ihren Heimatmarkt angewiesen waren, hatten sehr zu kämpfen im Exil). Das früheste historische Beispiel für einen Exilliteraten ist Ovid, der von Kaiser Augustus aufgrund von Verfehlungen ans Schwarze Meer verbannt wurde. Während der Metternich-Zeit (1820-1840er Jahre) flohen ebenso viele Bürger vor dem Polizeistaat und seiner Kontrolle, wobei sehr viele wie z.B. Heine nach Paris gingen. Doch der stärkste Massenexodus setzte erst 1933 ein, als viele sich vor dem NS-Regime retten konnten. Die Exilliteraten der NS-Zeit wiesen nur eine Gemeinsamkeit auf - nämlich im Ausland isoliert von der Heimat zu leben, doch es herrschte kein politischer oder ästhetischer Konsens vor. Ebenso waren die neuen Lebensumstände der Ausgewanderten sehr unterschiedlich - während manche ein gutes Leben (Mann, Werfel etc.) führten, hatten manche zahlreiche Probleme, sich über Wasser zu halten. Manche Schriftsteller mussten noch in jungem Alter ausreisen und wurden erst im Ausland erwachsen und begannen dort ihre Karriere. Der Medientheoretiker Walter Benjamin versuchte ebenso auszuwandern, aber er beging Selbstmord, weil er glaubte, dass ihn die Nazis erwischen würden. Anfangs herrschte unter den Exilanten eine Diskussion, wie stark man gegen Hitler Widerstand leisten sollte. Doch viele Autoren hielten sich aus dieser Debatte heraus, da sie sich nicht als Politiker sahen. Unklar ist jedoch, ob man 1945 als Ende für die Exilliteratur ansetzen kann, da selbst nachher viele Literaten in ihren neuen Heimaten blieben, wo sie sich eine neue Existenz aufgebaut hatten, und nur wenige sofort in die stark zerstörte europäische Heimat zurückkehrten. Viele Exilanten begannen © A. Sigmund

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dann auch, in den jeweiligen Sprachen ihres Exillandes (meist Englisch) zu schreiben, um sich so eine neue Basis zu schaffen. Hierbei stellt sich die Frage, inwieweit die Werke von deutschen Autoren auf Englisch zur Germanistik gehören. Doch selbst nach Ende des 2. Weltkrieges gab es noch starke Exilantenströme wie z.B. in Ungarn, der Tschechoslowakei, Polen, der UdSSR oder DDR, wobei viele auch ausgewiesen wurden (z.B. Wolf Biermann). Während der Westen wenig Interesse daran zeigte, die Autoren zurückzuholen, engagierte sich die DDR, um ihre Literaturgrößen wieder heimzuholen. Nach dem Krieg wurde schon früh begonnen, über die Gründe der Exilliteratur sowie die innere Emigration zu debattieren. Die in Deutschland gebliebenen Schriftsteller sowie die Exilanten machten sich gegenseitig Vorwürfe, dass sie sich entweder an das System angebiedert hätten bzw. in die sichere Ferne (z.B. Thomas Mann, dem es im kalifornischen Exil sehr gut erging) geflüchtet seien. Im Rahmen dieser Debatte fragte man sich besonders, welche Texte von welchen Autoren zur inneren Emigration zählen und wer sich bereits während der NS-Zeit versteckt widersetzt hat. Als österreichisches Beispiel könnte Alexander Lernet-Holenia gelten, der in Österreich geblieben ist und in dessen Werken man verborgene Spitzen gegen das Regime entdecken kann. Viele österreichische Schriftsteller biederten sich an die Nazis an, doch sobald der Krieg vorbei war, schwenkten sie um und begaben sich vor der neuen Regierung in eine Opferrolle. Arthur Koestler, ein schönes Beispiel für die alte Multinationalität (deutschsprachiger Ungar aus Budapest, Anhänger der Kommunisten, obwohl jüdischer Bürgerlicher), war im spanischen Bürgerkrieg als Journalist und wurde nachher trotz Gefangennahme nicht hingerichtet. Er ist einer der Mitbegründer des Forum Alpbach. In seinem Buch „Sonnenfinsternis“, welches auf Englisch unter „Darkness at Noon“ weitaus bekannter ist, bezieht sich auf die Schauprozesse in der Sowjetunion, die den Revolutionären teilweise Absurdes vorwarfen. Die Geschichte handelt von einem inhaftierten Revolutionär, der in Gefängnis sitzt und der falsche Vorwürfe verifizieren muss, um seinem Heimatland wenigstens als Märtyrer einen Dienst erweisen zu können. Ebenso wichtig für die damalige Zeit sind die Werke von Manès Sperber, der als jüdischer, sehr gebildeter Bürgerlicher in den 30ern allmählich gegen die Kommunisten ist. In seiner großen Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ Die Handlung der Trilogie spielt in der Zeit zwischen 1931 und 1945 und berichtet von den ideologischen Verblendungen der Kommunisten und der KP. Sie versucht Menschlichkeit und Wahrheit an die Stelle von Gewalt, Unmündigkeit und Diktatur zu setzen. Werke, die in die Exilliteratur fallen, wären „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil, „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth sowie „Mutter Courage“ von Bertolt Brecht. Brecht war zwar stets kommunistisch gesinnt, aber ging dann in die USA während des Kriegs. Nach Ende des 2. Weltkriegs ging er in die DDR, wo er als Aushängeschild des kulturellen Deutschlands galt. Er thematisiert in „Mutter Courage“ den Krieg, den er selbst kommen sieht und greift dabei auf einen barocken Stoff von Grimmelshausen zurück - „Die Landstörzerin Courasche“, die im 30-Jährigen Krieg spielt. Die Tragik der Mutter Courage ist, dass sie im Krieg Geschäfte machen will, um sich und ihre Kinder durchzubringen, daher braucht sie den Krieg (Frieden wäre ganz schlecht für sie), aber dabei bringt der Krieg der Reihe nach ihre Kinder um. Sie sieht jedoch nie ein, dass der Krieg sie erst recht um alles, was sie hatte, gebracht hat.

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LITERATUR AB 1945 - SCHWEIZ & ÖSTERREICH 7. Einheit (Fr., 06. Mai 2011) Die Zeit des Nationalsozialismus stellte eine gewichtige Zäsur für die deutschsprachige Literatur dar selbst für die Schweiz, die weniger betroffen war als Österreich oder gar Deutschland. LITERATUR AB 1945 IN DER SCHWEIZ Die Schweiz als Nationalstaat ist ein Produkt des 19. Jhdt. und wurde damals schon durch zwei berühmte Schriftsteller des Realismus - Gottfried Keller sowie Conrad Ferdinand Meyerrepräsentiert. In den 1950er Jahren bildete sich wieder ein literarisches Doppelpack (Dürrenmatt und Frisch) aus. Die Eidgenossenschaft hat trotz ihrer isolierten Rolle alle literarischen Entwicklungen mitgenommen (zur Zeit des „Jungen Wiens“ gab es eine „Junge Schweiz“ etc.) und immer wieder sehr bekannte Literaten hervorgebracht. Ein Autor, der erst nach seinem Tod 1956 „entdeckt“ wurde, ist Robert Walser, einer DER Schweizer Schriftsteller - ihm wurde ein ähnliches Schicksal wie Kafka zu teil, der ebenfalls erst posthum seinen Siegeszug antrat. Sein Hauptwerk „Der Gehülfe“ entstand knapp nach der Jahrhundertwende. Durch die frühe Neutralität hatte die Schweiz immer schon einen Sonderstatus inne, der sie v.a. im 1. Weltkrieg sowie 2. Weltkrieg zu einem Zufluchtsort für Pazifisten und Deserteure machte. Viele exilierte Deutsche und Österreicher versuchen von der Schweiz aus, den Krieg zu beenden - darunter viele Schriftsteller (z.B.: Robert Musil), die sich vor allem in Zürich sammelten. Die offizielle Schweiz galt bzw. gilt als sehr konservativ und versuchte „geistige Vaterlandsverteidigung“ zu betreiben im Rahmen der Literatur (Ähnliches versuchte man in Österreich nach dem 1. Weltkrieg!). In den 1930er Jahren versuchte die Schweiz, sich auf keine Konfrontationen mit den Nazis einzulassen, obwohl zahlreiche Einwohner durchaus mit nationalsozialistischem Gedankengut sympathisierten. Diese Phase der Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler-Deutschland wurde bis dato noch nicht wirklich aufgearbeitet. Ein Autor, der besonders darunter litt, war Max Frisch, der oftmals Kritik an dieser Phase, aber auch der Schweizer Mentalität im Allgemeinen übte, wodurch er als Nestbeschmutzer - ähnlich wie Thomas Bernhard in Österreich - bezeichnet wurde. In den 1950er Jahren wurde nun zwei Schweizer Schriftsteller weltberühmt: Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch, die als DIE Schweizer Aushängeschilder der Literatur des 20. Jhdts. gelten und jahrelang als Literaturnobelpreiskandidaten gehandelt wurden. Friedrich Dürrenmatt war v.a. Dramatiker, der für seine grotesken, schwarzen Komödien berühmt wurde, die stets im Zentrum ethisch-moralische Fragen hatten (er war stark im Protestantismus verhaftet!). Seine zwei berühmtesten dramatischen Werke sind „Der Besuch der alten Dame“ sowie „Die Physiker“, in den beiden die Thematik von Schuld & Sühne sowie Ethik & Moral behandelt wird. Als Dramatiker wurde er sehr wichtig und oft gespielt, doch er war auch Erzähler und schrieb hauptsächlich Kriminalromane, die damals noch als anrüchiges Genre galten. Das bekannteste Erzählstück Dürrenmatts ist „Der Richter und sein Henker“. Max Frisch war von Beruf Architekt und arbeitete nur kurz in seinem eigentlichen Beruf, bevor er mit dem Schreiben von Theaterstücken begann, die großteils in die Schule von Bert Brecht (bzgl. Dramatik sowie Technik!) fallen. Sein berühmtestes Werk ist „Biedermann und die Brandstifter“, das als absurd-komödiantisches Lehrstück, aber auch politische Satire auf das Bürgertum, das scheinbar blind gute Miene zum bösen Spiel der Nazis gemacht hat und diese noch unterstützt hat. Ein weiteres bekanntes dramatisches Werk ist „Andorra“. Er war ebenso ein gern gelesener Romanautor, der sich hauptsächlich mit der Identitätsfrage (Wer bin ich wirklich? Was ist mein wahres Wesen im Vergleich zu dem, was mir von außen zugeschrieben © A. Sigmund

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wird?) beschäftigt hat. Drei bekannte Romane Frischs behandeln genau diese Problematik: „Stiller“, „Homo Faber“ (Kritik an europäisch-amerikanischer Technikgläubigkeit) sowie „Mein Name sei Gantenbein“, der erzähltechnisch am interessanten ist und die Identitätskrise als besonderes Leitmotiv aufgenommen hat (wiederkehrende Phrase: „ich stelle mir vor…“). Beim letztgenannten Roman handelt es sich um einen Möglichkeitsroman, in dem der Erzähler nicht mehr Herr der Geschichte ist wie im 19. Jhdt. Zürcher Literaturstreit 1966. In der Mitte der 1960er Jahre kann man das Ende einer literatur- sowie kulturgeschichtlichen Epoche postulieren, die nach 1945 begann. Emil Staiger, der wohl berühmteste Schweizer Germanist der 1930/40er Jahre und Verfechter der Werkimmanenz (d.h. das dichterische Werk soll hermeneutisch erfasst werden, nicht das Historische herum → rationales Fassen von intuitiven Reaktionen) trat eine öffentliche Diskussion über die „neue“ Literatur los - die im Feuilleton zahlreicher Zeitung zu einer hitzigen Debatte (v.a. zwischen Staiger und Frisch) führte. Im 18. Jhdt. gab es bereits einen „Zürcher Literaturstreit“ zwischen Gottsched in Leipzig sowie Bodmer und Breitlinger in Zürich über den Zusammenhang zwischen Regeln und Phantasie in der Poetik. LITERATUR VON 1945 - 1960 IN ÖSTERREICH Paradoxerweise verspürten während des 2. Weltkriegs mehr den Wunsch nach einer österreichischen Identität als in den Jahren der Zwischenkriegszeit, daher versuchte man nach 1945, Österreich wiederherzustellen und ein eigenes Land zu schaffen. Durch die Moskauer Deklaration der Siegermächte wurde Österreich nach den Ausmaßen von 1938 wieder hergestellt und als 1. Opfer der Nazis präsentiert. Diese Opferthese ist jedoch höchst umstritten, weil viele österreichische Institutionen den Nationalsozialisten die Durchsetzung ihrer Pläne erleichterten und nicht wirklich Widerstand leisteten. Oftmals wird die mangelnde Auseinandersetzung mit dem 2. Weltkrieg nach 1945 kritisiert, denn einfach zu sagen, dass Deutschland die bösen Nazis waren und Österreich ein Opfer war, ist zu einfach. Wenigstens setzte eine juristische Auseinandersetzung in der neuen Alpenrepublik ein („Entnazifizierung“), die bald schon jedoch durch den Kalten Krieg vorbei war. Als die ehemaligen Nazis, denen man vorerst ihr Wahlrecht entzogen hatte, dieses wieder bekamen, buhlten die beiden Großparteien um deren Gunst. Die 2. Republik entwickelte im Gegensatz zur 1. Republik zu einer wahren Erfolgsstory, was großteils an der stabilen politischen Situation durch eine langjährige Große Koalition lag. Von 1945 bis 1966 reagierten SPÖ sowie ÖVP gemeinsam unter Leitung der Volkspartei, was Österreich Wohlstand und Prosperität brachte. Während sportlich gesehen einige Erfolge gefeiert wurden (v.a. im Wintersport), passierte kulturell allerdings nicht viel - man sprach auch von einem „kulturellen Biedermeier“. Der Literatur ging es in den 1950er Jahren nicht wirklich gut, obwohl es in Österreich einen kurzfristigen Verlagsboom gab, weil Deutschland aufgrund der Zweiteilung als zu instabil galt. Ebenso wurden Schriftstellervereinigungen wiedergegründet wie z.B. der PEN, der in den 20er Jahren als völkerverbindender Verein nach dem 1. Weltkrieg initiiert wurde. In den 30ern bezog der PEN Opposition zu den Nazis, obwohl viele seiner Mitglieder Nationalsozialisten waren. Schließlich wurde im Exil ein österreichischer PEN gegründet, da man sich nicht dem deutschen Verband anschließen wollte und sich die exilierten Schriftsteller gegen Hitler-Deutschland verbinden wollten. In Österreich versuchte man in den 50ern, den Literaturbetrieb wiederaufzunehmen und zu diesem Zweck entstanden einige Zeitschriften, die jungen Autoren als Publikationsmedium dienten. Manche dieser Veröffentlichungen begannen neu mit dem Jahrgang 1 wie etwa Otto Basils „Der Plan“ und andere setzten die Arbeit von früher weiter wie Ernst Schönwieses „Das Silberboot“ (Weiterführung der „alten“ Literaturtradition, aber nicht der Heimatkunst!). Der Neubeginn nach dem 2. Weltkrieg stand somit einer konservativen Weiterführung der 1. Republik gegenüber. © A. Sigmund

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In diesem Zusammenhang sagte Alexander Lernet-Holenia: „Wir müssen nur dort weitermachen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben.“ Die offizielle Literaturpolitik Österreichs förderte damals v.a. konservative Autoren der 30er Jahre wie Karl Heinrich Waggerl (bekannter Nazi, danach dem Ländlich-Katholischen zugewandt), weil sich der Geschmack der Leserschaft nicht wirklich geändert hatte, während junge oder moderne Autoren nicht staatlich unterstützt wurden. Da die 2. Republik nicht besonders interessiert an der Rückholung von Schriftstellern oder Universitätspersonal war, standen die Exilliteraten dem offiziellen Österreich nicht sehr freundlich gegenüber. Einige kehrten dennoch zurück u.a. Hans Weigel, ein bekannter Kritiker, der versuchte, das Wiener Kaffeehaus wiederzubeleben und junge Autoren zu fördern - unter seinen Fittichen standen die junge Ilse Aichinger, Herta Kräftner sowie Ingeborg Bachmann. In der bildenden Kunst jedoch zeigten sich Fortschrittstendenzen (besonders im Surrealismus), weshalb sich die Autoren an die „Wiener Gruppe“ von Gerhard Rühm und Fritz Achleitner anschlossen. Für die aufstrebende Kulturszene wurden die Medien immer wichtiger - anfänglich v.a. das Radio. Das Hörspiel als Vertonung literarischer Stoffe sowie eigene Sparte wurde sehr bedeutend ab den 50ern, als der ORF gegründet wurde (Ingeborg Bachmann verdiente sich mit Hörspielen ein Zubrot!). Während der Film nach dem 2. Weltkrieg in Österreich immer mehr stagnierte, wurde das Theater zur kulturellen Identitätsstiftung wiederhergestellt und die beiden größten Häuser (Burgtheater sowie Staatsoper) neueröffnet. Als erstes Stück im neuen Burgtheater wurde DAS österreichische Stück „König Ottokars Glück und Ende“ inszeniert. Man nutzte das Theater um sich von Deutschland abzugrenzen und schon bald blühte die Theaterszene in Österreich auf, was zu zahlreichen Gründungen von Kellertheatern und Kabaretts in den 40/50ern führte (Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner waren besonders für den Erfolg das Kabaretts verantwortlich!). Die Wiener Gruppe war eine lose Vereinigung von Künstlern, von denen HC Artmann der bekannteste sowie Gerhard Rühm der wichtigste war, denn er sammelte die Arbeiten und dokumentierte das Schaffen. Diese Künstler zeichnen sich durch ihr Anschließen an die Avantgarden (ähnlich wie der Dadaismus), was eine Verweigerung von Sinn bedeutet, denn schließlich werde Literatur gemacht bzw. es werde mit ihr experimentiert. HC Artmann wurde besonders durch seine Dialektgedichte bekannt, für die er ein eigenes Graphemschema für österreichische Dialekte entwickelte („Mid ana schwoazn Dintn“ *= Mit einer schwarzen Tinte] ist das berühmteste dieser Gedichte!). Ernst Jandl lässt sich zwar in diese Zeit einordnen, war aber kein Mitglied der Wiener Gruppe. LYRIK Traditionellerweise gab es viel Lyrik in der Nachkriegszeit, um den Krieg sowie die Wirren der Jahre danach literarisch aufzuarbeiten. Doch die Menge an Hochstillyrik wie etwa von Trakl, Rilke oder der jungen Ingeborg Bachmann war sehr überraschend. Eine Autodidaktik, Christine Lavant (Pseudonym für Christine Thonhauser, weil sie aus dem Kärntner Lavanttal stammt), schrieb vornehmlich pathetische Gedichte, die erst in den 50er Jahren entdeckt wurden. Neben Lavant gab es noch Hertha Kräftner, die ebenso aufgrund ihrer Gedichte berühmt wurde. Besonders prägend für Österreich wurde Ingeborg Bachmann, die in den 50ern erfolgreiche Lyrik produzierte und Anschluss an Deutschland (Gruppe 47) gesucht hatte. Neben den berühmten Gedichten wie „Böhmen liegt am Meer“ schrieb sie auch wichtige Erzähltexte wie „Das 30. Jahr“ oder ihren berühmten Roman „Malina“, der äußert kontrovers diskutiert wurde und als Antwort auf Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ gesehen wurde (Frisch und Bachmann führten einige Zeit eine Beziehung, doch sie fühlte sich verraten, weil Frischs „Gantenbein“ ihre Geschichte öffentlich machte). © A. Sigmund

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Paul Celan (eigentlich Paul Ancel) wurde in Bukarest geboren und kam damals nach Wien, das selbst nach dem Ende der KuK-Monarchie noch für die ehemaligen Kronländer als Anziehungspunkt galt, bevor er schließlich nach Paris ging. Er war einer der wichtigsten Lyriker nach 1945, dessen Poetik sich von einer Bachmannschen Poetik zu einer verknappten, chiffrenartigen Sprache entwickelte, weil man die „alte Sprache“ als verdorben betrachtete. In der „Todesfuge“ verarbeitet Celan die Shoah, wobei sich damals schon die Frage stellte, ob man über Auschwitz und die Gräuel der Nazis schreiben dürfte. Dieses Gedicht, das als sein wichtigstes gilt, wurde vielfach untersucht. Ernst Jandl kam ebenso aus einer sprachkritischen Position, die zu seiner „konkreten Poesie“ (d.h. das Material des Dichters ist die Sprache, nicht die Erinnerung) führte. EPIK Auch im Bereich der Erzähltexte gibt es durchaus auch Aufwärtstendenzen im Nachkriegsösterreich wie z.B. die Werke von Ilse Aichinger („Die größere Hoffnung“ über das Leben jüdischer Kinder im 2. Weltkrieg) oder etwa Heimito von Doderers (Soldat im 1. Weltkrieg, NSDAP-Mitglied, baldiger Austritt & Konvertierung zum Katholizismus) Romane, allen voran seine beiden Werke „Die Strudelhofstiege“ sowie „Dämonen“ (behandelt Brand des Justizpalasts). Doderer versuchte, die österreichische Geschichte der 1. Republik wieder herzustellen. Es gab weiters noch einige bekannte Schriftsteller, die jedoch nicht von einer großen Masse gelesen wurden z.B. George Saiko, Gerhard Fritsch, Hans Lebert („Wolfshaut“ über die verschwiegenen Morde an Zwangsarbeitern während des 2. Weltkriegs). Allgemein gab es in den 50er Jahren eine konservative, relativ breite Literatur, während in den 60ern die Wiener Gruppe bekannter wird und experimentelle, neue Literatur Einzug hält. Ab den 50ern wird auch Graz neben Wien immer wichtiger und das „Forum Stadtpark“ rund um Peter Handke formiert sich (gibt es heute noch!), um im nächsten Jahrzehnt die Literatur in Österreich zu dominieren.

LITERATUR AB 1945 - BRD & DDR 8. Einheit (Fr., 20. Mai 2011) Während sich die erste Hälfte des 20. Jhdts. noch in literarische Epochen wie Expressionismus, Neue Sachlichkeit etc. einordnen ließ, ist dies bei der Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis in die 90er Jahre nur schwer möglich. In Deutschland (v.a. in Westdeutschland) gab es ungefähr die folgenden Meilensteine: Nach 1945 sprach man von „Trümmerliteratur“, die der Auseinandersetzung mit dem Geschehenen direkt nach dem Krieg diente. In den 50ern gab es einen parabelhaften Umgang mit der Vergangenheit, in dem hauptsächlich die Frage der Schuld und Sühne für die Verbrechen der Nazis thematisiert wurde. In den 60er Jahren gab es eine deutliche Politisierung der Literatur, die in einer revolutionären Weise die alten Formen aufsprengen wollte (das vorige Jahrzehnt wurde als Biedermeier empfunden) und durch Tabubrüche sowie kontroverse Themen die Vergangenheit verarbeiten wollte. In den 70ern entstand eine „neue Innerlichkeit/Subjektivität“, da sich die Autoren sowie die Literatur sich mit sich selbst beschäftigten, folglich waren die Werke oft (zumindest teilweise) autobiographisch und besonders authentisch. In den 80er Jahren zeigte sich die Angst der Menschen angesichts des Kalten Kriegs sowie der Abrüstung deutlich in der Literatur, die zahlreiche recht apokalyptische Texte hervorbrachte. In den 90ern begann die andauernde „Spaßkultur“ und Konsumwelt, die sich besonders nach 1989 durch ihre Oberflächlichkeit auszeichnet.

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Historischer Überblick 1945 endete der Zweite Weltkrieg sowie das Dritte Reich und Hitlers Großdeutschland wurde deutlich verkleinert. Nach den endgültigen Grenzziehungen kam es zu massiven Flüchtlingsströmen von Osteuropäern deutscher Herkunft nach Deutschland und Deutsche wurden in manchen osteuropäischen Ländern wie der Tschechoslowakei gewaltsam vertrieben (Sudetendeutsche!). Das verbleibende Deutschland wurde in 4 Besatzungszonen (Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien sowie USA) aufgeteilt, doch da sich schon bald der Kalte Krieg einstellte und das Missvertrauen zwischen Ostblock und Westblock verstärke, wurden militärische Bünde geschlossen (NATO für den Westblock und Warschauer Pakt für den Ostblock). Die drei westlichen Besatzungszonen schlossen sich zu Westdeutschland bzw. der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zusammen und die sowjetische Zone wurde zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Berlin lag zwar in der DDR, war aber wie Wien von allen Siegermächten besetzt, und wurde somit in West- und Ostberlin geteilt. Die DDR verfügte über ein stark repressives System, das zu einer Massenflucht in die BRD führte (aufgrund der gleichen Sprache und Kultur war dies besonders leicht!), doch schon bald schottete der Osten seine Grenzen ab und der Eiserne Vorhang zog sich auch durch Deutschland. Berlin war zwar noch offen, aber 1961 wurde schließlich die Berliner Mauer gebaut, die die letzte Fluchtmöglichkeit in den Westen verwehrte. Anfangs erkannte die BRD als Nachfolger „Deutschlands“ die DDR nicht einmal an. Die erste Zeit akzeptierte man sich gerade noch irgendwie und existierte mit starker Skepsis nebeneinander. Ab den 70ern gab es dann eine langsame Annäherung, die dann durch den Zusammenbruch des Kommunismus in Europa 1989 zum Fallen der Grenzen führte. 1990 schließlich wurden die BRD und die DDR wiedervereinigt und Berlin wurde wieder die Hauptstadt. Die größten Unterschiede in der Literatur lassen sich durch die zwei verschiedenen Gesellschaftssysteme der DDR (sozialistische Planwirtschaft) und BRD (freie Marktwirtschaft) erklären. LITERATUR AB 1945 IN DER DDR Es gibt einige Gründe, warum die literarische Situation in der DDR grundverschieden von jener der BRD war: Zum einen herrschte in Ostdeutschland ein strenges System, das die Literatur unter staatliche Verwaltung stellte, wodurch es keine freie Wahl, sondern Zensur gab. Weiters wurde Literatur als Teil der Kulturpolitik gesehen und Autoren galten als Werktätige, weshalb sie auch dementsprechend bezahlt wurden. Entgegen dem Westen, war es von Anfang an für die DDR wichtig, die Exilliteraten wieder zurückzuholen, doch diesen fiel die Rückkehr nach Europa schwer, weil sie nicht wussten, in welches Deutschland sie heimkehren sollten. Thomas Mann ging in die Schweiz, Bert Brecht versuchte, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erhalten (was ihm jedoch aufgrund seiner Sympathie für den Kommunismus verwehrt blieb), ging dann jedoch ebenso wie Heinrich Mann in die DDR. Sehr fortschrittlich für damalige Umstände war die Berufsausbildung für Schriftsteller in Ostdeutschland, welche im Westen erst Jahre später großflächig umgesetzt wurde. Jeder Autor musste Mitglied des Schriftstellerverbands sein. Anfänglich dominierten die ehemaligen Exilliteraten die ostdeutsche Literaturszene, doch schon bald verengte sich der literarische Betrieb dogmatisch und der sozialistische Realismus schien die einzig mögliche Literatur zu sein. Im Anschluss an das 19. Jhdt. sollte die Wirklichkeit („Tiefenstruktur“) idealisiert werden und nicht zufällige Oberflächlichkeiten abgebildet werden. Andere Literatur wie etwa der Expressionismus galten als westlich und verpönt.

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Zu Beginn herrscht bei den Jungen in der DDR noch großer Optimismus und das Verständnis als besseres, antifaschistisches Deutschland vor, doch schon bald verschwand diese positive Stimmung angesichts der Repressalien des Systems (Verfolgungen, Arbeitslager, Erpressungen, Zensur etc.). Auch viele Autoren wie etwa Christa Wolf waren anfänglich begeisterte Anhänger Ostdeutschlands sowie der grundliegenden Idee des Staates. Die Berliner Mauer, die als „antifaschistischer Schutzwall“ errichtet wurde, wurde schon bald als das erkannt, was sie eigentlich war - ein Hindernis an der Flucht in den Westen. Die Flucht aus der DDR wurde mittels staatlichen Kampagnen verteufelt, insbesondere nach dem Prager Frühling im Jahr 1968, als Truppen des Warschauer Pakts gewaltsam in der Tschechoslowakei eingriffen, wo man versucht hatte, Reformen zu starten, um eine Alternative zur repressiven Planwirtschaft zu finden. Ab den späten 60ern wandten sich immer mehr Schriftsteller gegen den Staat und wurden teilweise sogar ausgebürgert wie etwa Wolf Biermann, was für eine große Aufregung in der DDR (bei anderen Autoren, aber auch Parteitreuen) sorgte. In den 70/80ern gab es mehrere literarische Paradigmenwechsel, die je nach aktueller Politik sowie Vorsitzendem ausgerichtet waren. Das Tauwetter, das man sich v.a. unter Honecker erwartet hatte, war jedoch schnell vorbei. „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf ist eines der Werke, die den Frust der Jungen auf das repressive System zeigen und dennoch erlaubt waren im Osten, da nicht das grundlegende System angegriffen wurde. Viele Texte von Schriftstellern wurden nie in Ostdeutschland gedruckt, weil sie die strenge Zensur nicht bestanden, daher schickten viele ihre Werke in die BRD, wo sie veröffentlicht wurden (was angesichts der gleichen Sprache relativ einfach war!). Ein berühmtes Werk der DDR-Literatur ist Jurek Beckers „Jakob, der Lügner“, das bereits damals verfilmt wurde und später von Hollywood neu verfilmt wurde mit Robin Williams in der Rolle des Jakob. Das Buch handelt von den Geschehnissen in einem jüdischen Ghetto gegen Ende des 2. Weltkriegs und repräsentiert die Frage, ob Literatur lügen darf, um uns nicht die Hoffnung zu nehmen. Becker hat zwei mögliche Enden zu diesem Buch gegeben - ein heroisches Ende sowie ein tatsächliches Ende. Ein weiterer bekannter Autor ist Hermann Kant mit seinem Roman „Die Aula“, das humorvoll den Gründungsmythos der DDR mit dem Aufbau einer Schule gleichsetzt, der aus der Sicht eines ehemaligen, aufgestiegenen Schülers beschrieben wird. Im Nachhinein kann man postulieren, dass es zahlreiche Werke, die sich zur DDRBewältigungsliteratur zählen lassen, gibt wie z.B. „Helden wie wir“ von Thomas Brussig (eine Art Schelmenroman). Ebenso empfehlenswert ist „Der Turm“ von Uwe Tellkamp, der eine Art innerer Emigration in der DDR zeigt, da zahlreiche Bürger an ihrem bürgerlichen Habitus festhielten. LITERATUR AB 1945 IN DER BRD In der BRD gab es keine staatlich gelenkte Literaturpolitik, sondern einen freien Literaturmarkt und es herrschte kein großes Interesse daran, die Exilliteraten wieder heimzuholen. Nach dem 2. Weltkrieg entstand die Kahlschlagliteratur, denn da alles in Trümmern lag - Städte sowie die Sprache, die von den Nazis missbraucht worden war - musste neu begonnen werden. Die Gruppe 47 (zu ihren Mitgliedern zählt u.a. Marcel Reich-Ranicki), eine lockere Verbindung von jungen Autoren, formierte sich und traf sich jährlich einmal zum gemeinsamen Vorlesen und hemmungslosen Kritisieren von Büchern. In den 50ern wurde diese Gruppe dominierend und ein Teil des Literatursystems. Mitte der 60er ging es mit der Gruppe 47 zu Ende (1966 trafen sie sich in © A. Sigmund

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Princeton und der junge Peter Handke kritisierte die Vereinigung aufs Schärfste, was ihr den Todesstoß versetzte). In der Lyrik wirkte sich die Kahlschlagliteratur besonders aus, weil man nach den Nazis bei null beginnen wollte, um nicht die von den Nazis missbrauchte Sprache zu verwenden und weg von der poetischen Funktion zu gehen. Ein Beispiel hierfür ist Günter Eichs Gedicht „Inventur“, das ein Rollengedicht eines kriegsgefangenen Soldaten nach dem 2. Weltkrieg darstellt. Eich schrieb auch Naturlyrik, die während der NS-Zeit als Mittel der inneren Emigration weg vom menschlichen Chaos führte. Man fand schon bald wieder den Anschluss an den Ästhetizismus und seine Formstrenge, für die v.a. Gottfried Benn berühmt wurde. Benn war ein Vertreter des Expressionismus, ging nicht ins Exil und sympathisierte manchmal mit den Nazis, was ihm viel Kritik einbrachte, aber er war in den 50er Jahren aufgrund seiner streng eingehaltenen Formen ein Vorbild für viele. Peter Rühmkorf, ein linker Intellektueller, folgte Benns Tradition - was man in seinem Gedicht „Hochseil“, das den Spagat zwischen dem wirklichen Leben und Gedichten verdeutlichen will erkennen kann. Im Feuilleton der 70er wurde die innere Subjektivität mit ihrer authentisch wirkenden augenblicklichen Erfahrung eingehend behandelt. Ein Gedicht jener Zeit ist Rolf-Dieter Brinks „Einer jener Klassischen“, das eine Momentaufnahme des lyrischen Ichs darstellt, denn der Dichter will den Moment festhalten. Im Rahmen der Lyrik kam es zu einer Debatte darüber, ob man nach 1945 noch Lyrik über Auschwitz schreiben dürfte. Von Paul Celans „Todesfuge“ sagte man, dass sie ein „schönes“ Gedicht über Auschwitz sei - sofern so etwas schön sein kann. Theater in der BRD Nach 1945 wurde v.a. auf die Schweizer Frisch und Dürrenmatt zurückgegriffen, bis in den 60er Jahren ein Boom von Dokumentarstücken („Aufklärungstheater“) einsetzte, die eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den NS-Taten darstellten. Hierbei ist Rolf Hochhut zu nennen, der mit solchen Stücken Karriere machte („Dantons Tod“ von Büchner ist die Basis für diese Subgattung). Sein berühmtestes Werk ist „Der Stellvertreter“ von 1963, welches weltweit bekannt und kontrovers diskutiert wurde aufgrund seiner Thematik. Das Stück ist eine Kritik an Papst Pius XII., von dem man sagt, er habe zum Holocaust geschwiegen, obwohl er durch sein Sprechen sicherlich Menschen hätte retten können. Weitere Beispiele für solche Dokumentarstücke wären „Die Ermittlung“ von Peter Weiss oder „In der Sachen Robert Oppenheimer“ von Heiner Kippert, in dem ähnlich wie in Dürrenmatts „Physikern“ die Frage der Mitschuld der Physiker an der Atombombe und ihrem Folgen behandelt wird. Das Werk beinhaltet reale Dokumente der Verhöre von Robert Oppenheimer vor dem Mc Carthy-Ausschuss für kommunistische Umtriebe. Die Versuche, die BRD-Literatur abzugrenzen sind durchaus brauchbar und praktikabel - die 50er hören mit dem Bau der Berliner Mauer sowie den großen Romanen von 1959 („Die Blechtrommel“ von Günter Grass, „Mutmaßungen über Jakob“ von Uwe Johnson sowie „Billard um halb 10“ von Heinrich Böll) auf. Heinrich Böll repräsentierte die BRD unfreiwillig als Vorzeigeliterat und galt als „Gewissen Westdeutschlands“. Er hatte am Krieg teilgenommen und verarbeitete in seinen frühen Romanen die Kriegserfahrungen sowie Nachkriegserlebnisse. Man nannte ihn auch „Chronist des Wiederaufbaus“, doch er übte eigentlich Kritik, da eher materieller als „wirklicher“ Wiederaufbau betrieben wurde. Einige seiner berühmtesten Werke sind „Billard um halb 10“ (Familienroman, der die Vor- und Nachkriegszeit einer Familie zeigt), „Ansicht eines Clowns“ (Mitglied einer gehobenen Familie im Rheingebiet steigt aus und wird Clown, da keine Konsequenzen aus der Vergangenheit gezogen © A. Sigmund

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wurden, doch er scheitert am Ende in jeglicher Hinsicht), „Gruppenbild mit Dame“ (Biographie einer Frau, die sich stets falsch verhält - sie hat in der NS-Zeit eine Beziehung mit einem Zwangsarbeiter sowie in der Nachkriegszeit mit einem Gastarbeiter) sowie „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (behandelt Terrorproblem der 70er Jahre durch die RAF, der v.a. im Westen in den Medien für Hysterie sorgte. Eindeutig lässt sich die Politisierung in den 60er Jahren erkennen, die auch die Debatte um den Vietnam-Krieg einschloss, welcher zu einer starken Anti-Vietnam- sowie Anti-USA-Bewegung führte. Erich Fried, ein ursprünglicher Wiener, der nach dem Exil in die BRD ging, wurde einer der führenden politischen Lyriker, wovon sein reiches Werk zeugt.

ROMANE AB 1945 9. Einheit (Fr., 27. Mai 2011) In dieser Einheit sollen drei große Romane der deutschsprachigen Literatur nach 1945 besprochen werden, die jedoch alle aus dem ehemaligen Westdeutschland stammen. Da für die meisten Romane dieser Zeit autobiographische Begebenheiten verwendet wurden, sei hier auch eine Kurzbiographie der Autoren gegeben. Günter Grass - „Die Blechtrommel“ Grass wurde 1927 in Danzig, damals eine freie Reichsstadt mit deutscher Majorität, heute Gdansk in Polen, als Sohn eines protestantischen Kaufmanns und einer Katholikin kaschubischer Abstammung geboren. Danzig spielt eine wichtige Rolle, weil sie den Beginn des 2. Weltkriegs darstellt durch den Angriff der Nazis. Seine Eltern tauchen in der Blechtrommel wieder in Form der Eltern Oskars auf. Obwohl Grass kein überzeugter NS-Anhänger war, wuchs er damit als Kind auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er freiwillig diente und in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten ist, absolvierte er eine Lehre als Steinmetz und studierte dann von 1948 - 1952 an der Kunstakademie in Düsseldorf. 1953 - 1956 studierte er an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin, bevor er bis 1959 nach Paris ging, um dann 1960 wieder nach Berlin zurückzukehren. 1972 zog es ihn nach Schleswig-Holstein, wo er bis 1987 lebte. In seiner Zeit in Paris entstand das Manuskript für die Blechtrommel und schließlich 1959 wurde das Werk publiziert. Mit seinem ersten Roman schafft er den weltweiten Durchbruch und der Stoff wurde verfilmt. Dieser Erfolg rief jedoch nicht nur Freunde, sondern auch Kritik und Ablehnung auf hervor, da das Buch zu realistisch erzählt worden sei (lt. Hans Magnus Enzensberger). Der Schrifsteller engagierte sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte stark für diverse Anliegen wie Anti-Atomkraft, mehr Rechte für Schwule und Lesben etc. Weiters engagierte er sich früh für die SPD und wurde ein Mitglied der Gruppe 47. Im Roman „Die Blechtrommel“ geht es um Oskar Matzerath, der sich 1954 in einer Pflegeanstalt befindet und dort seine Lebensgeschichte aufschreibt, aber auch Aktuelles miteinbezieht. Schon vom ersten Satz an wird klar, dass es sich hier um einen unzuverlässigen Erzähler handelt, einen IchErzähler, wobei der Erzähler langsam glaubt, dass gelogen wird. Das Werk lässt sich als Picaroroman (Schelmenroman, von span.: picaro = Schelm) bezeichnen, der damals zu den wichtigsten niederen Romanen zählte wie etwa „Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Ebenso könnte man die Blechtrommel als Bildungsroman sehen, da die Entwicklung des Oskar Matzerath geschildert wird. Im Werk werden 2 Jahre des Lebens des Protagonisten nacherzählt, wobei dieser sehr umstritten ist. Grass baut geschickt starke Dingsymbole in seinen Text ein - die Trommeln, die die Erinnerung repräsentieren oder verschiedenste Phallus-Symbole wie Trommelstäbe oder Aale. Aufgrund dieser starken Präsenz von dinglichen Symbolen wirkte der Roman zu realistisch und verstörte das Publikum.

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Der Autor bezog ebenso mythologische Stoffe in das Werk ein, die v.a. aus dem Christentum insbesondere dem Katholizismus - stammen. Oskars private Geschichte wird mit der Geschichte der Welt verbunden und in drei Büchern wiedergegeben - das erste Buch behandelt die Zeit bis zum 1. Weltkrieg, das zweite jener bis zum 2. Weltkrieg und das dritte sowie letzte Buch handelt von seinem weiteren Leben nach dem 2. Weltkrieg. Uwe Johnson - „Jahrestage“ Johnson wurde 1934 in Pommern (heute Polen) geboren und wuchs in Mecklenburg/DDR auf. Er studierte Germanistik sowie Anglistik, um Lektor bei einem Verlag zu werden. Sein großes Vorbild war William Faulkner, der in den Südstaaten der USA lebte und auch andere deutschsprachige Autoren dieser Zeit beeinflusste. Er wurde recht früh aufgrund seiner Kritik an der DDR sowie der Stasi bekannt und wurde beinahe von der Universität geworfen. Seine Mutter flüchtete in den Westen und er zog schlussendlich auch nach Westberlin, nachdem eines seiner Bücher nicht veröffentlicht wurde. Er kam viel herum in der Welt (Rom, New York), bevor er wieder in die DDR zurückkehrte. Eines seiner berühmtesten Werke ist „Mutmaßungen über Jakob“ in dem es darum geht, dass der Protagonist Jakob angeblich gestorben sei. Die „Handlung“ besteht nur aus den Mutmaßungen der Erzählinstanz über Jakobs Schicksal. In diesem Werk kommt bereits die Figur der Gesine Cresspahl vor, die eine Jugendfreundin von Jakob war und in die Westen geflohen war. Die DDR will sie als Spionin einsetzen und sie taucht in folgenden Romanen wieder auf. Aufgrund dieser leicht thrillermäßigen Mutmaßungsprosa ist das Werk nicht leicht zu lesen. In seinem vierbändigen Werk Jahrestage - Aus dem Leben von Gesine Cresspahl spiegelt sich die Problematik der deutschen Teilung wieder. Zeitlich gesehen umfasst das Werk die Periode vom Ende der Weimarer Republik bis hin zur Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968. In 366 Tageseinträgen (21. August 1967 - 20. August 1968) wird ihr Leben rückblickend erzählt von ihrer Flucht aus der DDR bis hin zu ihrem Dasein als alleinerziehende Mutter in New York. Sie plant eine Reise nach Prag, da sie besonders vom Prager Frühling sowie dessen Forderung nach einem menschlichen Sozialismus angetan ist. Der letzte Tagebucheintrag vom 20. August 1968 ist der Tag der blutigen Niederschlagung der Revolution durch die Truppen des Warschauer Pakts. Neben der Alltagsgeschichte der Gesine Cresspahl wird auch die Zeitgeschichte im Rahmen von Zitaten aus der New York Times (im Werk manchmal „Tante Times“ genannt) behandelt. Durch diese Montagetechnik wird dem Roman eine zweite Stimme verliehen. Ebenso werden imaginäre Gespräche mit Figuren aus der Vergangenheit sowie tatsächlich Gesprochenes, Schriftdokumente nahtlos in den Text eingebaut. Interessant ist auch der Erzähler, den Johnson einsetzt, denn er handelt einmal auktorial und einmal personal. Darüber hinaus kommt es manchmal in diesem Werk zu einem Dialog von Gesine und Johnson selbst, die beide gemeinsam das Werk produziert haben. Peter Weiss - „Die Ästhetik des Widerstands“ Weiss wurde 1916 in der Nähe von Potsdam geboren und war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Maler, Grafiker und Experimentalfilmer. Er war der Sohn einer jüdischen Berliner Bürgerfamilie und ging 1934 nach Schweden ins Exil, wo er aufgewachsen ist. Eigentlich war er eher bildender Künstler denn Autor, aber manche Texte von ihm wurden besonders berühmt wie etwa das Drama „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“. In seinem Hauptwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ (1971 - 1981), welches aus drei Bänden besteht, versucht er die historischen und gesellschaftlichen Erfahrung und die ästhetischen sowie politischen Erkenntnisse der Arbeiterbewegung in den Jahren des Widerstands gegen den © A. Sigmund

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Faschismus zum Leben zu erwecken und weiterzugeben. Dieser Text ist zwar als Roman veröffentlicht worden, wird aber zunehmend eher als Essay oder essayistischer Roman gesehen. Inhaltlich befasst sich das Werk mit der faschistischen Zeit in Europa aus der Perspektive des antifaschistischen Widerstands. Der namenlose deutsche Arbeiter und Widerstandskämpfer (entspricht der Wunschbiographie von Weiss) leidet unter der Schwierigkeit der Bildung. Er begegnet u.a. Bert Brecht, aber auch Gemälde oder andere Texte ziehen sich durch das Werk hindurch wie etwa einige berühmte Bilder von Delacroix, Picasso sowie Kafkas Das Schloss. Weiss war es wichtig eher als Historiker bzw. Theoretiker, weniger als Belletrist zu arbeiten, um somit ein Denkmal für den Widerstand sowie dessen Verfechter zu setzen.

ÖSTERREICHISCHE LITERATUR SEIT DEN 60ERN (Bernhard, Handke) 10. Einheit (Fr., 10. Juni 2011) Wie bereits erwähnt, ist es äußerst schwierig, literarische Epochen einzuteilen, doch man ist sich einig, dass in der Mitte der 60er Jahre ein Einschnitt stattfand. In Österreich kann man das Jahr 1966 als Zäsur postulieren, da es bis zu diesem Jahr stets Große Koalitionen unter ÖVP-Führung gab. Von 1966 bis 1969/70 regierte die ÖVP unter Josef Klaus alleine, was bei vielen die Angst hervorrief, dass sich die Geschehnisse der 1. Republik wiederholen könnten. Ab 1970 begann die Ära Kreisky, doch die Reformen, die Österreich nachhaltig prägen sollten, wurden schon von der ÖVP-Alleinregierung eingeleitet. Das Jahr 1966 ist außerdem kulturell bedeutsam, denn Heimito von Doderer starb und Peter Handke trat erstmals öffentlich bei der Versammlung der Gruppe 47 in Princeton auf, wo er alle kritisierte. Den nächsten Umbruch kann man mit den Ereignissen von 1989 annehmen, als der gesamte Ostblock zusammenbrach und eine neue Epoche der Globalisierung begann. In der Literatur der 60er Jahre kehrte eine Politisierung ein, die durch die teilweise verklärte 68erBewegung sowie die Studentenproteste im Westen (v.a. USA und Frankreich) und Osten („Prager Frühling“) als Zeichen einer Unzufriedenheit sowie Kritik an der Situation im eigenen Land ausgelöst wurde. Im Literaturbetrieb kam es zu einer Spaltung der Autoren in die traditionellen Anhänger des PENClubs, der in den 20er Jahren nach dem 1. Weltkrieg gegründet wurde als internationale Interessensvereinigung der Autoren, sowie die jungen Autoren der 50er Jahre, die sich nicht wirklich vom PEN-Club vertreten fühlten. Einige österreichische Autoren traten schließlich aus und gründeten ihren eigenen Verein, die Grazer Autorenversammlung, weil Graz sich neben Wien als kulturelles Zentrum in Österreich etablierte. Weiters war die Gründung eines eigenen Kollektivs nötig, da der PEN-Club nicht ein zweites PEN-Zentrum im österreichischen PEN-Zentrum zuließ. Das „Forum Stadtpark“, wie sich die Grazer Autorenversammlung auch nannte, versuchte sich dem „Neo-Biedermeier“ der 50er Jahre entgegen zu stellen, wodurch Graz zur Hochburg der Moderne avancierte - selbst heute noch ist die Trennung evident, wenn auch nicht mehr so radikal. Die Aufbruchsstimmung der 60er und 70er führte zu einer verstärkten Gründung von Literaturzeitschriften wie z.B. der „manuskripte“ vom Grazer Alfred Kollaritsch, die von einer billig gemachten Zeitschrift zur wichtigsten deutschsprachigen Literaturzeitschriften aufstieg. In diesen Medien konnten die jungen Autoren ihre Werke veröffentlichen, die sonst kein Verlag genommen hätte. Die Politik unter Bruno Kreisky setzte sich stark für die Unterstützung junger Autoren durch Preise, Stipendien oder die Stärkung von Zeitschriften ein. Man wollte die Literaten unterstützen, um ihnen möglichst große Freiheit von Zwängen des Marktes zu gewähren, damit ihre Werke einem höherem Kunstanspruch gerecht würden. Diese Förderung brachte Österreich die Kritik ein, einen künstlich „geschützten Raum“ zu schaffen, denn die Schriftsteller sollten sich mehr ums Publikum kümmern (diese Diskussion gab es schon zwischen Schiller und Bürger).

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Der österreichische Literaturbetrieb ist relativ klein, weshalb viele Schriftsteller versuchten, auch am deutschen Markt Fuß zu fassen. Einzig ein österreichischer Verlag, der Salzburger Residenz-Verlag, war den jungen Autoren gegenüber aufgeschlossen und publizierte deren Werke, weshalb er schnell zum Verlag der „gemäßigten Moderne“ wurde. „Böhmen liegt am Meer“ (Ingeborg Bachmann) Ingeborg Bachmann wurde in Klagenfurt geboren und erlebte die Nazizeit sowie den 2. Weltkrieg bewusst mit. Sie wurde sehr geschätzt (v.a. in der BRD war sie viel gelesen), aber ging schon früh aus Österreich fort. Bachmann war mit Celan befreundet und führte später eine lange, komplizierte Beziehung zu Max Frisch, was sich in den Werken „Malina“ sowie Frischs Roman „Mein Name sei Gantenbein“ niederschlägt. Die Schriftstellerin war v.a in der Lyrik tätig, aber da sich um ihr Überleben kümmern musste, fing sie bei Radio Rot-Weiß-Rot an und schrieb Hörspiele für den Rundfunk, der ziemlich gut zahlte. Nach der Lyrik wandte sie sich der Erzählprosa zu, zu denen ihr bekanntester Roman „Malina“ zählt, vor dessen Fertigstellung sie in Rom an schweren Verbrennungen starb. Sie war stets der Ästhetik der 50er Jahre verbunden. Die Autorin ist stets der KuK-Mentalität verhaftet gewesen, weshalb sie an der Kärntner Situation (Ortstafelstreit wegen slowenischen Ortsnamen) litt. Das Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ spielt auf Shakespeares „Winter’s Tale“ an, in dem Böhmen als Gegenwelt zur braven Welt konstruiert wird. Böhmen hat 2 Bedeutungen im Gedicht: Einerseits im Wort „Bohemien“, als jemand, der sich dem Bürgertum entzieht (Gaukler, Künstler) sowie andererseits im heutigen Tschechien, das durch den Prager Frühling zur Hoffnung wurden, dass dem Kommunismus ein menschlicheres Gesicht gegeben werden könnte. Biographisch kann das Gedicht als Reaktion auf eine Reise nach Prag gelesen werden. Bachmann folgt in dem Gedicht durchaus der Hochstillyrik der Tradition Trakls sowie Rilkes, obwohl sie zu den jungen Autoren zählte. „wien, heldenplatz“ (Ernst Jandl) Jandl war Wiener Gymnasiallehrer für Englisch und Deutsch, der trotz Nähe zur Wiener Gruppe nie ein Mitglied derselben war. Während die Wiener Gruppe experimenteller vorging, legte er Wert auf semantisch-phonetische Aspekte seiner Literatur. Seit den 50er Jahren war er als Schriftsteller tätig und mit Friedericke Mayröcker zusammen. Er versuchte immer, der abgewirtschafteten Sprache nach 1945 neue Qualitäten des Aussagens zu verleihen. In seinem Gedicht „Wien: Heldenplatz“ verarbeitet er eine religiös wirkende Sprache (Heldenplatz spielt auf den Einmarsch Hitlers in Österreich ein, bei dem Hitler als Messias präsentiert wurde), sexuell konnotierte Elemente sowie Begriffe aus der Jägerei. Teilweise kontrahiert er Wörter zu einem Wort und schafft somit eine Kunstsprache, die - außer den Funktionswörtern - mit der Lautebene spielt. Das Gedicht ist aus den 50er Jahren erklärbar, denn es sollte eine „neue“ Sprache geschaffen werden, um über das Unsägliche (alle Gräuel des Dritten Reichs) reden zu können. Weiters hat die Thematik autobiographische Züge, denn Jandl hat 1938 Hitlers Machtergreifung am Heldenplatz als Schuljunge miterlebt. DRAMATIK In der Dramatik wurde das traditionelle Drama der 50er Jahre weitergeführt, doch die 60er Jahre bedeuteten einen Abbruch wie man an einigen Autoren prototypisch erkennen kann: Peter Handke. „Der junge Mann mit den langen Haaren und der Sonnenbrille“ wurde 1966 nach seinem Auftritt in Princeton als Provokateur berühmt. Sein Stück „Publikumsbeschimpfungen“ (1966 von Claus Peymann, späterem Burgtheaterchef, in Frankfurt inszeniert) drehte die Konventionen um © A. Sigmund

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und folglich beschimpften die Darsteller das Publikum in kunstvoller Sprache. Die Idee dahinter war, die Handlung nicht auf der Bühne stattfinden zu lassen. Weitere Stücke von ihm sind „Selbstbezichtigung“, „Hilferufe“, „Kaspar“ (Verarbeitung des Kaspar Hauser-Stoffes sowie seine Grundidee, inwiefern uns Sprache prägt/sprachliche Relativitätstheorie). Handke ging aus Österreich weg, kam nach Paris und ging in den 90er Jahren wieder nach Salzburg. Wolfgang Bauer, der 2005 gestorben ist, kam auch aus der Grazer Literaturszene und verstand seine Stücke fälschlicherweise als „Volksstücke“, die einen kritischen Blick auf die gegenwärtige Literaturszene werfen. Peter Turrini, der 1944 in Kärnten geboren wurde, entsprang auch der Grazer Szene und vertrat eine linke, engagierte Literatur. Seine naturalistisch-krassen Stücke („Sauschlacht“) verstand er selbst als „Volksstücke“. Felix Mitterer, ein Tiroler Schriftsteller, sieht sich ebenso als Schreiber von Volksstücken wie Turrini, weshalb beide oft gemeinsam genannt werden. Elfriede Jelinek steht in der sprachkritischen Tradition Handkes und hat ihre Anfänge ebenso in Graz, wo sie Handke und andere kritisiert, dass sie im Elfenbeinturm der Literatur leben würden. Ihr literarisches Herz schlägt v.a. für die Sprachkritik, aber auch den Feminismus, der sich in der Sprache niederschlägt. In den 60er Jahren gab es allgemein zwei Gruppen junger Autoren: Einerseits gab es die politisch Engagierten wie Peter Turrini, die mit ihren Werken raus aus dem Elfenbeinturm wollten und den Realitätsbezug herstellen wollten sowie die Richtungen der „l’art pour l’art“ (Kunst um der Kunst Willen), die sich unpolitisch verhielten und die Funktionsweise der Sprache beleuchteten. Peter Handke verfasst provokativ ein Werk mit dem Namen „Ich wohne im Elfenbeinturm“, um zu zeigen, dass ihm dies nichts ausmache. Thomas Bernhard war etwas älter als Handke und Co. und wurde anfangs immer mit Handke in einem Atemzug genannt, doch jetzt sieht man sie eher als Antipoden („der Handke wird immer feierlich und der Bernhard immer wütender“). In den 50er Jahren war Bernhard nicht sehr berühmt, verfasste Lyrik und arbeitete als Reporter. 1963 wurde er durch sein Werk „Frost“ sehr berühmt. Er schrieb zahlreiche untheatralische Theaterstücke, die keine klassischen Dramen darstellten, sondern oft monologisch agierende, monomanische Hauptfiguren beinhielten („Geistesmenschen“), die an der Welt und ihren Ansprüchen an sich scheiterten und in wenig Interaktion mit Anderen standen. Weitere bekannte dramatische Werke Bernhards sind u.a. „Ein Fest für Boris“, „Die Macht der Gewohnheit“ (Kernaussage: Kunst rettet uns vorm Leben, aber wird nie perfekt!) sowie „Der Theatermacher“. EPIK Allgemein muss man nochmals in Erinnerung rufen, dass der Roman im 20. Jh. zur wichtigsten Erzählform wurde. Peter Handke ist auch im Bereich der Erzähltexte herausragend, denn er beginnt mit experimentellen Texten, die eine Absage an das Erzählen/die Handlung darstellen. Er untersuchte Modelle für Romane, die als „Grammatiken“ des Schreibens dienen sollten. Einige berühmte Werke sind: „Der Hausierer“ (eigentlich Struktur eines Krimis, aber ganz abstrakt geschrieben), „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“, „Der kurze Brief zum langen Abschied“ (Fiktion eines Entwicklungs-/Bildungsromans, aber eigentlich ein Reiseroman durch die USA sowie teilweise ein Kriminalroman) und den stark autobiographischen Text „Wunschloses Unglück“ (Sohn versucht mit dem Suizid der Mutter zurechtzukommen). © A. Sigmund

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In weiteren Texten versuchte er, zur Natur sowie zum Mythos zurück zu finden. Handke war und ist ein sehr umstrittener Autor aufgrund seines Zuspruchs für Serbien im Jugoslawienkrieg. Er sah im Vielvölkerstaat Jugoslawien ein zweites „Kakanien“. Im Umkreis Handkes stehen noch einige andere wichtige österreichische Autoren dieser Zeit wie Gerhard Jonke, Walter Kappacher, Gerhard Roth oder Michael Scharang. Autoren, die sich stark mit der Realität beschäftigt haben, waren u.a. der bäuerlich geprägte Franz Innerhofer, der die patriarchalischen Machtverhältnisse des Bauernhofs in seinen Werken als Thema aufgriff und befand, dass selbst in der Welt der Wörter (Sprache), Machtverhältnisse vorherrschen. Sein 1. Roman „Schöne Tage“ wurde damals 1974 im Salzburger Residenz-Verlag herausgegeben. Ebenso realitätsnah war Josef Winkler, der auch aus Kärnten stammte und in seinem Frühwerk stark autobiographisch vorging. In seinen Texten kann man gut einen protokollarischen Stil erkennen, der sich in seinen Romanen „Menschenkind“, „Der Ackermann aus Kärnten“ sowie „Muttersprache“ widerspiegelt, die der Suhrkamp-Verlag zu einer Trilogie namens „Das wilde Kärnten“ vereinte. Seine Werke zeichnen sich durch ein obsessives Kreisen, ein Nicht-Loslassen-Können aus.

GEGENWARTSLITERATUR (seit 1989) 11. Einheit (Fr., 17. Juni 2011) Das Problem der Gegenwartsliteratur ist, dass es keinen einheitlichen Kanon wie etwa in früheren literarischen Epochen gibt. Je näher man zeitlich an die Gegenwart herankommt, desto schwieriger ist es, in unterschiedliche literarische Richtungen und Epochen einzuteilen. Feststeht jedoch, dass das Jahr 1989 einen historischen Einschnitt darstellt, da hier das „kurze 20. Jh.“ (1918-1989) endete und beide Teile Deutschlands am Weg zur Wiedervereinigung waren. Während der Trennung Deutschlands in die BRD und die DDR konnte man beobachten, dass die Literaturhistoriker auch einen Blick auf die Schweiz sowie Österreich warfen, doch nach dem 1991 neu vereinten Deutschland wurde wieder nur ein Hauptaugenmerk auf die bundesdeutsche Literatur gelegt. In der Gegenwartsliteratur finden sich anfangs noch Werke der DDR-Aufarbeitungsliteratur wie etwa Thomas Brussigs‘ „Helden wie wir“, das eine groteske Abrechnung mit der DDR im Rahmen eines parodistischen Adoleszenzbildungsromans darstellt. In diesem Werk verwendete der Autor viel kindisch Witziges und parodierte Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“, indem er den „geheilten Pimmel“ als wichtiges Element für die deutsche Wiedervereinigung einsetzte. Ingo Schulzes Werk „Simple Stories“ (hier ist das deutsche Adjektiv, nicht das englische gemeint!) fügen sich inhaltlich in sich geschlossene Geschichten zu einem Ganzen und zeichnen ein Bild des Endes der DDR. Die Kohärenz ist durch wiederkehrende Personen gegeben, die zusammen einen Kosmos der letzen Tage der DDR und den Beginn des geeinten Deutschlands wiedergeben. Die Technik des „unzuverlässigen Erzählers“ (mehrere Personen erzählen ihre Sicht, wodurch sich das „wahre“ Ereignis abzeichnet), die Schulze hier einsetzt, wurde schon von Großmeistern wie James Joyce in seinen „Dubliners“ angewandt. Ein weiterer Roman, der sich mit der DDR beschäftigt, ist Uwe Tellkamps umfangreicher Roman „Der Turm“, der den deutschen Literaturpreis gewann und einen großen Familienroman in der Tradition von Manns „Buddenbrooks“ darstellt. In diesem Werk werden die letzten Werke der DDR als kritischer Rückblick anhand der Geschehnisse rund um eine großbürgerliche Dresdner Familie gezeigt.

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In Österreich entstand seit 1989 wieder eine Renaissance des Erzählens, die den erzählskeptischen Phasen des 20. Jhs. (frühe 20er sowie 60er Jahre) sowie Autoren wie Bernhard („Sobald ich am Horizont den Beginn einer Handlung entdecke, schieß ich ihn ab“) bewusst widersprachen. Texte, die wieder traditionell erzählten, waren für Bernhard fast schon „unanständig“ - Uwe Johnson wurde in den 70ern vorgeworfen, dass er in seinem Werk „Jahrestage“ wieder klassisch erzähle, was sich nicht gehört (berühmt wurde er ja mit seinem nicht klassisch erzählten Roman „Mutmaßungen über Jakob“). Peter Handke kehrte als einer der ersten wieder zum Erzählen zurück. Laut Pierre Bourdieu gleicht der Literaturbetrieb einem „literarischen Feld“, auf dem alle gegeneinander kämpfen, um sich ihren Platz zu sichern, wodurch sich v.a. junge/neue Autoren gegen alte/andere abheben müssen. Der deutschsprachigen Literatur warf man damals vor, dass sie weniger Publikum als die angloamerikanische erreiche, weil sie zu experimentell sei und nicht so populär wie jene in Amerika. 1989 ist für Österreich ein wichtiges Jahr, da der Eiserne Vorhang fiel, wodurch die Grenzen nach Tschechien, in die Slowakei sowie nach Ungarn wieder offen waren. Österreich, das an seine neutrale Rolle zwischen West- und Ostblock gewöhnt war, musste seine Rolle nun neu definieren. Allgemein setzte ab diesem Jahr eine stärkere Politisierung der Literatur ein, was Westdeutschland vorher schon lange von der österreichischen Literatur gefordert hatte, und man setzte sich stärker mit der jüngeren Geschichte sowie dem aktuellen Geschehen auseinander wie z.B. der Fall Waldheim. Diese Causa entstand großteils durch Waldheims ungeschicktes Vorgehen in den Medien und wurde unfairerweise hochstilisiert. Er wurde eigentlich zum Sündenbock für die Probleme der 2. Republik mit ihrem Umgang mit der NS-Vergangenheit. Der Autor Robert Menasse kritisierte Österreich schon früh in seinen essayistischen Werken „Das Land ohne Eigenschaften“ (in Analogie zu Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“) sowie „Sozialpartnerschaftliche Ästhetik“, in dem er davon sprach, dass man in Österreich noch vor dem Konflikt bereits einen Kompromiss suche. Er war der Meinung, dass Österreich ein „Land des Entweder und Oder sei und es zwar nicht dabei ist, aber stets doch mitreiten möchte, was als Anspielung auf Kurt Waldheim gedacht war. Ende der 80er Jahre begann ebenfalls der kometenhafte Aufstieg der FPÖ, die lange Zeit eine kleine Partei neben den zwei Großmächten SPÖ und ÖVP darstellte. Die Freiheitliche Partei entsprang aus dem „Verein der Unabhängigen“ (VdU) und konnte nur durch ihren charismatischen Führer Jörg Haider von Wahl zu Wahl aufsteigen, bis es 2000 zur „Wende“ kam - einer Regierung zwischen ÖVP und FPÖ, was zu heftigen Protesten im In- und Ausland geführt hat. Ein wichtiger österreichischer Schriftsteller der Gegenwartsliteratur ist Josef Haslinger, der zu den Neo-Erzählern zählt, was bei vielen anderen auch schon im Jugendwerk angelehnt war. Seine Bekanntheit ist stark mit der Veröffentlichung in der Zeitschrift Wespennester - Zeitschrift für brauchbare Texte verbunden. Wie viele andere Autoren schrieb er Werke über seine Schulzeit. Am bekanntesten wurde sein leserfreundlicher, großer Roman „Opernball“ (1995), der kunstvoll einen fiktiven Terroranschlag auf den Opernball mittels Giftgas behandelt, der durch die Live-TVÜbertragung den Zuschauern nachhause übermittelt wird. Robert Menasse, der bereits erwähnt wurde, studierte in Wien Germanistik und ging dann als Lektor nach Brasilien. Seine Erfahrungen aus Brasilien finden sich in seinen Texten wie „Sinnliche Gewissheit“, „Seelige Zeiten - brüchige Welt“ (stark an der Biographie von Georg Lukács orientiert) und „Schubumkehr“ (Bezug auf Flugzeugunglück der Lauda-Air in den frühen 90er Jahren) wieder, die er als „Trilogie der Entgeisterung“ bezeichnete. Seine Romane stehen stark in der philosophischen Tradition Hegels. Ein weiterer Text ist „Die Vertreibung aus der Hölle“, in dem er sich mit seiner eigenen jüdischen Identität sowie der fiktiven Autobiographie des Rabbi Menasse auseinander setzt. Kommentare von Menasse sind fast wöchentlich in der „Presse“ oder im „Standard“ zu finden.

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Robert Schindl wurde durch sein Werk „Gebürtig“ (1992) bekannt, in dem er dem Problem nachging, Jude im Österreich der 50er bis 70er Jahre zu sein. Es findet sich im Text eine starke personelle Verknüpfung mit der Figur des Max Dematt aus Joseph Roths „Radetzkymarsch“. Norbert Gstrein, der anfangs eher unbekannte Bruder des erfolgreichen Skiläufers Bernard Gstrein, behandelt in seinem Werk „Die englischen Jahre“ die Rekonstruktion der Biographie eines fiktiven österreichischen Schriftstellers, Gabriel Hirschfelder, der seit dem Schiffsbruch vor der Küste Neufundlands 1940 verschwunden ist, durch eine junge Frau 50 Jahre später. Gstrein, ein studierter Mathematiker, stellt sich in diesem und anderen Büchern die Frage nach der Wahrheit, der Rekonstruktion sowie Erkennbarkeit der Wahrheit. Christoph Ransmayr begann schon in den frühen 80er Jahren zu schreiben und landete mit dem großen Roman „Die letzte Welt“, der die „Metamorphosen“ des Ovid neu erzählt, einen unerwarteten internationalen Erfolg. Ein Freund von Ovid fährt in dem Stück an das Schwarze Meer, wohin Ovid von Kaiser Augustus verbannt wurde, um ihn zu suchen. Dieser Text vereint antike Elemente, aber auch zeitgenössische wie Telefone oder etwa das Kino. Ein österreichischer Autor, der es nur mit einem Roman zu Erfolg brachte und dann wieder verschwand, ist Robert Schneider mit seinem „Schlafes Bruder“ (1992), der eine Künstlergeschichte in artifiziell altertümlicher Sprache darstellt. Der Protagonist dieses ironischen Werks, das mit Konventionen spielt ist ein genialer Musiker, der von seiner Umgebung zerstört wird. Dieses Werk wurde ursprünglich von keinem Verlag angenommen, außer dem ehemaligen ostdeutschen Reclam-Verlag in Leipzig. Ein Autor, der heute noch produktiv ist, ist Michael Köhlmeier, der v.a. als „mündlicher Erzähler“ durch seine Neuinterpretation der klassischen Sagen der Antike, der Bibel sowie der Nibelungen berühmt wurde. Seine Texte sind gut gebaute Erzählungen, die von den Lesern verstanden werden. Im Roman „Der Musterschüler“ setzte er sich mit seiner eigenen Schulzeit sowie den Erfahrungen im Internat auseinander. Im „Abendland“, einem Muster einer Familiengeschichte, wird die Geschichte des 20. Jhs. aus der Sicht eines 95-jährigen Mathematikers wiedergegeben. Berühmt wurde Köhlmeier durch seine 2 Romane, die sich an Homers Odysseus anlehnen „Telemach“ (1995) und „Kalypso“ (1996). In „Telemach“ geht es um einen Sohn, der seinen Vater sucht und sich dabei von Pallas Athene (Vernunft) emanzipiert und somit Aphrodite (Liebe) und Ares (Krieg) anheimfällt. In „Kalypso“ geht es um die Geschichte von Odysseus und die Frage, warum er von Kalypso weg und wieder zu gealterten Frau Penelope wollte. Die Erzählweise dieser beiden Werke ist gegen die traditionelle Odysseusrezeption und vermischt eine pseudo-antike Welt mit gegenwärtigen Elementen. Autoren, die ca. eine halbe Generation als die eben genannten sind, und ebenfalls berühmt sind wären Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“, „Ruhm“), der in jedem seiner Romane eine neue Erzählweise schafft, Thomas Glavinic sowie Arno Geiger.

KRIMINALROMANE 12. Einheit (Fr., 24. Juni 2011) Krimis sind im 20. Jh. zu einer Schlüsselgattung geworden, doch warum dies geschehen ist, vermag niemand wirklich zu sagen. Kriminalromane waren lange Zeit nicht in der Literaturwissenschaft akzeptiert - v.a. in der Germanistik. Im angelsächsischen Raum wurde diese Gattung früher von ihrem Ruf befreit, weil dort früher als im deutschsprachigen Raum Krimis zu finden waren. Der klassische Krimi ist Schemaliteratur, denn es gibt ein mehr oder minder festes Schema (wie ein internalisiertes Gesetz der Autoren), nach dem Krimis geschrieben sind. © A. Sigmund

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„Verbrecherliteratur“ gibt es schon seit dem 18. Jh., also man ab der Aufklärung ein stärkeres Interesse am irdischen Leben zeigte und Verbrecher nicht nur moralisch-theologisch als Sünder sah, sondern sich mehr um die psychologischen und soziologischen Aspekte kümmerte. Schiller beschreibt in seinem „Verbrecher aus verlorener Ehre“, wie ein Mann von seinem Umfeld zu einem Verbrecher gemacht wurde. In Frankreich wurde damals eine Sammlung an konkreten, historischen Kriminalfällen angelegt (Pitaval), die zahlreichen Autoren als Fundus für ihre Werke diente. Aus diesem gewachsenen Interesse für Kriminalität entstand das Genre der Kriminalromane. Die Vorfahren des Krimis sind schon im 19. Jh. zu finden wie etwa bei ETA Hoffmann, in der „Judenbuche“ von Anette von Droste-Hülshoff oder bei Fräulein von Scudery. Die deutsche Romantik mit ihrem Gespenstischen/Unheimlichen, das durch Vernunft geklärt werden kann, prägte Edgar Allan Poe, der durch seine Kriminalgeschichte - allen voran „The murders in the Rue Morgue“ berühmt wurde. Als erzähltechnisches Mittel setzte er einen Ich-Erzähler ein, der ein Freund des Detektivs Dupin ist und somit nahe am Geschehen, aber nicht direkt daran ist. Dieses Verfahren wurde auch bei vielen weiteren Krimis zahlreicher Autoren angewandt. Einer der ersten Serien-Detektive ist wohl Sherlock Holmes von Sir Arthur Conan Doyle, der um ca. 1900 herausgegeben wurde. Der Ich-Erzähler ist hier ebenfalls nicht der Protagonist, sondern Dr. Watson, Holmes‘ Gehilfe, der nicht so scharfsinnig wie er ist. (Oftmals werden die Ich-Erzähler etwas dümmer als die Leser konzipiert!) Spätestens ab Sherlock Holmes wurde die Detektion, das Aufklären eines Verbrechens durch einen Detektiv, wichtig. Wie auch beim Drama entwickelte sich hier ein analytisches Vorgehen heraus, das sich danach fragt, was in der Vergangenheit passiert ist, damit es gegenwärtig eine bestimmte Situation gibt. Aus dieser Vorgehensweise heraus haben sich beim klassischen Krimi zwei Arten entwickelt: der Whodunnit (Wer hat es getan? - klassisch!) und der Whydunnit (Warum hat jemand etwas getan? - psychologische, soziolinguistische Analyse). Weitaus wichtiger von diesen beiden Unterarten wurde der Whodunnit, der in den 20/30er Jahren des 20. Jhs. durch die beiden Schriftstellerinnen Dorothy Sayers sowie Agatha Christie seine Blütezeit erlebte. Beide führten das alte Schema des Krimis weiter und setzten eine exzentrische Detektivfigur (Sayers: Lord Peter Winsey - Christe: Hercule Poirot, Miss Marple etc.) ein. In den klassischen Krimis lösten stets Laien/Hobbydetektive die Fälle, nicht die Polizei, die meist dumm dargestellt wurde. Der klassische englische Krimi spielt meist im gehobenen Bürgertum (Lords, Adelige etc.) sowie am Land, was ihm v.a. Kritik aus Amerika einbrachte, dass er nicht mit „wirklichen“ Verbrechen arbeite und das 19. Jh. abbilde. Bei Christie kann man jedoch eine leichte Kritik an der upper class finden (social comedy). Interessanterweise schrieben v.a. Frauen Krimis, was auch mit unter ein Grund für die lange Unbedeutendheit in der Literatur gewesen sein konnte. Eine Sonderform des Whodunnit sind die „locked-room-mysteries“, bei denen sich der Mord in einem abgeschlossenen Raum abspielt, in bzw. aus dem anscheinend niemand gelangen konnte. Ein Vertreter hierfür ist der Amerikaner John Dickson Carr, in dessem Werk „The hollow man“ man bereits erstmals die später häufigere Selbstreferenzialität bzw. Metafiktionalität in Krimis finden konnte. (In Carrs Krimi erläutert der Hobbydetektiv der Polizei, welche Möglichkeiten des „lockedroom-mystery“ in der Literatur zu finden sind.) In den USA entwickelte sich in den 30ern ebenso eine Schule des Whodunnits, die jedoch realistischere Verbrechen darstellten wollte und v.a. in der Großstadt spielten, mehr Konkurrenz mit der Polizei aufwiesen und die harte Arbeit der Detektion schilderten. Bekannte Beispiele wären Rex © A. Sigmund

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Stouts „Nero Wolfe“, eine Serie von Krimis, die in New York City spielen, oder etwa Amanda Cross‘ Werke, deren Protagonistin (!) eine Universitätsprofessorin für englische Literatur ist. Aus dieser Richtung heraus entwickelte sich die typisch amerikanische Gattung der hard boiled detective story, die ähnlich dem deutschen Naturalismus versuchten, ein ungeschminktes Abbild der Realität abzuliefern und deren Ich-Erzähler meist die zynischen, desillusionierten Detektive selber waren (anders als im britischen Whodunnit). Ebenso ist die Detektivarbeit der „hart gesottenen“ Detektive weitaus weniger abhängig von der Ratio, sondern vielmehr zufallsgesteuert, denn meist werden sie mit harmlosen Fällen beauftragt, die sich als wahre Intrigen etc. entpuppen. Während in den britischen Krimis die bürgerliche Ordnung, die durch Verbrechen gestört wurde, wieder restauriert wird, hat man es in amerikanischen Krimis mit einer unordentlichen, bösen, korrupten Welt zu tun, in denen die Protagonisten nur ihre Integrität sowie Loyalität gegenüber ihrem Auftraggeber bewahren wollen. In den amerikanischen hard boiled detective stories der 40/50er Jahre wird oft ein frauenfeindliches Bild entworfen. Die Erzähltechnik dieser Untergattung zeichnet sich durch Kombination auf Ich- und neutralem Erzähler aus. Zwei berühmte Autoren dieser Art von Krimis waren die Amerikaner Dashiell Hammett (u.a. „The Maltese Falcon“/Der maltesische Falke, mit Humphrey Bogart verfilmt) sowie der ursprüngliche Brite Raymond Chandler mit seiner Figur des Philipp Marlowe, der ebenso vom Bogart verkörpert wurde. Die beiden stammten wie zahlreiche andere Krimiautoren aus dem Feld des (reportagehaften) Journalismus‘, der sich im Schreibstil der Bücher niederschlägt. Ebenso zu nennen sind hier Ross Macdonald sowie Robert B. Parker (ein Professor für englische Literatur, der seine Dissertation über den Kriminalroman geschrieben hat und dann selber mit dem Schreiben begonnen hat), der seinen Bostoner Detektiv Spencer nicht als einsamen Wolf zeichnet, sondern eine Beziehung haben lässt. Ein weiterer Unterschied zwischen englischen und amerikanischen Detektiven ist der Grad der Gefahr, der sie ausgesetzt sind bzw. die (körperliche) Involviertheit, denn amerikanische Detektive müssen weitaus mehr einstecken als ihre oftmals „geschützt“ agierenden britischen Kollegen. Eine realistischere Art des Krimis sind die in letzter Zeit besonders boomenden Polizeiromane, die durch George Simenons Commissaire Maigret (1920er - 1970er Jahre) besonders geprägt sind, die auch eine durchgehende sozialgeschichtliche Betrachtung Frankreichs liefern. Neben Simenon ist hier auch der beliebte Schwede Henning Mankell mit seinem Kommissar Kurt Wallander zu nennen. Seit 20-30 Jahren boomen auch historische Kriminalromane wie etwa Alice Peters Figur des Mönchs Bruder Cadfael, Umberto Ecos „Im Namen der Rose“ oder Petra Oelkers Krimis, die alle im späten 18. Jh. im Umkreis fahrender Schausteller spielen. Der deutschsprachige Krimi entwickelte sich erst spät, weil er als zu „niedrig“ galt. In den 20er Jahren schrieb der österreichische Journalist Hugo Bettauer bereits Krimis, in denen er sein politisches Engagement verarbeitete. Als „Vater des deutschsprachigen Krimis“ gilt der Schweizer Friedrich Glauser, dem sein Landsmann Dürrenmatt auch als Krimiautor („Der Richter und sein Henker“, „Der Verdacht“) nachfolgte. In Österreich begann dieses Genre erst ab den 70er Jahren zu boomen, wofür v.a. Milo Dor und Reinhard Federmann in den 50er Jahren verantwortlich zeichnen, die beide aus Geldmangel mit Krimis Geld verdienen wollte und sich an Chandler und Hammet, die damals bei uns weitgehend unbekannt waren, orientierten. In der jüngeren Vergangenheit sind u.a. Wolf Haas mit seinen Brenner-Krimis zu nennen, der sich besonders durch seine Sprache auszeichnet (imitierte Mündlichkeit: Erzähler wendet sich dauernd an Leser, Ellipsen, Passepartout-Wörter wie Dings etc.), Ernst Hinterberger mit seinem Trautmann, Stefan Slupetzky mit seinen „Lemming“-Fällen oder Heinrich Steinfest mit seiner Markus ChengReihe oder diversen Krimis. © A. Sigmund

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