Vorlesung

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6. März 2003 ... In diesem überarbeiteten Skript werden neben der klassischen ... Nobelpreis für Physiologie und Experimentelle Medizin 1995 exakt 60 Jahre nach ...... 2) Physiologie (neurale und vegetative Physiologie) und. 3) Anpassung ...
Entwicklungsbiologie Entwicklungsgenetik Entwicklungsphysiologie Horst Grunz

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5. Auflage - Essen 2000

H. Grunz: Entwicklungsbiologie Aktuelles zur Stammzellproblematik S.Seite 146 Erklärung der Abbildungen auf der Titelseite: Abb. A und B: Vorstellungen der Präformisten vom Aufbau des A. Eies (Ovulisten) B. Spermiums (Animalculisten) Es handelt sich hier um die Darstellung der extremsten Form der Hypothese (Einschachtelungstheorie) Abb. C: Plasmid (Vektor in der Gentechnik) In der Mitte, ein symbolischer Vertreter unserer wichtigsten Mitarbeiter, ein männlicher Südafrikanischer Krallenfrosch (Xenopus laevis). Die adulten Weibchen unterscheiden sich von den Männchen durch ihre deutlich umfangreichere Körpergröße und Kloakenpapillen.Die Embryonen (Eier, Larven) dieser Species (Anura [Frosch-lurche], Amphibia) sind im Gegensatz zu unseren einheimischen Molchen (Urodela [Schwanzlurche], Amphibia) und Fröschen das ganze Jahr über unter Laborbedingungen erhältlich. Unter den Wirbeltieren ist die Embryonalentwicklung der Amphibien am besten untersucht. Viele klassische und moderne molekularbiologische Versuche wurden zuerst an Amphibienembryonen durchgeführt. Abb. D Organ-Ersatz (Organ Engineering). Herzstrukturen wurden in Zellkultur erzeugt und einem Frosch-Embryo als Ersatz für eine entnommene Herzanlage eingesetzt (Rescue Experiment) . Diese Forschungsrichtung ist jetzt sehr aktuell. Sie hat das Ziel, experimentell erzeugte Ersatzorgane in Zukunft auch für den Menschen zur Verfügung zu haben. Bei Säugern (im Ausland auch beim Menschen) wird dies mi ttlerweile mit omnipotenten Stammzellen (stem cells) versucht bzw. bereits durchgeführt (siehe S.85) Abb. E Schematische Darstellung der Expression von Genen und sezernierten Proteinen in der frühen AmphibienGastrula. Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung wirken die in der Spemannschen Organisatorregion lokalisierten neuralen Induktionsfaktoren als Inhibitoren vor allem als Antagonisten zu BMP-4. Genauere Beschreibung siehe unter Frühembryonale Induktion (ab Seite 64)

Ein Video-Lehrfilm (40 Minuten) "Amphibienentwicklung und Klassische Versuche" ist gegen einen Unkostenbeitrag im Sekretariat Zoophysiologie erhältlich.

Ausführliches Inhaltsverzeichnis mit Seitenangaben siehe Seite 144 -145 Stichwortverzeichnis ab Seite 149 Besuchen Sie auch unsere Homepage des Faches Zoophysiologie im Internet: http://www.uni-essen.de/zoophysiologie/

Nachweis der Abbildungen: Zu einem großen Teil handelt es sich um selbst gezeichnete Abbildungen (Kopien von farbigen Overhead-Folien, die während der Vorlesung gezeigt werden). Die übrigen Abbildungen sind modifiziert worden nach Vorlagen aus: Spemann: Experimentelle Beiträge einer Theorie der Entwicklung Kühn: Vorlesungen über Entwicklungsbiologie Hadorn: Experimentelle Entwicklungsforschung an Amphibien Duellmann & Trueb: Biology of Amphibians Gilbert: Developmental Biology Wolpert: Principles of Development Die Qualität der ursprünglich zum Teil farbigenAbbildungen kann im Xeroxkopierverfahren nicht erreicht werden. Deshalb weise ich besonders darauf hin, daß die farbigen Original Overhead-Folien während meiner Vorlesung "Entwicklungsbiologie" bzw. "Physiologie der Tiere" gezeigt werden.

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie Vorwort Die vorliegende Einführung ist entstanden in Anlehnung an meine Aufzeichnungen für die Vorlesung "Entwicklungsbiologie" auf wiederholten Wunsch von studentischer Seite. Das Interesse an einer kurzen Einführung besteht deshalb, weil es kein einführendes Lehrbuch in deutscher Sprache gibt, das sämtliche Aspekte der Entwicklungsbiologie (Grundstudium) gleichzeitig abdeckt. Die entwicklungsbiologische Forschung hat in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen (Nobelpreis 1995, s.S.11), da die komplizierten Abläufe während der frühembryonalen Entwicklung heute mittels moderner molekulargenetischer Methoden untersucht werden können. Da viele Fragen der frühembryonalen Entwicklung und Differenzierung von gesellschaftlicher Relevanz und Brisanz sind (s.u.), ist eine differenzierte und sachliche Diskussion dringend erforderlich. Dies ist jedoch nur möglich, wenn man die Materie auch in molekularer Hinsicht wenigstens in den Grundzügen versteht. Dies muß vom zukünftigen Biologielehrer und Ökologen erwartet werden. Bekanntlich werden in der Öffentlichkeit immer wieder Dinge in einen Topf geworfen, die nichts miteinander zu tun haben, z.B. biologisches und molekular-biologisches Klonen, Embryotransfer, Retortenbaby (in vitro Fertilisation oder extrauterine Insemination) und Genmanipulation am Embryo, das menschliche Genomprojekt und der gläserne Mensch, genetisch veränderte Pflanzen und sogenannte genetisch manipulierte Lebensmittel, um nur einige wenige Problemkreise zu nennen. Andererseits erwartet man, daß das Krebsproblem und die AIDS-Problematik von der modernen Wissenschaft möglichst umgehend gelöst wird. Aber gerade die Ursachen für diese Krankheiten können nur durch moderne gentechnische und zellbiologische Methoden nachgewiesen werden. Fundamentalisten und manche Gesunde ignorieren häufig dabei die Tatsache, daß

diese Probleme nur durch Grundlagenforschung (im Verbund mit angewandter Forschung) mittels molekularbiologischer Methoden (verteufelt unter dem Schlagwort: Genmanipulation) gelöst werden können. Es ist in der Öffentlichkeit nicht hinreichend bekannt, daß man bei normalen als auch bei "anormalen" Zellen (Krebszellen) ähnliche Differenzierungsund Regulationsmechanismen vorfindet. Manchmal lassen geringfügige Unterschiede auf unterschiedlichen Ebenen der in der Zelle ablaufenden molekularbiologischen Prozesse aus einer normalen Zelle eine Krebszelle entstehen. Bestimmte Wachstumsfaktoren oder ihre Rezeptoren spielen als Determinationsfaktoren (Festlegung der Differenzierungsrichtung einer Zelle) während der Embryonalentwicklung (normale Zellen) eine zentrale Rolle. Andererseits können geringfügige Veränderungen der Struktur der bei Krebszellen und normalen Zellen vorhandenen Komponenten der Signalkette zur Krebsauslösung führen (Transformation von normalen zu malignen Zellen). Es muß betont werden, daß die gerade auch in Fachkreisen aufgrund zunehmender Spezialisierung betriebene strenge Separation in bestimmte Teildisziplinen der Biologie und Medizin nicht immer bestanden hat. Theodor Boveri erkannte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eindeutige Korrelationen zwischen normaler Zelle und Krebszelle. Zu etwa gleicher Zeit benutzten Ernst Haeckel und viele andere Embryologen Erkenntnisse aus der Entwicklungsbiologie (z.B. Biogenetisches Grundgesetz), um direkte Bezüge zur Evolutionsforschung und Ökologie aufzuzeigen. Ernst Haeckel's (1834-1919) Definition der Ökologie von 1866 hat sicher auch heute noch seine Gültigkeit: Unter Ökologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle "Existenz Bedingungen" rechnen können. Diese sind teils organischer, teils

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie anorganischer Natur. Ich weise besonders darauf hin, daß nicht einmal so sehr der erwachsene Organismus, sondern in besonderem Maße der Embryo (oder Larvenstadien) auf Umwelteinflüsse (Umweltgifte [z.B. Schwermetalle oder Insektizide], bestimmte Viren [Röteln], ionisierende Strahlen [z.B Röntgenstrahlen], Pharmaka [z.B. Thalidomid= Contergan] besonders sensibel reagiert. Das gilt sowohl für Embryonalstadien niederer Organismen als auch für Feten von Säugern und Mensch. Das in der Bevölkerung wohl bekannteste Beispiel für verheerende Auswirkungen bestimmter chemischer Substanzen auf den werdenden Organismus war die Contergan-Tragödie (Wirkstoff: Thalidomid). Während es beim Embryo vor allem zu Extremitätenmißbildungen kam, trug der Erwachsene (Mutter) keine Schäden davon. Bei der ständig steigenden Zahl von negativen Umweltfaktoren, die auf den menschlichen oder tierischen Organismus einwirken, erhöht sich das Risiko , daß es während der Embryonalentwicklung zu dauerhaften Schäden kommt (bis hin zur Veränderung des Erbmaterials [Schädigung der Keimzellen]). In diesem überarbeiteten Skript werden neben der klassischen Entwicklungsbiologie nun auch neueste Erkenntnisse der Entwicklungsgenetik (Molekulare Entwicklungsbiologie - Molekulare Genetik) berücksichtigt, die im Hauptstudium vertieft werden. Die Zahl der Abbildungen ist auf ein Mindestmaß beschränkt, da erläuternde DIAS und farbige Overhead-Folien während meiner Vorlesungen "Einführung in die Entwicklungsbiologie"(Grundstudium) und "Physiologie der Tiere" (Hauptstudium) gezeigt werden. Das wohl bekannteste Experiment in der Biologie, der Spemannsche EinsteckTest(Spemannsches Organisatorexperiment [Hans Spemann and Hilde Mangold, 1924]), für das Speamnn 1935 den Nobelpreis erhielt, ist wieder in das Zentrum

des Interesses vieler international bekannter Arbeitsgruppen gerückt. Es besteht heute die Möglichkeit, die durch dieses Experiment aufgeworfenen Fragen zur Bildung der Grundstruktur des Wirbeltierembryos, der embryonalen Gehirnentwicklung und den dafür verantwortlichen räumlich und zeitlich spezifisch exprimierten Genen mittels molekularbiologischer Methoden zu beantworten. Die Vergabe des Nobelpreises 1995 an die Entwicklungsbiologen Nüsslein-Volhard (Max-Planck Institut für Entwicklungsbiologie, Tübingen), Lewis (USA) und Wieschaus (USA) haben bereits dazu geführt, daß dieses Wissenschaftsgebiet wieder stärker in das Interesse der Öffentlichkeit gerückt ist. Ich hoffe, daß ich dazu beitragen kann, daß das Interesse für eines der faszinierendsten Teilgebiete der modernen Biologie geweckt wird, das in letzter Zeit exponentiell an wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Bedeutung gewonnen hat. Horst Grunz

Essen 2000

Die wichtigsten Techniken und Grundlagen der Gentechnologie werden in meiner Wintervorlesung (Physiologie der Tiere, Hauptstudium*) erläutert. Dazu gehören auch die Struktur und Funktion von Induktions(Wachstums)-faktoren und ihrer Rezeptoren. Diese Kenntnis ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme am Grosspraktikum und den Seminaren im Fach Zoophysiologie. *) Diese Vorlesung befaßt sich mit den prüfungsrelevanten Themen (Staatsexamen und Ökologiediplom): 1. Zellbiologie/Physiologie der Zelle (Bereich A) 2. Phsiologie der Tiere (Bereich C) 3. Entwicklungsphysiologie /Entwicklungsgenetik (Bereich D)

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Amhibien- zentrales Vertebraten- Modellsystem der Entwicklungsbiologie und Entwicklungsgenetik Die Entwicklungsbiologie und Entwicklungsgenetik hat in den letzten Jahren für viele Nachbardisziplinen der Wissenschaft und gesellschaft spolitisch zentrale Bedeutung erlangt. Das wird nur zum Teil dadurch deutlich, daß der Nobelpreis für Physiologie und Experimentelle Medizin 1995 exakt 60 Jahre nach dem Nobelpreis für Hans Spemann an die Entwicklungsbiologen Nüsslein-Volhard, Lewis und Wieschaus vergeben wurde. Abläufe während der frühembryonalen Entwicklung können heute mittels moderner molekulargenetischer Methoden untersucht werden. Der Amphibienembro (Molche und Frösche) ist aufgrund einer über 90jährigen Forschungstradition der am besten beschriebenen Wirbeltierembro. (Experimentelle Untersuchungen und Manipulationen am menschlichen Embro sind bekanntlich nicht erlaubt).Die am Amphibienembro mittels molekularbiologischer (molekulargenetischer) Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse sind sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die angewandte Forschung von weitreichender Bedeutung.

Entwicklungsgenetik und Evolution - eine zweite biologische Revolution nach Darwin Durch die Molekularbiologie haben sich in den letzten Jahren völlig neue Perspektiven eröffnet, die die alten Traditionen zur Zeit Ernst Haeckels und Charles Darwin (Verknüpfung von Embryogenese und Evolution (Ontogenese und Phylogenese) wiederaufleben lassen und grundlegend erweitert haben. So konnte gezeigt werden, daß bestimmte Gene (vor allem Gene mit Homeobox und anderen konservierten Basensequenzenen), die während der Embryogenese für die Bildung der Körpergrundgestalt verantwortlich sind, bei vielen Tierklassen zu finden sind. So ist das Gen Cerberus (in der antiken Mythologie ist Cerberus der vielköpfige Höllenhund) sowohl bei Xenopus (Krallenfrosch) als auch bei der Maus verantwortlich für die Bildung der Kopfregiondes Embryos bei ( Piccolo, S., Agius, E., Leyns, L., Bhattacharyya, S., Grunz, H., Bouwmeester, T. and DeRobertis, E. M. (1999). The head inducer Cerberus is a multifunctional antagonist of Nodal, BMP and Wnt signals. Nature 397: 707-710). Belo, J. A., Bouwmeester, T., Leyns, L., Kertesz, N., Gallo, M., Follettie, M. and DeRobertis, E. M. (1997). Cerberus-like is a secreted factor with neuralizing activity expressed in the anterior primitive endoderm of the mouse gastrula. Mechanisms of Development 68: 45-57.

Entwicklungsgenetik und Paläontologie Weiterhin sind bestimmte Gene, die bei Wirbeltieren (Vertebrata) die zukünftige Dorsalseite (Rücken) programmieren, bei Nichtwirbeltieren (Evertebrata, z.B. Fliege- Drosophila) für die Determination der Ventralseite

(Bauch) und vice versa verantwortlich. Daraus wurde geschlossen, daß Evertebrata und Vertebrata (Protostomia bzw. Deuterostomia) während der Evolution nicht völlig unterschiedliche Entwicklungsprinzien etabliert haben, sondern wahrscheinlich auf eine gemeinsame Stammform, die Urbilateralia (vor 300-600 Millionen Jahren) zurückgehen. (DeRobertis EM and Sasai, Y (1996): A common plan for dorsoventral patterning in Bilateralia. Nature 380, 37-40 (siehe auch Abb. 69 ).

Entwicklungsgenetik revolutioniert die traditionelle Zoologie - Neudefinition der Homologie/AnalogieBegriffe Durch Prof. Walther Gehrings Team in Basel (den meisten bekannt als Mitautor[Wehner und Gehring] des Lehrbuchs: Zoologie) konnte gezeigt werden, daß bestimmte traditionelle Auffassunegen zur Homologie- und Analogie-Forschung neu überdacht werden müssen. Die Entwicklung aller im Tierreich einschließlich Mensch vorkommenden Lichtsinnesorgane (vom primitiven Grubenauge bis zum hochentwickelten Linsen- oder Komplexauge) werden von einem hochkonservierten "Master"-kontrollgen (Pax-Gen und Homologe) gesteuert bzw. eingeleitet. Damit müssen die Begriffe der konvergenten Entwicklung bzw. Homologie/Analogie neu definiert werden. Eines der bekanntesten Beispiele für Analogie (Konvergenz)in der traditionellen Zoologie ist die Entwicklung des Tintenfischauges im Vergleich zum Wirbeltierauge.Konrad Lorenz (Nobelpreis für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Verhaltensforschung[Ethologie]) hatte noch 1978 die Augenbildung bei beiden Tierklassen als konvergente Entwicklung beschrieben (siehe Abb. 1 ). Nach neuesten Erkenntnissen in Bezug auf das "Ur"gen Pax würde es sich bei diesen Augentypen nicht um analoge sondern um homologe Strukturen handeln (Abb.1 und 2).

Embryonale Klonierung - die klonierten Frösche das Schaf Dolly Ein weiteres wichtiges Gebiet der Enwicklungsbiologie und -genetik ist die Klonierung von Embryonen aus Kernen von ausdifferenzierten, somatischen Zellen (adulten Geweben). Dies gelang zuerst an Fröschen, 20 Jahre vor der Klonierung des Schafes Dolly (siehe unter Kerntransplantation, Abb. 84, 85).

Organ Engineering - experimentell produzierte Organe Für die Medizin von großem Interesse ist die experimentelle Produktion von Geweben und Organen. Es ist bereits möglich, Haut unter Zellkuturbedingungen zu züchten. Diese kann dann z.B. bei Verbrennungen als Hautersatz verwendet werden. Am Amphibien-Modellsystem ist es bereits in unserem Labor gelungen, experimentell Herzstrukturen unter Zellkulturbedingungen zu produzieren (Abb. 77).

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Abb.1 Tintenfisch- und Wirbeltierauge imVergleich im Buch von Konrad Lorenz: "Vergleichende Verhaltungsforschung". In traditioneller Sicht ist dies das Standardbeispiel für Konvergenz und analoge Entwicklung. Die moderne Entwicklungsgenetik hat jedoch gezeigt, daß zu Beginn der Embryonalentwicklung die Determination beider Augentypen vom gleichen Masterkontrollgen Pax 6 programmiert werden. Abb. 2 Pax 6- Genexpression in der Zukünftigen Gehirnund Augenregion beim Krallenfrosch (Xenopus laevis) und dem Bergmolch (Triturus alpestris). Durch sogenannte Whole mount in situ Hybridisierung kann die Pax 6-mRNA sichtbar gemacht werden. Der Nachweis wurde hier an frühen Neurulae duchgeführt, einem Zeitpunkt an dem das Zwischenhirn (Diencephalon) und die beiden Augenbecher angelegt werden. Die Sterne kennzeichnen die zukünftige Linsenregion des Auges.

Abb. 2

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Hinweise zum Videofilm "Entwicklungsbiologie der Amphibien" erhältlich im Sekretariat Zoophysiologie (kurze Sequenzen sind auch auf der WEB-site der Zoophysiologie (http:// www.uni-essen.de/ zoophysiologie) zu sehen. Im Video wird die Normalentwicklung der Amphibien (Bergmolch) und die wichtigsten klassischen entwickllungsbiologischen Experimente und Zellaffinitätsversuche gezeigt. Sie stellen die Basis für das Verständnis molekularbiologischer (molekulargenetischer/ entwicklungsbiologischer) Zusammenhänge dar. Das wohl bekannteste Experiment in der Biologie, der Spemannsche Einsteck-Test(Spemannsches Organisatorexperiment [Hans Spemann and Hilde Mangold, 1924]), für das Spemann 1935 den Nobelpreis erhielt, ist wieder in das Zentrum des Interesses vieler international bekannter Arbeitsgruppen gerückt. Es besteht heute die Möglichkeit, die durch dieses Experiment aufgeworfenen Fragen zur Bildung der Grundstruktur des Wirbeltierembryos, der embryonalen Achsenorgane und den dafür verantwortlichen räumlich und zeitlich spezifisch exprimierten Genen mittels molekularbiologischer Methoden zu beantworten( s.Abb. 63). Durch unsere eigenen Arbeiten konnten wir dazu beitragen, daß Gene und ihre Produkte gefunden wurden, die antagonistisch zum Spemannschen Organisator fungieren. Wichtige Informationen zur Gesamtproblemematik enthält der Reviewartikel: Grunz,H. (1997) Neural induction in amphibians. in „Current Topics in Developmental Biology“, Vol 35:191-228 (ed. R.Pederson and Gerald Schatten, Academic Press).

Zum Videofilm Eine Reihe von Aufnahmen sind bereits vor über 20 Jahren mit einer Leicina-Spezial-Zeitrafferanlage entstanden (siehe auch technische Details). Das gesamte Material ist dann 1997 auf Videofilm umkopiert worden und in Zusammenarbeit mit dem Medienzentrum der Universität GH Essen mit zusätzlichen Echtzeitaufnahmen, Animationen und Kommentar ergänzt worden. Es handelt sich teilweise um einmaliges historisches Material:

place afterdisaggregation and delayed reaggregation without inducer. Cell Diff.&Develop. 28, 211-218; Grunz, H. and Tacke, L. (1990 ) Extracellular Matrix Components Prevent Neural Differentiation of Disaggregated Xenopus Ectoderm Cells. Cell Differentiation and Development, 32, 117-124). Diese Arbeiten mit Krallenfroschembryonen waren richtungsweisend für Forschungen in viele Laboratorien. Es konnte gezeigt werden, daß Gene und ihre Produkte wie BMP-4 und vent-1 auf der zukünftigen Ventralseite des Embryos exprimiert werden, die als Antagonisten zu Genen fungieren, die ausschließlich oder überwiegend im Spemannschen Organisator aktiviert werden. Ähnliche Gene und ihre Produkte sind auch bei der Fliege und Maus für die Festlegung der Körpergrundgestalt verantwortlich (Abb.119). Technische Details Zeitraffung: 2 Einzelbilder pro Minute. Entwicklungszeiten der Embryonen (Alpen-bzw. Bergmolch - Trirturus alpestris) bei 18˚°C: ungefurchtes Ei bis zur Morula: 17 Std, ungefurchtes Ei bis frühe Gastrula: 33 Std. Gastrula bis mittlere Neurula: 74 Std. bis Schwanzknospe:94 Std bis zur schwimmfähigen Larve (bis zum Schlüpfen aus der Gallerthülle): 11 Tage Die Mikrooperationen in Echtzeit wurden von mir bei gleichzeitiger Präparation und Auslösung per Fußschalter gefilmt (also notgedrungen mit geringstem personellen Aufwand; nicht wie in Hollywood) Dunkelfeldaufnahmen mit Leitz Orthoplan, Phasenkontrast mit Inversionsmikroskop, Mikrooperationen mit Stereomikroskop (Carl Zeiss), Film: Kodak Super 8, Umkopiert auf Videomaterial und elektronisch im Medienzentrum unserer Hochschule bearbeitet. Von dem Mastertape wurden Kopien in PAL-, NTSC- und SECAM-Versionen gezogen. (erhältlich gegen einen Unlostenbeitrag im Sekretariat Zoophysiologie)

1. Einsteckversuch des ersten in hochangereicherten Wachstumsfaktor (Induktionsfaktor): Vegetalisierender Faktor, heute als Aktivin bekannt. Er kann jetzt gentechnisch synthetisiert werden (siehe unter Frühembryonale Induktionsfaktoren). 2. Sandwich-Versuch mit Vegetalisierender Faktor. Erstmalige Beschreibung der Länssstreckung von mesodermal induziertem Ektoderm, das sich wie isolierte Spemannsche Organisatorregion verhält: Umprogrammierung von Ektoderm - statt zu Epidermis entwickelt es sich zu Muskulatur und Chorda. 3.Disaggregations-und Reaggregationsversuche, die 1989 zeigen konnten, daß sich Ektodermzellen nach transienter Disaggregation in Einzelzellen zu Gehirnstrukturen differenzieren (Grunz H, Tacke L (1989) Neural differentiation of Xenopus laevis ectoderm takes

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Niemals werden wir mit der Erforschung des Lebens endgültig abschließen , und wenn wir einen vorläufigen Abschluß zeitweise versuchen, so wissen wir doch sehr wohl, daß auch das Beste , was wir geben können , nicht mehr bedeutet, als eine Stufe zum Besseren Besseren. August Weismann in: "Vorträge einer Deszendenztheorie", 1904 gehalten in Freiburg i.Br.

Abb. 3 Hans Spemann (etwa 1924 in Freiburg)

Nobelpreis-Urkunde 1935 7

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Besuchen Sie auch unsere Homepage des Faches Zoophysiologie im Internet: http://www.uni-essen.de/zoophysiologie/ WWW: http://www.uni-essen.de/fb9/ zmimophysiologie/

Abteilung Zoophysiologie http://www.uni-essen.de/ zoophysiologie/

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Entwicklungsbiologie Entwicklungsgenetik Entwicklungsphysiologie Horst Grunz

5.Auflage, Essen 2000

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Morphologie und Anatomie Evolution

Zellbiologie Ökologie

Paläontologie Physiologie Entwicklungsbiologie Embryologie (Ontogenese und Phylogenese) Entwicklungsphysiologie Molekulargenetische Entwicklungsbiologie

Genetik (Cytogenetik)

Biochemie Molekularbiologie Molekuare Genetik

Teratologie Pathologie Krebsforschung

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Inhaltsverzeichnis Ausführliches Inhaltsverzeichnis mit Seitenangaben siehe Seite 144- 145 Stichwortverzeichnis ab Seite 150 1. 2. 3a. 3b. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Geschichtliches Keimzellen-Lokalisation Spermatogenese Oogenese Befruchtung Entwicklungstypen der Keime Seeigel Amphibien Klassische Versuche Insekten Vögel Säugetiere Grundlagen der Molekularbiologie (Molekulargenetische Embryologie)

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Molekulare Entwicklungsbiologie und Entwicklungsgenetik, zentrale Themen in Wissenschaft und Gesellschaft A. Nicht Gentechnik

C. Nicht Gentechnik (gefährlich)

1.Organisator-Experiment (Spemann, Nobelpreis 1935) 2.Schnürversuche 3.Kerntransplantation 4.Extrauterine Insemination ("Retortenbaby") 5.Biologisches Klonen und Embryonentransfer a) mikrochirurugische Blastomeren-Separation b) Superovulation c) Chimären (verschiedene Spezies, z.B."Schiege") d) Kombination von Blastomeren mehrerer Zygoten 6. Amniocentese oder Chorionzottenbiopsie (s.auch "Gentechnik nützlich", Punkt 9

1.Teratogene a) Pharmaka (z.B.Thalidomid [Contergan]) b) Alkohol c) Nikotin 2. Pathogene Bakterien für die biologische Kriegsführung (z.B.Milzbrandbakterien) 3. Giftgas 4. Lebensmittelzusätze und Verunreinigungen des Trinkwassers 5. Luftverschmutzung 6. Züchtung von Monster-Tieren 7.Radioaktive Strahlung (zu viel, zu lang) a) Röntgendiagnose (zu häufig, defekte Geräte) b) Forschung (Gefährdung nur bei unsachgemäßen Umgang) 8. Tiermehl-Verfütterung (s. Punkt 9)

B. Gentechnik (nützlich)

D. Gentechnik (gefährlich)

Gentechnik in der Industrie (Beispiele) 1.Pharmaka-Herstellung (z.B.Insulin) 2. Reindarstellung von Proteinen für die Grundlagenforschung 3. Enzyme für die Lebensmittel-Herstellung (z.B.Fermente für die Käsezubereitung) Gentechnik in der Landwirtschaft 1.Transgene Tiere (s. aber Punkt C6) 2.Transgene Pflanzen Gentechnik in der Biologie und Medizin 1.Entwicklungsbiologieund Embryologie (Nobelpreis 1995) 2.Molekulare Evolution 3.Populationsgenetik 4.Paläontologie 5.Anthropologie 6.AIDS und andere Immunkrankheiten 7.Krebsproblematik 8.Genomprojekt (Kartierung desmenschlichen Genoms 9. Perinatale Diagnostik (siehe auchAmniocentese oder Chorionzottenbiopsie) 10. Gentherapie(siehe aber unter "Gentechnik gefährlich", Punkt 2) 11. Kriminaltechnische Untersuchungen (Vaterschaftsnachweis, Tätersuche bei Vergewaltigung und/oder Mord)

1. Mutwillige Umwandlung harmloser Bakterien in pathogene Organismen 2. Manipulation an menschlichen Embryonen, und zwar unkontrollierter Eingriff in die Erbinformation (Erarbeitung von Richtlinien durch Ethik-Kommissionen)

E. Tierversuche Alternative Methoden 1.Gewebekulturen (aber nur begrenzt einsetzbar) 2. Multimedia-Techniken (Audio/Video) Ganztierversuche (notwendige Tests) Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Körperregionen und Organen (Beispiele) a)Wechselwirkungen zwischen Zentralnervensystem und Zielorganen b) Wirkungsweise von Hormonen c) Entstehung von Krebszellen (z.B. Krebsvorläuferzellen während der Embryonalentwicklung (Gehirntumore) d) Immunologische Prozesse (z.B.Allergien, AIDS, Organtransplantationen)

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Literatur WILLIAMS, PATIENT: Gentechnologie, Thieme Verlag 1991.

(die mit c gekennzeichneten Bücher sind für den Einstieg in die Materie; die mit * sind für weiterführende Studien und das Hauptstudium besonders zu empfehlen. Die nicht gekennzeichneten Bücher sind als Ergänzung für bestimmte Teilgebiete der Entwicklungsbiologie geeignet). HADORN: Experimentelle Entwicklungsforschung. Verständliche Wissenschaften, Springer Verlag 1981. c

WATSON, GILMAN, WITKOWSKI, ZOLLER: Rekombinierte DNA, 2. Auflage Spektrum Akademischer Verlag GmbH. Heidelberg, Berlin, Oxford 1993. c bis * BROWN, T.A. Gentechnologie für Einsteiger. Sepektrum Verlag 1995 EDE: Eine Einführung in die Entwicklungsbiologie, Thieme Verlag. c

GILBERT: Developmental Biology, Fifth Editon 1997. Sinauer Associates, Inc. Sunderland, Massachussetts. c ALBERTS/BRAY/LEWIS/RAFF/ROBERTS/WATSON: Molecular Biology of the Cell.. Neueste Auflage * Deutsche Version: Molekularbiologie der Zelle, Übersetzung der engl. Version MÜLLER: Entwicklungsbiologie UTB, Gustav Fischer Verlag 1995. c

KÜHN : Vorlesungen über Entwicklungsphysiologie, Springer Verlag 1965.

MÜLLER: Developmental Biology , Springer Verlag, 2.Auflage. 1999.

Brown, T.A. Gentechnik für Einsteiger, Spektrum Verlag 1995 c

STARCK: Embryologie, Thieme Verlag Stuttgart 1975. * Wolpert, L.: Principles of Development. Current Biology LTD./ Oxford University Press. 1998.

TUCHMANN-DUPLESSIS: Embryogenesis, Illustrated Human Embryologie, Springer, Chap- DEVELOPMENTAL BIOLOGY IN GERMANY man & Hall 1972. Sonderheft der wissenschaftlichen Zeitschrift International Journal of Developmental Biology. GOERTTLER: Entwicklungsgeschichte des Men- Herausgeber: M.Trendelenburg und H.Grunz schen, Springer Verlag 1950. (1996). BRACHET: Introduction to Molecular Embryology, Springer Verlag 1973. LANGMAN: Medizinische Embryologie. Thieme Verlag 1976. c * BALINSKI: An Introduction to Embryology, Saunders Co. 1981. Thieme Verlag 1981.

enthält 16 "historische" Artikel über die Entwicklungsbiologie in Deutschland, einschließlich Review-Artikel: Grunz (1996) Factors responsible for the establishment of the body plan in the amphibian embryo und ein Interview-Artikel mit dem Pioneer der molekularen Entwicklungsbiologie Prof.Dr.Dr.Heinz Tiedemann (Schüler des Nobelpreisträgers Otto Warburg): Grunz: The long road to chemical and molecular embryology. What amphibians can teach us on differentiation.

(weitere Hinweise auf der Homepage des Faches Zoophysiologie im Internet: BRESCH, HAUSMANN: Klassische und molekulare http://www.uni-essen.de/zoophysiologie Genetik. BROWDER: Developmental Biology. Holt-Saunders International Editions. WEHNER, GEHRING: Zoologie, Thieme Verlag 1990.

GRUNZ,H.(1997) Neural induction in Amphibians. In: "Current Topics in Developmental Biology" Academic Press (Ed. Pederson and Schatten)

SCHARF, WEBER: Fortpflanzung und GRUNZ,H. (1999) Gene expression and pattern Entwicklung, Materialien für die Sekundarstufe II formation during early embryonic development. (Biologie) Schroedel Verlag. Neueste Auflage c im Druck. 13

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Einige wichtige Daten zur Entwicklungsgeschichte und Entwicklungsphysiologie 1687:

MARCELLO MALPIGHI (16281694) „Opera omnia“: Entwicklung von Insekten.

384 - 322 v. Chr.:

1580:

1651:

1665:

Aristoteles: Entwickelt Vorstellungen, 1688:

N. MALEBRANCHE (1638-1715)

daß die (Embryonal)Entwicklung die

Verfechter der Präformationslehre.

Neubildung einer vorher noch nicht 1701:

Der Hildesheimer Arzt ALBRECHT

bestehenden Mannigfaltigkeit sei.

beobachtet erstmals Parthenogenese

[Schon sehr ähnlicher Standpunkt wie

bei Schmetterlingen.

der Epigentiker C.F.Wolff (1733- 1758:

JACOBI: Künstliche Befruchtung bei

1794) FABRICIUS AB AQUAPENDENTE 1759:

Fischen. C. F. WOLFF (1733-1794) „Theoria

(1537-1619) Vergleichende Embryo-

generationis“ widerlegt die Lehre von

logie der Haie, Reptilien, Vögel und

der Präformation und stellt dafür die

Säuger.

Lehre von der Epigenesis auf. Epige-

WILLIAM HARVEY(1578-1657)

netiker.

„Exercitationes de generatione anima- 1762:

CH. BONNET (1720-1793) entdeckt

lium“: Alle, auch vivipare Tiere, ent-

die Parthenogenese bei Blattläusen.

wickeln sich aus Eiern. Der Hühne-

Extremster Vertreter der Präformati-

rembryo entsteht aus der Kernscheibe.

onslehre (Einschachtelungstheorie)

Entdecker des Blutkreislaufes. Epige- 1780:

L. SPALLANZANI (1729-1799)

netiker.

Künstliche Befruchtung bei Seiden-

REGNIER DE GRAAF (1611-1673)

spinnern und Amphibien.

beschreibt die nach ihm benannten 1786:

Widerlegt SPALLANZANI die Lehre

Follikel fälschlich als Eier der Säuge-

von der Urzeugung. 1799-1830: CUVIER. Begründer der vergleichen-

tiere. 1669:

JAN SWAMMERDAM (1637-1685)

den Anatomie

„Allgemeene verhandeling van bloede- 1815:

A. v. CHAMISSO (1781-1838) Gene-

lose diertjens“. Präformist. Auswick-

rationswechsel der Salpen.

lung - Ausschlüpfen von Insektenlar- 1817: ven. Sein Verdienst: Widerlegung der

H. C. PANDER (1794-1858) „Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des

Urzeugung.

Hühnchens im Eye“. Unterscheidet 3

1677-1678:LEEUWENHOEK entdeckt die Sper-

Keimblätter.

matozoen. Konstukteur des ersten 1821:

H. FR. MECKEL (1781-1833) beto-

Mikroskops.

die Parallelität von Ontogenese und

14

VorlesungNeu PM76.März2003

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06.03.2003, 22:26 Uhr

H. Grunz: Entwicklungsbiologie

1825:

Phylogenese. Anhänger der Lamarck- 1859:

CHARLES DARWIN: On the orign

schen Theorie (Meckelsches Rekapi-

of species by means of natural selecti-

tulationsgesetz).

on (Die Entstehung der Arten durch

J. E. PURKINJE (1787-1869) entdeckt die Keimscheibe im Vogelei.

1827:

1828-37:

natürliche Zuchtwahl). 1864:

FRITZ MÜLLER (1821-1897) weist

KARL ERNST von BAER (1792-

darauf hin, daß die Ontogenese ein

1876) entdeckt das Ei im Graafschen

mehr oder weniger treues Abbild der

Follikel des Hundes. „De ovi mamma-

Phylogenese ist.

lium et hominis genesi“Begründer der 1864:

D. J. PISSAREW „Das Leben des

modernen Embryologie). do.: „Über Entwicklungsgeschichte der

Embryos als kurze Geschichte und Ahnentafel der betreffenden Art“.

Tiere. Beobachtung und Reflexion“.

1866:

ERNST HAECKEL (1834-1919) „Ge-

1835:

do: „Untersuchungen über die Ent-

nerelle Morphologie“, Ontogenie und

wicklungsgeschichte der Fische“.

Phylogenie. Biogenetisches Grundge-

1830:

JOHANNES MÜLLER (1801-1858)

setz. [Die von Haeckel mit dem Bioge-

„Bildungsgeschichte der Genitalien

netischen Grundgesetz vertretene Mei-

aus anatomischen Untersuchungen an

nung steht im Gegensatz zu der von

Embryonen des Menschen und der Tiere“. Müllersche Gang.

Ernst von Baer vetretenen Auffassung] 1866-71:

A. KOWALEVSKY (1840-1901)

1833:

BISCHOFF entdeckt die Blastogene-

Grundlegende Arbeiten über die Ent-

se des Säugereis.

wicklung der Tunicaten des Amphio-

1833:

C. TH. von SIEBOLD (1804-1885)

xus, Ctenophoren, Arthropoden. Er-

Entwicklungsgang der Trematoden.

kennt die Bedeutung der Gastrula. Be-

1837:

S. LOVEN (1809-1895) Generations-

nen der Honigbiene entwickeln sich 1875: aus unbefruchteten Eiern.

gründer der Keimblättertheorie. J. J. METSCHNIKOFF (1845-1916) Entwicklungsgeschichte zahlreicher Wirbelloser . Keimblätterlehre bei Arthropoden, Mollusken, Echinoder men, Tunicaten. Gebrüder HERTWIG (OSKAR u. RICHARD) Befruchtungsvorgänge am

ALLMAN bezeichnet das äußere

Seeigelei.

wechsel Polyp-Meduse. 1844:

ab 1864:

A. v. KOELLIKER (1817-1906) definiert das Ei als Zelle.

1815:

1853:

J. DZIERZON (1811-1906) Die Droh-

Keimblatt als Ektoderm; das innere 1848-1920 O. BÜTSCHLI beobachtet die Vereials Entoderm 1854-1863 G.MENDEL: Verbungsgesetze

nigung von Ei und Spermatozoon bei Anguillula rigida. 15

VorlesungNeu PM76.März2003

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

1878: 1881-85:

B. KATSCHEK „Trochophoratheo- 1924:

SPEMANN H. und HILDE MAN-

rie“.

GOLD: Nachweis des Organisatoref-

A. WEISMANN (1834-1914) Theo-

fektes

rie von der Unsterblichkeit des Keim- ab 1924:

OTTO MANGOLD: Prinzipien der

plasmas und dessen Kontinuität in der

Amphibienentwicklung (z.B. homoi-

Keimbahn, Bedeutung der Reduktions-

ogenetische Induktion) 1934:

teilung.

HÄMMERLING,J.: Bedeutung des

W. ROUX (1850-1924) begründet die

Zellkerns und seiner Produkte (mRNA)

Entwicklungsphysiologie.

für die Bestimmung des Phänotyps bei

HANS DRIESCH (1867-1941) „Entwicklungsmechanische Studien“.

der Schirmalge (Acetabularia mediterrania un A. crenulata)

Theorie der organischen Entwicklung. 1935:

SPEMANN erhält Nobelpreis für Ex-

O. SCHULZE Die künstliche Erzeu-

perimentelle Medizin

gung von Doppelbildungen bei Am- ab 1940:

BRACHET,

phibien.

NEEDHAM Vertreter der Chemi-

TH. BOVERI (1862-1915) Soma und

schen Entwicklungsphysiologie

Propagationszellen von Ascaris.

HOLTFRETER: Zellaffinität, aber

1895:

dto.: Furchung kernloser Seeigeleier.

auch viele andere Fragen der frühem-

1899:

F. SCHAUDINN (1871-1906) Gene-

bryonalen Entwicklung

1884: ab 1891:

1894:

1895:

rationswechsel der Protozoen.

ab 1955:

WADDINGTON,

BRIGGS, KING: Spezifität der Kern-

H. SPEMANN (1869-1941) Beginn

funktion während der frühembryona-

der Experimente am Molchei. 1935

len Entwicklung. Kerntransplantation-

Nobelpreis für Medizin

sexperimente

1899:

Defektversuche am embryonalen

GURDON: Transplantation von Zell-

Amphibienauge.

kernen aus Geweben von Larvensta-

1897:

HERLITZKA: Sullo sviluppo di em-

dien und Epithelzellen adulter Frö-

brioni completi da blastomeri isolati

sche in Amphibienoozyten. Biologi-

die uova di tritione (Molge cristata).

sches Cloning= experimentelleProduk-

A. N. SEWERZOW „Etüden zur Evolutionstheorie. Individuelle Entwick-

tion von vielen Fröschen (mehr als 20) mit identischen Erbmaterial (wie bei

lung und Evolution“. Iswestija

eineiigen Zwillingen)

ab 1897:

1912:

1923:

Univ.Kiev

MINTZ, ILMENSEE: Kerntransplan-

VOGT: Farbmarkierungen bei Am-

tation bei Mäusen, Insekten oder Tera-

phibien

tocarcinoma-Zellen.

16

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

.

ab 1956:

LOPASHOV:

Entwicklung des

Wirbeltierauges. Transdifferenzierung

Genexpression am

HÖRSTADIUS: Seeigelentwicklung

Xenopus laevis = Südafrikanischer

MOSCONA. Probleme der Zellaffini-

Krallenfrosch

tät (Zellerkennung), vor allem an ab 1985:

DAWID,ASASHIMA,SMITH,

Warmblütern (Huhn, Säugetiere)

SLACK, MELTON, GURDON,

NAKAMURA, NIEUWKOOP: Bil-

DeROBERTIS,

dung des Mesoderms während derAm-

KIMELMAN; KNÖCHEL, TIEDE-

Modellsystem

KIRSCHNER,

phibienentwicklung

MANN, GRUNZ u.a.: Lokalisation und

SAXEN und TOIVONEN 2-Gradientenhypothese

Wirkungsweise von Wachstumsfaktoren [bzw. frühembryonale Determinationsfakto-

TIEDEMANN: Isolierung von em-

ren z.B. Vegetalisierender Faktor , XTC-MIF

bryonalen Induktionsfaktoren. Vege-

(Rohfraktion aus Überständen einer permanenten Zellinie von Xenopus [biologisch

talisierender Faktor. Der erste in hoch-

aktive

angereicherter Form isolierte Wachs-

vegetalisierenden Faktor: Aktivin])und andere Faktoren der TGF (Transformierender

tumsfaktor (mesodermaler Induktions-

Komponente

wie

bei

dem

faktor), identisch mit Aktivin (Vertreter

Wachstumsfaktor)- und FGF (Fibroblastenwachstumsfaktor)-Superfamilie] während der

der TGFß-Superproteinfamilie).

Embryogenese. Räumliche und embryonal-

YAMADA: Anreicherung eines mesodermalen Induktionsfaktors

aus

Meerschweinchenknochenmark. Mechanismen der Augenlinsenregenera-

ab 1972

und embryonalstadien-spezifische

stadienspezifische Lokalisation mesodermaler, neural spezifischer oder homeobox– enthaltender Gene. Bildung des Zentralnervensystems und der übrigen Organsysteme der Vertebraten. Determination der

tion (Wolff'sche Linsenregeneration)

dorsoventralen und anteroposterioren Körperachsen. Bedeutung von Protooncoge-

Molekulargenetische Embryologiefor-

nen und Oncogenen ("Krebsgenen") für die

schung

Steuerung und Kontrolle der Differenzierung.

(Herstellung der ersten rekombinanten DNA-Moleküle und Untersuchun- 1995 gen über embryonalspezifische Genexpression) NÜSSLEIN-VOLHARD, JÄCKLE, GRUSS, GEHRING u.a. (Modellsysteme: Maus und Drosophila) 1983:

DAWID und SARGENT: Räumliche

Nobelpreis für die Entwicklungsbiologen Christiane Nüsslein-Volhard, Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie,Tübingen, Edward B.Lewis (USA) und Eric Wieschaus (USA) Molekulargenetische Mechanismen der Embryonalentwicklung bei Drosophila. 17

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Der Begriff Entwicklung für Embryonalenetwicklung (Ontogenese=Individualentwicklung) ist im Englischen eindeutig definiert, nämlich Development. Dagegen kann im Deutschen unter Entwicklung auch Evolution gemeint sein, d.h. Phylogenese= Stammes(entwicklungs)geschichte. Der Begriff Evolution (Ausrollung) hat heute eine andere Bedeutung (Begriff für Stammesentwicklung).

Welche praktische Bedeutung hat die Untersuchung der frühembryonalen Entwicklung? 1. Verständnis der Mißbildungsentstehung (Teratologie) a) Embryonalentwicklung unter der Wirkung äußerer Einflüsse → Pharmaka, Umweltgifte b) innere Ursachen (genetische Ursachen) auch diejenigen, die nicht durch Umwelteinflüsse bewirkt wurden. 2. Verständnis der Krebsentstehung (Krebspro– blem) 3. Produktion von Organen (Leber, Herz, Niere etc.) unter experimentellen Bedingungen als "Ersatzteile" für krankhafte Organe. engl.: Organ Engineering

gie) und Entwicklungsphysiologie (Funktionelle Embryologie). Definition: Entwicklungsbiologie beschäftigt sich mit der Aufklärung der morphologischen und molekularbiologischen Prozesse während der Embryonalentwicklung (Individualentwicklung= Ontogenese). Die Entwicklungsbiologie steht in enger Beziehung zu den Nachbardisziplinen Evolutionsbiologie und Genetik. Entwicklungsgenetisch arbeitende Laboratorien verwenden diese und weitere Untersuchungsmethoden gleichzeitig. Historisch gesehen ergibt sich folgendeGiederung: I. Deskriptive Embryologie ( 16., 17., 18. und 19. Jahrhundert) II. Vergleichende Embryologie makroskopische und mikroskopische Beobachtung (ab17 .Jahrhundert) Im 20. Jahrh. → Elektronenmikroskopie (Ultrastrukturforschung) III. Experimentelle Embryologie Höhepunkt: Spemanns und Hilde Mangolds Organisator-Experiment, für das Spemann 1935 als erster Zoologe den Nobelpreis für Physiologie und Experimentelle Medizin erhielt.

Die moderne Naturwissenschaft beginnt im 17. IV. Chemische Embryologie Jahrhundert mit Galilei, Keppler, Newton, u.a.m.. Waddington, Brachet ab 1930]

[Needham,

Von der deskriptiven zur molekularen EmV. Molekulare-Embryologie → Gentechnobryologie logie Rekombinante DNA-Methodik - Molekulare Genetik Die Klärung der Abläufe und Prozesse von der Eizelle zum Embryo und zum adulten Organismus Heute wird die frühembryonale Entwicklung mit waren und sind das Ziel der klassischen und moHilfe aller 5 Untersuchungsmethoden erforscht. dernen Embryologie und molekulargenetischen Entwicklungsbiologie. Bedeutende Vertreter der Deskriptiven EmbryoloDie Entwicklungsbiologie kann man unterteilen in gie waren Aristoteles (384-322 v. Chr.) und CasEntwicklungsgeschichte (Deskriptive Embryolopar Friedrich Wolff (1753-1794). Diese postulier-

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

ten (man kann beide als Epigenetiker bezeichnen), daß es während der Embryonalentwicklung zu einer → Neubildung einer vorher noch nicht bestehenden Mannigfaltigkeit im Gegensatz zu der Auffassung der Präformisten kommt. Sie stellten sich die Embryonalentwicklung als Evolution vor, d.h. im wahresten Sinne des Wortes, nämlich als "Ausrollung". Dies wäre vergleichbar mit einer Blütenknospe, die durch "Ausrollung" erst die engültige Gestalt erreicht. Einer der Vertreter der Präformisten war Swammerdam (1653-1680). Er postulierte die Auswickelung (Evolution) schon vorhandener, nur langsam in der Größe wachsender Teile. Der extremste Standpunkt einiger Präformisten war die Einschachtelungstheorie . Die Präformisten waren in 2 Lager gespalten (siehe auch Abbildungen auf der Umschlagseite)und zwar in die Ovisten: Das Ei beinhaltet bereits den Embryo, das Spermium ist nur der Auslöser der Entwicklung. Animalculisten: Das Spermium enthält den präformierten Organismus und ernährt sich lediglich vom Ei nach seinem Eindringen in die Oozyte. Einer der Hauptvertreter dieser Theorie war der oben erwähnte Swammerdam. Sein Verdienst war es aber, daß er der Theorie der Urzeugung jeden Boden entzog. (Theorie der Urzeugung: z.B. Fliegen gehen aus faulendem Fleisch hervor - die abgelegten Fliegeneier konnten in früheren Jahrhunderten aufgrund ihrer geringen Größe ohne Stereolupe oder Mikroskop nicht erkannt werden). Leuwenhook als Konstrukteur des ersten Mikroskops war einer der ersten Entdecker der Spermien. Damit war der Weg geebnet für eine mikroskopische Analyse morphologischer und anatomischer Sachverhalte. Der Embryologe und Philosoph Ernst Haeckel postulierte aufgrund vergleichender Beobachtungen von Embryonalstadien 1866 das sogenannte Biogenetische Grundgesetzt. Er stellte damit eine Verknüpfung zwischen Ontogenese (Individualentwicklung [Embryonalentwicklung]) und Phylogenese (Stammesentwicklung [Evolution]) her. Das Biogenetische Grundgesetzt besagt, daß der Embryo während seiner Ontogenese die Prozesse der Phylogenese rekapituliert. Das Gesetz wird aber heute in vielen Lehrbüchern im Sinne der richtigen Auffassung von Ernst von Baer und entgegen der ursprünglichen Auffassung von Ernst Haeckel interpretiert. Haeckel glaubte nämlich, daß der Mensch als Endstadium der Evolutionwährend seiner Embryonalentwicklung Adultstadien (adult = erwachsen) niederer Organismen durchläuft. Die menschliche Eizelle entspräche danach dem adulten Zustand von Protozoen (Einzellern), die koloniebildenden Protozoen (Volvox , etc.) entsprächen dem Blastulastadium. Die embryonalen Kiemenspalten-Anlagen beim Menschen entsprächen dem

adulten (erwachsenen) Stadium der Fische, bei denen die Kiemen als Dauerorgane (Atmung) erhalten bleiben. Haeckels Auffassung steht damit im Gegensatz zu der auch nach heutigen Erkenntnissen richtigen Auffassung von Ernst von Baer, der bereits vor Haeckel erkannte, daß sämtliche Vertebraten (Wirbeltiere)- Embryonen einschließlich Mensch ein Kiemenspaltenstadium durchlaufen. Mit zunehmenden Alter nimmt der Embryo jedoch das spezifische Aussehen seiner Art an. Mit anderen Worten: Der Embryo einer bestimmten Spezies durchläuft nicht das Adultstadium anderer niederer Tierarten. Die Evolution verläuft also nicht schienenförmig linear, sondern vergleichbar mit einen Laubbaum stark verzweigt. Nach der Deskriptiven Embryologie folgt ab ca. 1890 die Experimentelle Embryologie, da man sich nun für die Ursachen bestimmter Embryonalabläufe interessierte. 1. Driesch's Experimente mit Seeigeln. Durchtrennung von 2-Zellstadien mit Glasnadeln oder ++ Disaggregation mit Ca - freiem Meerwasser. Ergebis: Aus den 2 Blastomeren des 2-Zellstadiums gingen nach Separation zwei Embryonen hervor. Bevor man etwas von DNA (Desoxyribonucleinsäure) als genetischen Informationsträger wußte, nahm man an, daß sich die Zellen des Embryos deshalb in verschiedener Richtung entwickelten

Abb. 4 A. Normale Entwicklung eines Seeigelkeimes (hier gezeigt bis zur Pluteuslarve) B. Trennung der ersten beiden Blastomeren des Seeigelembryos in ++ ++ Ca /Mg -freiem Meerwasser.Aus beiden Blastomeren geht je ein vollständiger, wenn auch, wie zu erwarten, verkleinerter Embryo hervor.

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

(Herz, Leber, Gehirnzelle), weil sie Unterschiede im Kern aufwiesen. Weismann stellte die richtige Hypothese der Unsterblichkeit des Keimplasmas (Keimbahnzellen) im Gegensatz zur Vergänglichkeit der somatischen Zellen (Normale Körperzellen) auf, was sich als falsch herausstellte. Weiterhin postulierte er, daß die Differenzierung auf ungleichen Kernqualitäten bei somatischen Zellen und Zellen der Keimbahn beruhe. Boveri lieferte den scheinbaren Beweis für diese Hypothese anhand der Embryonal-entwicklung des Pferdespulwurms (Ascaris megalocephalus [Parascaris aequorum]).

Wilhelm Roux lieferte zudem den scheinbaren Beweis, daß die Kernqualitäten selbst von somatischen Zellen bereits nach der ersten Zellteilung unterschiedlich sind. Durch sein Anstichexperiment einer der zwei Blastomeren des 2-Zellstaiums eines Amphibienembryos, entwickelte sich nur ein halber Embryo. Damit schien bereits im 2-Zellstadium die linke und rechte Seite des Embryos determiniert.

Beim Ascaris megalocephalus (Parascaris aequorum), dem Pferdespulwurm, handelt es sich um einen Sonderfall im Tierreich. Bei dieser Spezies ist es tatsächlich so, daß die somatischen Abb. 6 Zellen (gewöhnliche Körperzellen) einen Teil ihrer Aufsicht auf eine DNA während der ersten Furchungsstadien A. Neurula. Die linke Blastomere im 2-Zellstadium mit einer heißen verlieren (sogenannte Chromatin-Diminution). Nadel angestochen Lediglich die Kerne der Vorläuferzellen der B. Transversalschnitt der Neurula Querschnitt durch eine Blastula (links derabgetötete Teil) Keimzellen (Geschlechtszellen) (Keimbahn) C. D.Querschnitt durch eine früheGastrula (links derabgetötete Teil) E. Querschnitt durch eine späteGastrula (links derabgetötete Teil) behalten den gesamten DNA-Bestand. F. Querschnitt durch eine frühe Neurula(links derabgetötete Teil)

Abb. 5 Chromatin-Diminution bei Ascaris

Dagegen bestätigten Herlizka und Spemann später an Amphibien die Ergebnisse von Driesch an Seeigeln. Roux erhielt nur deshalb einen halben Embryo, weil die abgetötete Blastomere die verbliebene lebende daran hinderte, eine Gesamtembryoanlage zu regulieren (s.unten). Damit sind wir bereits bei einem wesentlichen Prinzip der Embryonalentwicklung. Aus einer ungeteilten Eizelle geht nach einem Prozeß der 1. Furchung, 2. Gastrulation, 3. Neurulation und 4. Organogenese ein vielzelliger Organismus hervor. Wir werden später auf diese Prozesse zurückkommen, die bei allen Wirbeltieren (Vertebraten) einschließlich Mensch zu finden sind.

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Die Hypothese der unterschiedlichen Kernqualitäten wurde widerlegt durch: 1. Spemanns Versuch der verzögerten Kernver2.Schnürungsexperimente sorgung Ebenso wie das Experiment der verzögerten 2. Spemanns Schnürungsversuche Kernversorgung und die Kerntransplanta3. Kerntransplantationsversuche von Gurdon tionsexperimente von Briggs, King, Gurdon und Minz belegen die Schürungsexperimente, daß Kerne nach mehreren Zellzyklen nicht ihren Informationsgehalt verlieren. Selbst in der frühen Gastrula können aus den beiden Teilbereichen vollständige Embryonen hervorgehen, wenn bei der sagittalen Schnürung beide Hemisphären die Hälfte der Umundlippe und des übrigen Keimes erhalten (Abb. 8 A,B).

Abb. 7 Spemanns Versuch der verzögerten Kernversorgung Aus dem Spemannschen Experiment der verzögerten Kernversorgung können zwei wichtige Schlußfolgerungen gezogen werden (detailierte Erklärung während der Vorlesung). 1. Für die Einleitung der Furchungsprozesse ist der Abb. 8 A. Schnürung des ungefurchten Eies Zellkernvon zentraler Bedeutung 2.Zellkerne B. Schnürung in der frühen Gastrula besitzen auch nach mehreren Teilungen noch die gesamte genetische Information, wie sie für die Realisation eines vollständigen Embryos erforderlich sind (s. auch Kerntransplantationsexperiment von Gurdon, Abb. 84, 85).

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Abb. 9 Schnürung von frühen Gastrulae in verschiedenen Ebenen

Erfolgt die Schürung so, daß nur ein Fragment die Umundlippe enthält, so entwickelt sich ein normaler Keim und ein Bauchstück(Abb. 9 C,D). Ich weise besonders auf die Nützlichkeit solcher Experimente für das bessere Verständnis für die Abläufe bei höheren Vertebraten einschließlich Mensch hin, da auch beim Menschen manchmal bauchstückähnliche Mißbildungen zusammen mit einem normalen Fetus gefunden werden. Das ist auf asymmetrische Aufteilung des Embryos während der frühen Furchungsstadien zurückzuführen. 3. durch Gurdons berühmte Kerntransplantationsexperimente (Abb. 84, 85).

verfügen, die zur Bildung eines vollständigen Organismus erforderlich ist. Jedoch besitzen die einzelnen Zellen Unterschiede im Cytoplasma, z.B. Regulationsfaktoren einschließlich Transkriptionsfaktoren und Induktionsfaktoren. Diese Faktoren sorgen dafür, daß sichz.B. die eine Zelle zur Muskelzelle mit der Synthese von Myoglobin und eine andere Zelle zur Blutzelle entwickelt, die zur Synthese von Hämoglobin, dem Blutfarbstoff, befähigt ist. Es spielen bei diesen Prozessen jedoch noch andere Prinzipien neben der genetischen Regulation und Kontrolle eine wesentliche Rolle. Dazu gehören sekundäre Prozesse wie die Interaktionen zwischen Zellen und Geweben. Große Bedeutung für die Normalentwicklung haben die Zelladhäsion und spezifische Zellerkennung. Ohne sie können die komplizierten Gestaltungsprozesse während der Embryogenese nicht realisiert werden. Störungen dieser Abläufe führen zu Mißbildungen (z.B. Hasenscharte, offener Wirbelsäulenbereich: Spina bifida etc.). Der Informationsfluß verläuft nicht nur von der DNA (Kern) zur Plasmamembran (Zelloberfläche), sondern gerade auch in umgekehrter Richtung von der Zelloberfläche über plasmamembranständige Rezeptoren zum Zellkern, z.B. im Falle der Wachtumsfaktoren und embryonalen Induktionsfaktoren. Störungen dieser Prozesse und Signalwege spielen auch bei der Krebsentstehhung eine wesentliche Rolle. Im folgenden möchte ich zunächst Grundprinzipien der frühembryonalen Entwicklung darstellen und werde später auf klassische und moderne Untersuchungen eingehen. Letztere kann man auch beschreiben als: Biochemie der Morphogenese oder Molekulargenetische Embryologie.

4. Klonierung des Schafes Dolly aus Zellkernen des Euters eines erwachsenen Schafes. Mit diesen Experimenten konnte eindeutig gezeigt werden, daß alle frühembryonalen Zellen noch über die gesamte genetische Information 22

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Modellsysteme zum Nachweis der zentralen Bedeutung des Zellkernes für die Steuerung der Entwicklung

Das berühmte Experiment der Kerntransplantation bei der Schirmalge Acetabularia hat gezeigt, welche zentrale Rolle dem Zellkern und seinen Produkten (vor allem der Boten-mRNA) zukommt (Hämmerling, 1934). Zu dieser Zeit (1934) kannte man noch so gut wie nichts über DNA- und RNAStruktur und -funktion. Durch den Versuch konnte zweierlei gezeigt werden: 1. der Kern ist verantwortlich dafür, daß ein Schirm regeneriert wird , 2. der Kern ist für die artspezifische Ausbildung des Schirmes verantwortlich (Abb.10A). Das Fragmentierungsexperiment (Zerteilung der Alge in apicale Spitze des Stiels, zentralen Teil und Rhizoid (Abb.10 B) weist darauf hin, daß eine mRNA (Boten-RNA) vorhanden sein muß. Wird nämlich die Alge vor der Schirmbildung zerteilt, so ist die für die Schirmbildung notwendige mRNA vom Kern zum apikalen Teil des Stiels gewandert. Im Mittelteil befindet sich keine mRNA mehr. Das Rhizoid mit dem Kern kann nach der Zerteilung erneut mRNA synthetisieren. Somit erklärt sich der Befund, daß sich aus Rhizoid und apicalen Teil des Stiels, nicht aber aus dem Mittelteil, ein Schirm bilden kann. Der Beweis, daß tatsächlich BotenmRNA für die Ausbildung des Schirms verantwortlich ist, wurde erst viel später durch einen Hämmerling-Schüler (Prof. Schweiger) und Mitarbeiter, erbracht (Kloppstech und Schweiger (1975): Polyadenylated RNA from Acetabularia. Differentiation 4, 115-123. Das klassische Experiment von Hämmerling (1934) steht in Übereinstimmung mit dem heute generell anerkannten sogenannten Dogma der Molekularbiologie: DNA → RNA (mRNA) → Protein. Die DNA kodiert für spezifische mRNAs, die in spezifische Strukturproteine (z.B. im AcetabulariaSchirm) translatiert werden. Diese Prozesse sind jedoch wesentlich komplexer. Sie werdenausführlich in meiner Vorlesung “Entwicklungs-biologie und Zellbiologie” (Hauptstudium) behandelt. 23

VorlesungNeu PM76.März2003

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Abb. 10 Vom Einzeller zum Vielzeller (Auftreten des Phänomens Tod in der Evolution und die Ausbildung von Arbeitsteilung und Spezialisierung

liche Vermehrungsformen. Somit läßt sich bei Volvox bereits ein zentrales Prinzip der Entwicklungsbiologie dokumentieren: die Differenzierung in somatische (Körper) Zellen und Geschlechtszellen (Keimzellen). Dieses Grundprinzip ist nicht nur für die Entwicklungsbiologie sondern für die gesamte Biologie von umfassender Bedeutung. Beim Vielzeller können die Keimzellen (Geschlechtszellen) als unsterblich angesehen werden. Sämtlich Prozesse und Disziplinen der Biologie sind darauf ausgerichtet, daß die Keimzellen in Form einer nächsten Generation überleben. Bekanntlich wird hierfür

Niedere Organismen (Bakterien oder einzellige Algen) vermehren sich durch Quer- oder Längsteilung. Bei diesen Lebewesen gibt es keine Leiche. Demnach sind sie, solange keine Umweltkatastrophen eintreten, unsterblich. Erste Schritte einer Spezialisierung zeigen bestimmte Algen in “männliche” und “weibliche” (besser + und (-)- Typen) Genotypen [Phänotyp ist identisch](Abb.11a) Der nächste Evolutionsschritt ist eine Zusammen-lagerung von Organismen gleichen Phänotyps zu einem Pseudovielzeller (Abb. 11b). Das erstmalige Auftreten des Phänomens Tod und dem Übrigbleiben einer Leiche und lebender Nachkommen ist bei der Alge Volvox zu beobachten (Abb. 11d ). Weiterhin entstehen bei Volvox in Form eines Generationswechsels vegetative und geschlecht- Abb. 4

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

mittels der somatischen Zellen (den “gewöhnlichen” Körperzellen) bei den höchst entwickelten Organismen ein sehr hoher Aufwand betrieben. Sämtliche evolutionären “Errungenschaften” dienen dem Ziel, ein Optimum der Überlebensfähigkeit der Keimzellen eines Individuums oder einer ganzen Spezies zu erreichen. Diesem zentralen Ziel dienen: 1) Struktur der Organismen (Morphologie und Anatomie) 2) Physiologie (neurale und vegetative Physiologie) und 3) Anpassung an die Umwelt (Ökologie, Verhaltensbiologie) 1), 2) und 3) sind eng miteinander korreliert. So bieten z.B. besonders leistungsfähige Sinnesorgane (statt Grubenaugen → Linsenaugen*) und besondere Verhaltensweisen (z.B. Ernährungsspezialisten) einen Selektionsvorteil gegenüber anderen Tieren (siehe Lehrbücher der Physiologie, Ethologie und Evolution). Das gilt besonders, wenn diese Leistungen optimal an die jeweilige Umgebung angepaßt sind. *) Recht spektakuläre neueste entwicklungsbiologisch/ molekulargenetische Erkenntnisse der Arbeitsgruppe von Prof. Gehring deuten darauf hin, daß offensichtlich das Auge bei verschiedenen Tierarten und Tierklassen während der Evolution nicht immer wieder neu "erfunden" wurde. Trotz erheblicher morphologischer und funktioneller Unterschiede der adulten Sinnesorgane sieht es so aus, als wenn für die Anlage aller Augentypen sehr ähnliche entwicklungsbiologische Stategien verwendet wurden und werden [Mastergen-Prinzip] (siehe Seite 137).

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H. Grunz: Entwicklungsbiologie

Dictyostelium discoideum

Ein sehr interessantes Lebewesen, das sowohl als Einzeller als auch als Vielzeller vorkommt, ist der Schleimpilz Dictyostelium discoideum (Abb. 12). Neben dem Prinzip der Differenzierung in somatische Zellen und Keimzellen, finden wir hier die Aggregation von Einzelzellen zu einem Gewebeverband. Für diesen Prozess sind schon spezielle Zellerkennungsmechanismen und charakteristische Signalmoleküle (Acrasin) erforderlich. Für diesen wichtigen evolutionären Schritt der selektiven Zellerkennung (mutual cell affinity) sind ähnlich wie bei der primitiven Zellverbandbildung der Schwämme schon recht komplizierte extrazelluläre Matrixstrukturen (wesentliche Bestandteile: Glykoproteine, Glukosaminoglykane, Catherine, Catenine, Cognin N-CAM, C-CAM, etc.) erforderlich.

Abb. 12

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Bildung und Wanderung der Keimzellen Ausgangspunkt jeder frühembryonalen Entwicklung ist die Entstehung reifer Eier (Oozyten) und Samenfäden (Spermatozoen). Der erste Schritt ist jedoch die Entwicklung von Urgeschlechtszellen, die bereits sehr früh in der Embryonalentwicklung nachzuweisen sind.Es können schon bald in der Ontogenese Keimzellen von somatischen (Körper)Zellen unterschieden werden. Differenzen bestehen im RNA-Gehalt im sogenannten Keimplasma des Eies, das in die zukünftigen Keimzellen integriert wird. Solches RNA-reiche Keimplasma findet man bei den Insekten im posterioren (hinteren) Keimbereich, das in die Keimzellen integriert wird (Abb. 13 B). Der Nach-weis, daß dort die Keimzellen lokalisiert sind, wurde durch folgendes Experiment erbracht: Durch UV-Bestrahlung des caudalen Keimbereiches des Insekteneies ergaben sich sterile Individuen.

Bei Amphibien erfolgt nach der Neurulation die Einwanderung der Urgeschlechtszellen in die Urogenitalleiste (Abb. 14 B, 15 A). Bei Vögeln erfolgt die Wanderung über die Blutwege (Adern) ausgehend von einer sichelförmigen Region des Entoderms (Abb. 14 C, 15 B) an der vorderen Grenze der Keimscheibe. Dann erfolgt die Einwanderung in das embryonale Blutsystem.Dieser Vorgang wird als Diapedesis bezeichnet (Abb. 15 B). Über den Blutkreislauf erreichen die Urgeschlechtszellen die Genitalleisten.

A

B

C

Abb. 15 Vorgang der Urgeschlechtszellenwanderung

Abb. 13

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Prozesse bei der Keimzellbildung Meiose Sobald die Urgeschlechtszellen in die Gonaden eingewandert sind (Abb. 14 C, 15), teilen sie sich vielfach ( ständig sich wiederholende Mitosen). Damit wird die Voraussetzung für die Produktion einer großen Zahl von Gameten geschaffen. Sowohl während der Oogenese als auch der Spermatogenese muß der Chromosomenbestand von diploid (2n) auf haploid (n) reduziert werden. Dieser Prozess wird als Meiose bezeichnet. Nach der letzten mitotischen Teilung folgt eine Periode der DNA-Synthese (S-Phase), so daß die Zellkerne der Keimzellen bei ihrem Eintritt in die Meiose über die zweifache DNA-Menge (4 C) verfügen. In dieser Phase besteht jedes Chromosom aus zwei Schwester-Chromatiden (sister chromatids), die über ein gemeinsames Centromer miteinander verbunden sind. In anderen Worten: Obgleich dipoid, enthält die Zelle 4 Kopien jedes Chromosoms, aber die Chromosomen erscheinen als zwei Chromatiden, die miteinander verbunden sind. Die Meiose umfaßt zwei Zellteilugen. Bei der ersten Teilung paaren sich homologe Chromosomen und werden dann auf verschiedene Zellen verteilt. Daher werden in der 1.Reifeteilung homologe Chromosomen auf zwei Tochterzellen verteilt und zwar in der Weise, daß jede Zelle nur eine Kopie eines jeden Chromosoms erhält. Aber jedes Chromosom hat sich bereits redupliziert. Die 2. meiotische Teilung separiert dann die zwei Schwester-Chromatiden voneinander. Folglich besitzt jede der 4 entstandenen Zellen eine einfache (haploide) Kopie eines jeden Chromosoms. Die erste meiotische Teilung (1.Reifeteilung) beginnt mit einer langen Prophase, die in fünf Teilabschnitte gegliedert werden kann:

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Abb. 15

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Leptotän (griechisch: dünner Faden) Während dieses Stadiums liegt das Chromatin des Chromatids als langer dünner Faden vor, so daß einzelne Chromosomen nicht identifiziert werden können. Die DNA-Replikation hat bereits stattgefunden und jedes Chromosom besteht aus 2 parallel angeordneten Chromatiden. Zygotän (griechisch: paariger Faden) Im Zygotän legen sich homologe Chromosomen (väterlicher-mütterlicher Herkunft) eng nebeneinander in sehr exakter Anordnung. Diese Paarung wird als Synapse bezeichnet und ist typisch für die Meiose. Dieses Phänomen tritt in der Mitose nicht auf. Obwohl der Mechanismus , wie jedes Chromosom seinen homologen Partner erkennt, unbekannt ist, so scheint es doch sicher, daß die Kernmembran für diesen Prozess besonders wichtig ist. Da sich die Chromosomen an einem Punkt der Membran blumenstraußähnlich anordnen, wird dieses Stadium auch als Bukettstadium bezeichnet. Weiterhin ist ein proteinhaltiges Band für diese reißverschlußähnliche Zusammenlagerung der Chromosmen erforderlich, welches als Synaptischer Komplex bezeichnet wird. Dieser Komplex ist eine leiterartige Struktur mit einem zentralen Element und zwei lateralen Balken. Das Chromatin ist assoziiert mit den zwei lateralen Balken. Dadurch kommt die Koppelung zwischen den beiden Chromatiden zustande. Die Konfiguration, die durch die 4 Chromatiden und den Synaptischen Komplex gebildet wird , wird auch als Tetraden-Stadium oder als Bivalent-Stadium bezeichnet. Pachytän (griechisch: dicker Faden) Während der nächsten Phase der meiotischen Prophase verdicken und verkürzen sich die Chromatiden. Individuelle Chromosomen können jetzt im Lichtmikroskop unterschieden werden. In diesem Stadium findet Crossing-over statt. Cros-

sing-over bewirkt den Austausch von genetischem Material von homologen Chromosomen (Genen) von einem zum anderen Chromatid. Dieses Crossing-over setzt sich auch im nächsten Stadium, dem Diplotän, fort. Diplotän (griechisch: doppelter Faden) In diesem Stadium löst sich der Synaptische Komplex auf und die 2 homologen Chromosomen beginnen sich voneinander zu trennen. Normalerweise bleiben sie aber noch an verschiedenen Stellen, sogenannten Chiasmata, verbunden. In diesen Bereichen hat das Crossing-over stattgefunden. Bei einigen Species (z.B. Amphibien) nehmen die Chromosomen sowohl männlicher als auch weiblicher Keimzellen in dieser Phase das Aussehen von Lampenbürsten (Lampenbürsten-Chromosom) an. Diese Chromosomen synthetisieren äußerst aktiv RNA. Die Lampenbürstenchromosomen bilden äußerst stabile und ausgedehnte Schleifen (Loops) aus, die mit neu transkribierter RNA, verpackt in RNA-Proteinkomplexe, bedeckt sind. Aufgrund dieser Hülle kann man diese Lampenbürstenchromosomen im Gegensatz zu anderen Chromosomen im gleichen Meiose-Stadium selbst im Lichtmikroskop erkennen.

Diakinese (griechisch: sich auseinander bewe– gen) In diesem nächsten Stadium wandern die Centromeren auseinander und die Chromosomen bleiben nur am Ende der Chromatiden miteinander verbunden. Dieses letzte Stadium der meiotischen Prophase endet mit der Auflösung der Kernmembran und dem Auseinanderwandern der Chromosomen. Sie bilden dann die Metaphase-Platte. Während der Anaphase I trennen sich homologe Chromosomen voneinander.

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Telophase I Es folgt die Telophase I, in der zwei Tochterzellen gebildet werden, wobei jede Zelle einen Partner jedes homologen Chromosomenpaars erhält. Interkinese Nach einer kurzen Interkinese findet die zweite meiotische Teilung statt. Während dieser Teilung teilt sich jedes Centromer eines jeden Chromosoms während der Anaphase II , so daß jede der Tochterzellen eins der zwei Chromatiden erhält. Das endgültige Ergebnis ist die Bildung von 4 haploiden Zellen.

Aus 1 Spermatocyte I. Ordnung gehen hervor → 2 Spermatocyten II. Ordnung → 4 Praespermiden → 4 Spermiden. Es erfolgt dann die Differenzierung zu 4 Spermien. Dadurch werden folgende Ergebnisse erzielt: In 2 Teilungsschritten entstehen 4 Gonen. Man unterscheidet eine erste und eine zweite Reifeteilung. Oogenese und Spermatogenese unterscheiden sich durch die Anzahl der entstehenden reifen Geschlechtszellen. In der Spermatogenese gehen aus den nach den Spermatocytenteilung hervorgehenden 4 Gonen (Spermatogonien) 4 Spermien hervor. Bei der Oogenese dagegen geht aus einer Gone nur 1 reife Eizelle [Oogonium], hervor. Gleichzeitig entstehen 3 degenerierende Polkörperchen.

Spermatogenese Spermiohistogenese Aus den Urkeimzellen (entodermale Wanderzellen) gehen nach Vermehrungsphasen, Wachstumsphasen, Reifeteilungen und Spermiohistogenese (Differenzierung) die fertigen Spermien hervor. Zwei wichtige Prinzipien gelten bei der Spermienbildung (dies trifft übrigens auch für die Oogenese zu): 1. Während der Entwicklung von der Urkeimzelle zu den reifen Keimzellen (Gonen) wird der Chromosoemenbestand reduziert (2 n → n), damit bei der Befruchtung wieder ein diploider Zustand erreicht werden kann. 2. Während der Meiose finden Chromosomenkonjugationen statt (Austausch von Chromatinbereichen und damit Genbereichen), die eine Neukombination des Erbmaterials ermöglichen.

(Abbildungen werden in der Vorlesung gezeigt) Spermien der verschiedenen Tierarten sind recht unterschiedlich aufgebaut, deshalb hier nur die Schilderung allgemeingültiger Tatsachen.

1. Der Kern weist geringe Veränderungen bei der Entwicklung der Spermatide zum Spermium auf. Er wird nur länglich und paßt sich der Kopfform des Spermiums an. Chromatin wird unsichtbar, Kern erscheint homogen und färbt sich dunkel an. 2. DieSpermiden besitzen 2 Centriolen: proximales und distales Centriol. Aus dem distalen wächst der Schwanzfaden aus. Das Cytoplasma kommt um die Centriolen zu liegen. 3. Das Akrosom (enthält Enzyme zum Eindringen in die Eizelle) entsteht in engem ZusammenWährend dieser Periode der Praespermidenteihang mit dem Golgiapparat in Kernnähe. lungen laufen die Reifungsprozesse (Meiose) ab. 4. Die Mitochondrien ordnen sich im Mittelstück Die Spermatiden sind genetisch gesehen fertige des Spermiums an. Gameten (haploid = n).

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Oogenese Aufbau des reifen Spermiens (Ausnahme z.B. Ascaris: kein Mittel- und Schwanzteil) Die Meiose läuft ähnlich ab wie bei der SpermatoKopf genese. Unterschiedlich ist nur, daß im Gegensatz Hals zur Spermatozyte 1. Ordnung(Ergebnis: 4 SperMittelstück mien) aus der Oozyte 1. Ordnung nur ein reifes Ei Schwanz hervorgeht. Im Vergleich zur Spermide (Spermatide) unterscheidet sich die reife Eizelle äußerlich kaum von der Oozyte (aber genetisch).Die OozySpermienübertragungsmechanismen tenentwicklung geht folgendermaßen vor sich: Es Jeder Paarbildung im Tierreich einschließlich erfolgt die erste Reifeteilung: die Chromosomen Mensch geht ein Synchronisationsvorgang kondensieren und die reduplizierten homologen (Vorspiel, Balz) voraus, der besonders dringend Chromosomen separieren sich in der Anaphase I erforderlich ist bei Spezies, die keine innere in zwei Tochterkerne. Jeder dieser Kerne enthält Besamung (mittels spezieller Geschlechtsorgane die Hälfte der ursprünglichen Chromosomenzahl. [Penis, Männchen] ) aufweisen (z.B. Seeigel, Gegen Ende der 1.Reifeteilung teilt sich das CytoStichling, Hering oder Schwanzlurche [Urodela]). plasma asymmetrisch, so daß zwei Zellen unterTrotz optimaler hormoneller Gegebenheiten und schiedlicher Größe entstehen, nämlich 1 kleines Reifezustand der Gonaden (Jahreszeit plus Balz) Polkörperchen und die große Oozyte II. Ordnung. würde eine asynchrone Ei- und Spermaabgabe Zu diesem Zeitpunkt besteht jedes Chromosom (räumlich und zeitlich stark differierend) nicht zur noch aus 2 Schwesterchromatiden. Diese ChroBesamung der reifen Eizelle führen. Ein sehr gutes matiden werden erst in der 2.Reifeteilung sepaBeispiel für diese Synchronisationsabläufe ist die riert und in 2 Tochterzellen verteilt. Dieser ProBalz der Schwanzmolche (Molche, Urodela) zess ist identisch mit einer normalen Mitose . Nach (Abb.17, 18 ). Man kann dieses Paarungsverhalten dieser letzten Chromosomenseparation in der Anaim Frühjahr in klaren Teichen beobachten. Nach phase II teilt sich das Cytoplasma der großen Anlocken des Weibchens durch Pheromone Oozyte II.Ordnung wieder asymmetrisch. Das Er(Geschlechtsduftstoffe) setzt das Männchen eine gebnis ist das reife Ei und ein zweites PolkörperSpermatophore (Spermaträger mit gelatine- chen mit jeweils haploider Anzahl von Chromosoähnlicher Konsistenz) auf dem Substrat (z.B. men. Das 1 Polkörperchen kann sich ebenfalls nochmals teilen, so daß insgesamt 3 PolkörperTeichboden) ab (Abb. 16). chen entstehen, die anschließend degenerieren. Bei den meisten Vertebraten schreitet die Oozytenreifung bis zur Metaphase der 2.Reifeteilung fort und bleibt in dieseStadium stehen (Monate bis Jahre). Bei der Ovulation wird die Oozyte II.Ordnung aus dem Ovar freigesetzt und vollendet nach dem Endringen des Spermiums die Meiose.

Abb. 16 Spermatophore der Urodelen

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Balz und Besamung bei Schwanzlurchen Das Weibchen nimmt bei erfolgreicher Synchronisation das Spermapaket (Abb. 13, grauer Bereich) an der der Spitze der Spermatophore in ihre Kloake auf. (Abb. 18 C,F, 19 ).

Abb. 19 Kloake des Molchweibchens Die Besamung jedes einzelnen Eies erfolgt durch die in der Spermatheca aufbewahrten Spermien. Wie gelangen die Spermien zum Ei? (alle Tiere): Abb. 17 Molchbalz (Triturus vulgaris, Teichmolch) 1. Spermien werden bei wasserlebenden Formen in das Süß-oder Salzwasser abgegeben: Echinodermen, Mollusken, Fische, Amphibien (Anura= Froschlurche). Es kann bereits eine Art Begattung vorkommen: Bei Fröschen: das Männchen umklammert bei der Spermaabgabe das Weibchen oder kommt in enge Berührung mit ihm(Abb.20). Die Umklammerung oder der Kontakt wird solange aufrechterhalten, bis die Eier besamt sind.Dies geschieht bei Hymenochirus an der der Wasseroberfläche (Abb.21D). Bei einer anderen Spezies (Ascaphus truei) besitzt das Männchen bereits einen penisartigen Fortsatz, der bei der Begattung des Weibchens in die Kloake eingeführt wird (Abb. 22). Bestimmte Fische (Lebendgebärende Zahnkarpfen) haben eine umgeformte Bauchflosse (penisartig), die ebenfalls innere Befruchtung ermöglicht. 2. Ablage der Spermamasse in oder auf einer Abb. 18 Details der Molchbalz von Triturus Kapsel (Spermatophor, Samenstift, Abb.16) cristatus (Kammolch) und Aufnahme des Samenpakets in die Kloake 33

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bei Insekta, Turbullaria, Cephalopoda, Amphibia (Urodela) [Kloake =Endbereich des Urogenitaltrakts=Mündung von Geschlechtsund Exkretionsprodukten]. 3. Innere Besamung (Begattung) setzt die Bildung spezieller Begattungsorgane voraus: Viele Sauropsiden und Säuger.

Abb. 20 Verschiedene speziesspezifische Positionen bei der Begattung von Fröschen

Abb. 22 Begattung bei Ascaphus truei Abb. 21 Begattung bei Hymenochirus

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Die Eier von Hemiphractus johnsoni werden auf dem Rücken des Weibchens angeheftet. Das Colestethus-Männchen setzt sich mit den Hinterbeinen in die Gallertmasse, die die kurz vor dem Schlüfen stehenden Larven (Kaulquappen) enthält. Aus den geplatzten Gallerthüllen bewegen sich die Larven auf den Rücken des Männchens , wo sie durch klebriges Sekret angeheftet werden. Alle drei Froscharten suchen kleine Teiche auf, sobald die Larven schwimmfähig sind. Der einzige "eiertransportierende" europäische Frosch ist die Geburtshelferkröte (Alytes). Das Weibchen übergibt die Eischnüre an das Männchen, das diese an seine Hinterbeine befestigt. Die Betreuung erfolgt bis zum Schlüpfen und Einbringen der Larven in nahrungsreiche Teiche. Abb. 23 Verschiedene Frösche mit intensiver Brutpflege

Bei Gastrotheca cornuta werden die abgelegten Eier in eine Rückentasche des Weibchens geschoben. Dort entwickeln sie sich zur Larve. Das feuchte Milieu der Tasche enthält relativ hohe Harnstoffkonzentrationen (urea), die für die normale Entwicklung sogar notwendig sind

(Del Pino, E.M., Alcocer, I. and Grunz, H. (1994). Urea is necessary for the culture of embryos of the marsupial frog Gastrotheca riobambae, and is tolerated by embryos of the aquatic frog Xenopus laevis. Development Growth & Differentiation 36:73-80).

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Befruchtung bei Seeigeln

dringlich.

(Ideales Beispiel für den Besamungs- und BeDie Bildung der Befruchtungsmembran ist eine fruchtungsvorgang) Reaktion der äußeren Cytoplasmaschicht, der EiEs kann zwischen Besamung und Befruchtung rinde (Cortex). unterschieden werden. Unter Besamung kann man Sie ist bei Seeigeln 1-1,5 µm dick und enthält eine sämtliche Abläufe von der Abgabe der Spermien gleichmäßige Schicht spezifisch färbbarer Granubis zum Eindringen in die Eizelle definieren. Die la. Bei der nach Auftreffen des Spermiums auf die eigentliche Befruchtung kann man gleichsetzen Eioberfläche einsetzende Cortexreaktion werden mit der Verschmelzung des weiblichen und männ- von der Eirindenschicht Cortexgranula die Mucolichen Vorkerns. Der Einfachkeit halber werden polysaccharide (polyanionische Glucosaminoglydie unten dargestellten Prozesse aber unter dem cane) enthalten, in Tropfen vereinigt zur Dottermembran hin ausgeschieden. Begriff Befruchtung beschrieben. Die Furchung des Seeigeleies erfolgt total, inäqual. Die Entwicklung der Seeigel ist besonders Die Tröpfchen verschmelzen mit der Dottermemgut untersucht, weil die Eier leicht zu erhalten und bran, die damit zur sehr stabilen Befruchtungszu beobachten sind(transparente Embryonen). Die membran wird. Sie verhindert das weitere EinEmbryonen entwickeln sich außerhalb des mütter- dringen von Spermien. lichen Organismus und sind bis zur schwimmfähigen Larve und darüber hnaus transparent. Vorgang der Befruchtung (generelle Aussage) Der Vorgang der Befruchtung kann bei Seeigeln unter dem Mikroskop verfolgt werden. Ei und Spermium müssen so konstruiert sein, daß folgende Prozesse gewährleistet sind, damit eine erfolgreiche Besamung erreicht wird: 1. Auffinden des Eies durch das Spermium 2. Besamung des Eies bei gleichzeitiger Verhinderung der Mehrfachbesamung. Bei 1. sind vor allem chemotaktische Prozesse beteiligt. Für 2. sind eine Reihe von Teilprozessen verantwortlich: 1. Nach Eindringen des Spermakopfes hebt sich die Befruchtungsmembran vom Ei ab und zwar innerhalb von 10-20 sec. Erst ist sie gewellt, wird dann aber schließlich glatt und sehr widerstansfähig. 2. Nach 2 Min. ist dieser Vorgang beendet und die Membran ist für weitere Spermien undurch-

Das Acrosom öffnet die Gelatinehüllen (äußeren Eihüllen) dort wo das Spermium auftrifft. Proteolytische Enzyme (Proteasen) sind dabei beteiligt. Es bildet sich vom Acrosom ein Filament, das in die Oberfläche des Eies eindringt. Die Membranen des akrosomalen Vesikels und der Eimembran fusionieren. Durch den entstehenden Kanal wird der Spermakern, Mitochondrien und Flagellum in das Ei gezogen. Flagellum und Mitochondrien lösen sich auf. Deshalb gehen im Embryo alle Mitochondrien auf den mütterlichen Organismus zurück. Bei einigen dotterreichen Eiern (Selachier, Vögel, Amphibien) kommt es zu physiologischer Polyspermie. Aber auch in diesem Falle kommt nur ein Spermakern zur Befruchtung. Die übrigen gehen entweder zugrunde oder sorgen als sogenannte Merocytenkerne für die Verflüssigung (Verstoffwechselung) des Dotters. Die Cortexgranula können sich auch bei den Oo-

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zyten bestimmter Tierarten in doppelt lichtbre- Vorgang der Befruchtung bei Amphibien chende Stäbchen verwandeln. Aber auch sie werden im Normalfall in die Dottermembran eingela- Der Vorgang verläuft ähnlich wie bei den Seegert, wodurch die widerstandsfähige Befruchtungs- igeln. Die Befruchtungsmembran verhindert das membran entsteht. Eindringen weiterer Spermien. Bei Amphibien Nach neueren Auffassungen enthalten die Cortex- kommt aber Polyspermie vor, wahrscheinlich granula (in Wirklichkeit Vesikeln) Mucopoly- deshalb, weil die Cortex-Reaktion sehr langsam saccharide (besser: polyanionische Glucosamino- abläuft. glykane), die nach ihrer Freisetzung osmotisch wirksam werden. Mit der Entstehung der Befruchtungsmembran, Durch die sich abhebende Dottermembran wird auch als Cortikal-Reaktion oder Eiaktivierung Wasser (Amphibien) oder Meerwasser (Seeigel) bezeichnet, gehen tiefgreifende Veränderungen von außen her aufgenommen. Die perivitelline in der Ultrastruktur der Ei-Cortex einher. Die Flüssigkeit ist dann hoch viskos, so daß die Eizelle Cortex-Granulae (Vesikeln) öffnen sich zum schließlich überall den gleichen Abstand von der perivitellinen Raum. Sie enthalten Proteasen und Membran einhält. Glykoproteine stark sauren Charakters (sogenannte saure Polysaccharide oder Mucopolysaccharide Granula oder Stäbchen, die in die Dottermembran [neue Bezeichnung: polyanionische Glucosaminoaufgenommen werden, sorgen für die Bildung der glykane], die die sehr sauren SO3H-gruppen entwiderstandfähigen Befruchtungsmembran. halten). Der chemische Aufbau und die Unterscheidung von Proteinen, Glykoproteinen, GlyNach Ausscheidung der Granula verändert sich kosaminoglykanen werden in meiner Hauptauch die Rinde (Cortex) des Eies. Sie wird gelati- studiumvorlesung"Entwicklungsbiologie und nös fest. Das Ei regiert nach der Befruchtung auf Zellbiologie" erläutert. Diese sauren Druck wesentlich unempfindlicher. Proteoglykane prezipitieren, sobald sie mit Wasser in Berührung kommen und fangen sofort an mit der Dottermembran zu interagieren. Das Er-

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gebnis ist die Bildung einer fast kristallinen, 3. Ausbildung einer Pseudoplacenta bei einzelnen Reptilien (Ausnahmen). Hierbei handelt widerstandsfähigen Befruchtungsmembran. es sich um eine allantoide* Placenta. Gleichzeitig treten Veränderungen in der Polarität [*Allantois: aus dem Griechischen: schlauchdes Eies auf. Dafür ist das Amphibienei ein sehr förmig; Ausstülpung des Enddarmes. Hat die gutes Beispiel. Gegenüber dem Eintrittspunkts Funktion der embryonalen Harnblase] des Spermiums Sie nimmt als Chorioallantois mit der Uterusbildet sich durch Verlagerung des in der Cortex schleimhaut engen Kontakt auf. Die Placenta angeordneten Pigments (maternale Melaningraist vom endothelio-endothelialen Typ. Bereits nula) zum animalen Pol eine pigmentärmere fetal-maternaler Stoff(Gas)austausch (aber Eier Zone, der sogenannte graue Halbmond. Dieser enthalten noch Dotter). Bereich ist mit der zukünftigen (präsumptiven) Dorsalseite des Keimes, aber nicht exakt mit der 4. Bei den Säugetieren (Mammalia) wird ein Spezialorgan (Placenta ) ausgebildet, das als der dorsalen Urmundzone(Spemannscher Vermittler für Stoff- und Gasaustausch zwiOrganisator-Bereich, identisch (Abb. 24). schen Fetus und maternalen Organismus dient. Damit ergeben sich bereits 2 wesentliche PolariDie Eizelle hat es nun nicht mehr nötig, Nährtäten des befruchteten Eies: dotter zu speichern. Mamalia-Eier (Ausnahanimal-vegetativ und dorsal-ventral. me: Monotremata) sind dotterfreie Eizellen. [ Es handelt sich aus stammesgeschichtlicher Sicht um sekundär dotterarme Eier]. Während der Evolution haben sich unterschiedli- In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß Carl che Entwicklungstypen (in Beziehung zum ma- Ernst von Baer 1827 als erster eine Eizelle eines ternalen [mütterlichen] Organismus) herausgebil- Säugetieres beobachtet hat (im Graafschen Follikel des Hundes). Obwohl die Eizelle der Säudet: getiere eine der größten Zellen des Körpers ist 1. Fische legen ihre Eier, nachdem sie aus dem (beim Menschen ø 120-150 µm) ist sie jedoch zu Eierstock freigesetzt worden sind, im Wasser klein, als daß an ihr früher Manipulationen durchgeführt werden konnten. Ein Großteil entfrei ab, wo sie besamt werden. Amphibien legen die befruchteten Eier an Grä- wicklungsbiologischer Erkenntnisse wurden an sern oder Wasserpflanzen ab. Schwanzlurche Amphibienkeimen erzielt. Beim Säuger und spelegen die Eier zwischen mit den Hinterbeinen ziell beim Menschen ergeben sich im Gegengefalteten Wasserpflanzen ab (Schutz vor Räu- satz zu Amphibien eine Reihe von Schwierigkeiten bern). 2. Schutz durch den mütterlichen Organismus Das Ei verbleibt im mütterlichen Organismus, Vergleich des Eies bei Säugern (einschließlich liegt aber wie ein Fremdkörper im Ovidukt Mensch) und Amphibien ohne innigen Kontakt zum mütterlichen Organismus ( Haie, Alpensalamander; letzterer hat Säugerei diese Art der "Brutpflege" wegen der ungünstigen Umweltbedingungen entwickelt; Hautta- 1. Ei sehr klein (0,12-0.15 mm = 120-150 µm) [Ausnahmen: Monotremata] schen auf dem Rücken tropischer Frösche, z.B. 2. Ei wächst im maternalen Organismus heran species Gastrotheca). [Deshalb nicht gut beobachtbar]

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3. Ei ist dotterarm, muß nach Experimenten reim- Die Eier können sich unterscheiden in folgenden plantiert werden (bisher unter in vitro Bedin- Merkmalen: gungen nur kurze Aufzucht möglich).[in vivo = unter normalen Lebensbedingungen. Hier: im 1. Dotter mütterlichen Organismus; in vitro = in Zellkul- a) Verteilung tur] b) Menge 4. Bei Experimenten am menschlichen Embryo c) Beschaffenheit Probleme ethischer und moralischer Natur. 2. Eihüllen und Schalen Amphibien I. Primäre Membranen, von der Eizelle gebildet, 1. Ei relativ groß (1-2 mm). z. B. Membrana vitellinaII. Sekundäre Mem2. Ei entwickelt sich außerhalb des mütterlichen branen vom Follikelepithel im Ovar gebildet, z. Organismus (deshalb experimentell leicht zu B. Zona pellucida oder sogen. „Chorion“ der gänglich). Nematoden. 3. Der am besten untersuchte Vertebraten (Wir III. Tertiäre Membranen und Schalen werden im beltier)-Embryo. Oviduct gebildet, z.B. Gallerhülle bei Anuren 4. Ei ist dotterreich, jede Zelle besitzt eigenen und Urodelen, Hornschalen der Selachier, EiDottervorrat. Explantations- und Transplantaweißschicht im Vogelei, Kalkschale der Sautionsexperimente sind ohne die erst seit neuerer ropsideneier. Zeit zur Verfügung stehenden komplizierten 3. Pigmentierung (Embryonalpigment bei Kulturmedien durchführbar. Amphibien) 5. Keine Probleme ethischer Natur. Man kann verschiedene Eitypen unterscheiden nach der Dotterbeschaffenheit und der Dottermenge. Die Größe der Eizelle steht in Beziehung zu ihrem Dottergehalt. Die polylecithalen Eier erreichen einen beachtlichen Durchmesser (Teleostier, Reptilien und Vögel). Aber auch mesolecithale Amphibieneier sind noch recht groß (Axolotl 2 mm ø, Triturus 1,5 mm, Krallenfrosch 1 mm). Unter den Säugetieren weisen die Monotremata die umfangreichsten Eier auf (ø 3,5 - 4 mm). Die Eier der Beuteltiere(Beutelmarder [Dasyurus] 240 µm) sind ebenfalls noch weit größer als die der Eutheria (höhere Säuger, placentale Säuger): 60-180 µm

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Bei den Amphibien [total, inäquale Furchung, Holoblastier] ist die animal-vegetative Achse (animal-vegetativer Gradient) bereits vor dem Spermaeintritt festgelegt. Durch den Spermaeintritt wird zusätzlich die dorsal/ventrale (Rücken/ Bauch)- Symmetrie bestimmt. (Abb. 24). Die Verteilung von Dotterkörnern ist inhomogen. Bei den Amphibien besitzt jede Zelle bis hin zur schwimmfähigen Larve ihren eigenen Dottervorrat. Jede Zelle ist also mit ihrer Ernährungsreserve versorgt. Bei den höheren Vertebraten ist das anders, wie wir sehen werden. Neben einem Dottergradienten kann bei den Amphibien ein ribosomaler Gradient festgestellt werden. Eine Neusynthese von m-RNA und folglich von Proteinen (im Zusammenspiel mit den Ribosomen) kann erst mit Beginn der Gastrula nach der sogenannten Midblastula-Transition (MBT) erfolgen. Die meisten Ribosomen sind frei, wenige sind an endoplasmatisches Retikulum gebunden. Die Amphibienoozyte enthält alle notwendigen Bestandteile, um auch mit fremder (injizierter) mRNA (Boten-RNA) entsprechende Proteine zu synthetisieren. Die AmphibienOozyte kann deshalb als "biologisches Reagenzglas" verwendet werden. Bei Injektionen von Globin-messenger wird Globin synthetisiert. Bei gleichzeitiger Injektion von Häm, das das Ei erwartungsgemäß nicht synthetisieren kann, wird Hämoglobin (Blutfarbstoff) gebildet, der in diesem frühen Entwicklungsstadium nicht produziert wird. Weiterhin kann man Gradienten von nicht partikulär gebundenen Stoffen nachweisen, z.B. Induktions-und Transkriptionsfaktoren (Transkriptionsfaktoren binden an bestimmte DNA-Regionen und kontrollieren [regulieren] so die Transkriptionsprozesse). Dadurch bedingt ist auch die räumliche und entwicklungsabhängige Expression bestimmter Gene. Solche Faktoren und aktivierte Gene sind für die Entwicklung der einzelnen Keimbereiche von besonderer Bedeutung. Die Aufklärung der räumlichen und zeitlichen Genexpression und damit die Steuerung der Determina-

tions- und Differenzierungsprozesse im werdenden Organismus (z.B.Bildung des Zentralnervensystems) ist das Ziel der modernen molekularbiologischen und molekulargenetischen Entwicklungsbiologie. Durch das klassische Umkehrexperiment von Pasteels und Schleip konnte schon 1927 gezeigt werden, daß bestimmte Gradienten verschiedener Faktoren im Ei vorhanden sein müssen (Abb. 25). Wird ein FroschEi im 2-Blastomerenstadium um 180° gedreht (z.B. Positionierung zwischen Glasscheiben mit fixiertem Abstand), so bilden sich zwei Urmundregionen. Weil sich Cytoplasmakomponenten aufgrund der Schwerkraft in bestimmter Weise verlagert haben, kommt es nicht nur auf der zukünftigen Dorsalseite, sondern zusätzlich auch auf der präsumptiven Ventralseite zu cytoplasmatischen Interaktionen, die zur Ausbildung eines zweiten Urmundes führen. Dieses Experiment kann mittlerweile auch molekularbiologisch erklärt werden. Hinweise auf Gradienten bereits während der frühen Furchungsstadien haben unsere Isolationsexperimente von Blastomeren im 8Zellstadium erbracht (Grunz, 1977, 1994; Li, Mao,Yan,Grunz, 1996). Die Amphibienoozyte weist außerdem noch eine Besonderheit in ihrer Chromosomenstruktur auf,

Abb. 25 Umkehrexperiment nach Schleip und Pasteels

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in den sogenannten Lampenbürstenchromosomen. Diese Chromosomen im Diplotän-Stadium besitzen eine besonders starke RNA-Syntheseaktivität und sind im Gegensatz zu anderen Chromosomen im Diplotän-Stadium auch im Lichtmikroskop gut erkennbar. Sofort nach der Befruchtung erfolgt die erste Zellteilung und in rascher Reihenfolge die weiteren Furchungsteilungen. Es handelt sich hierbei um normale Zellteilungen (Mitosen). Wir können verschiedene Furchungstypen bei den verschiedenen Tierklassen unterscheiden und zwar zwei große Gruppen: I. Spiralfurchung (viele Mollusken und Anneliden) II. Radiärfurchung (bei Seeigeln und Vertebra Beispiele für Regulationseier

Die Besonderheit der Spiralfurchung besteht darin, daß die Spindelbildung während der Furchung nicht senkrecht und radiär zueinander angeordnet sind, sondern in Winkeln von ca. 45°. Dadurch ergibt sich sich eine spiralförmig versetzte Anordnung der einzelnen Blastomeren (Abb.26 ). Bei manchen Schnecken findet man links- oder rechts-gewundene Schneckenhäuser. Dies geht schon auf die ersten Furchungsstadien zurück: rechts- oder links-versetzte Anordnung der Blastomeren (Abb. 27). Neben diesen Besonderheiten weisen die Spiralier eine frühe und strenge Determination der Blastomeren auf (Mosaiktyp). Der Ausfall einzelner Blastomeren führt zum Fehlen bestimmter Körper- oder Organbereiche.

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Abb. 26 Spiralfurchung

Abb. 27 Entstehung eines links-und rechtsgängigen Schneckenhauses

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Phylogenese gezeigt werden. Stammbäume rezenter Tierarten können auch aufgrund des Bei diesen Fischen handelt es sich wie bei den Vergleichs (Homologievergleich) konservierter Amphibia und Echinodermata ebenfalls um Holo- Moleküle (z.B. Cytochrom C) erstellt werden (s. blastier . Diese altertümlichen Fischgruppen der Lehrbücher der Zellbiologie und Biochemie). Gonoiden [Stör, Knochenhecht, Schlammfisch] und Dipnoer [Lungenatmer: Neroceratodus, Protopterus, Lepidosiren] weisen einen Furchungstyp auf, der einen Übergang vom amphibienähnlichen Furchungstyp zu den Meroblastiern (Reptilien, Vögeln) darstellt (Abb.28). Der animale Pol weist bereits eine große Zahl von Blastomeren auf, bevor die erste Furche zum vegetativen Pol durchschneidet. Dagegen durchläuf Polypterus (Flösselhecht) eine totale, fast äquale Furchung. Die Furchung von Acipenser (Stör) ähnelt derjenigen der Amphibien. Anhand des Furchungstyps kann ein phylogenetischer Stammbaum erstellt werden (Abb. 29). Damit kann ein direkter Bezug zwischen Ontogenese und Abb. 28

Furchung bei Ganoiden und Dipnoern

Abb. 29 43

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1. Mosaikeier (verlorengegangene Keimbezirke können nicht reguliert werden; Ergebnis: anormale Embryonen) Teleostier (disocoidale Furchung) 2. Regulationseier (Keimbereiche können reguliert Es bildet sich eine Keimscheibe aus, die vom werden; Ergebnis: normale Embryonen) Dotter durch eine Furchungshöhle getrennt ist. Es muß jedoch betont werden, daß man nicht immer zwischen beiden Typen klar trennen kann. Elasmobranchier Wenn ich bei einem Regulationsei sehr große Die Eier der Haie und Rochen (Selachier) sind Eibereiche entferne, so kann ein solcher Verlust sehr dotterreich. Sie bilden ebenfalls eine Keim- natürlich nicht ohne Folgen bleiben. Neben der scheibe aus. Da Selachier physiologische Poly- Quantität des Verlustes spielt auch die Qualität des spermie zeigen, sorgen die überzähligen Sperma- entfernten Materials (Keimregion) eine wesentlikerne als Merocyten für einen Abbau des Dotters. che Rolle. Weiterhin konnte gezeigt werden, daß auch in Mosaikeiern Regulationen bis zu einem gewissen geringen Grade möglich sind. Sauropsiden (Reptilien und Vögel)

Meroblastier

Die Keimscheibe ist weniger stark vom Dotter abgesetzt als bei den Teleostiern und Selachiern. Wie bei den Fischen kommt es zur Bildung eines Dottersyncytiums. Dotter unter der Keimscheibe wird verflüssigt, so daß die Subgerminalhöhle entsteht. Säugetiere (Totale Furchung)

Beispiele für Mosaikeier Mollusca (Ilyanassa), Annelida und Tunicata Wird bei Anneliden die Blastomere 4D entfernt, so fehlt der Larve später das Mesoderm. Das ist das Keimblatt, aus dem bei den Wirbeltieren Chorda, Muskulatur, Nieren, Herz und Blutzellen hervorgehen.

Der Dottervorrat bei den höheren Säugetieren ist gering (dotterarme Eier). Jedoch sind die Eier noch dotterreich bei den niederen Säugern.

Furchungstypen Der Furchungstyp ist von wesentlicher Bedeutung, weil bereits zu diesem frühen Entwicklungszeitpunkt die späteren Embryonalbereiche festge legt werden. Dabei ist zu unterscheiden, ob aus bestimmten Blastomeren immer nur ganz definierte Körperbereiche entstehen oder ob unter bestimmten Bedingungen (z.B. Defekten des Eies durch äußere Einwirkungen) diese Organbezirke durch andere Eibereichen ersetzt werden können. Wir unterscheiden deshalb:

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Ich weise nochmals auf das Anstichexpe- Schritte beobachten: riment von Roux hin, das auf einen Mosaikcharakter des Amphibienkeims hin- 1. Interphase zudeuten schien. 2. Prophase 3. Metaphase Wenn beim Seeigel in späteren Stadien 4. Anaphase ganze Keimbereiche entfernt werden, so 5. Telophase. gibt es mehr oder weniger große Ausfälle. Dabei zeigt sich jedoch, daß bestimmten Die frühere Bezeichnung Ruhephase - RuBlastomeren besonders große Bedeutung hekern anstelle der Interphase ist nicht korzukommt. Bei der weiteren Furchung er- rekt, da in dieser Periode die DNA-Synthehält man beim Seeigel sogenannte Mikro- se erfolgt. und Makromeren, die in Zellkränzen ange- Im sich furchenden Ei erfolgen die Mitosen ordnet sind. sehr rasch hintereinander. Es gibt keine langen Pausen wie bei älteren Geweben, Furchung (allgemeine Prinzipien) bei denen die Interphase recht lange dauern kann (G1-, G2-, S-Phase). Ebenso wie in Unter Furchungsstadien verstehen wir 2, embryonalen Zellen erfolgt die DNA4, 8, 16, 32 - Zellstadien. Im Morula - Synthese in nicht embryonalen Zellen in Stadium (Maulbeerstadium) sieht der Keim einer speziellen Periode der Interphase, und aus wie eine Maulbeere. Es folgt das zwar in der sogenannten S-Phase. Sofort Blastula -Stadium (Blasenkeim). Der Keim nach der Zellteilung enthält der Nucleus besitzt jetzt ein sogenanntes Blastocoel den diploiden Gehalt (2c) an DNA. Keine (Keimhöhle). DNA-Synthese erfolgt in den folgenden Die Zellteilung während der Stunden, der sogenannten G1-Phase (G = Frühentwicklung bei Amphibien läuft Gap: Unterbrechung). Darauf folgt die Phazunächst synchron später asynchron ab. se der DNA-Verdoppelung, die sogenannte Vor allem im vegetativen, dotterreichen S-Phase, in der ein DNA-Gehalt von 4c Bereich des Keimes erfolgt die Zellteilung (das ist das Vierfache des Wertes bei Sperlangsamer. Die Zellteilung (Mitose) verläuft matozoen) erreicht wird. Auf die S-Phase, bei embryonalen Zellen nach ähnlichen die einige Stunden dauert, folgt die G2Prinzipien wie bei sich noch teilenden Zel- Periode. Dieser Ruhephase, während der len im adulten Organismus, es gibt aber so sich am DNA-Gehalt nichts ändert, folgt gut wie keine G-Phasen. die eigentliche Zellteilung. Einige Zellen Wir können folgende klar definierbaren teilen sich nie mehr [z.B. Nervenzellen des

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Gehirns]. Man sagt, daß sie sich in Go befinden. Mittlerweile gibt es neuere Hinweise, die auf die Teilungsfähigkeit bestimmter Gehirnzellen hinweisen. Der Hauptunterschied zwischen sich teilenden Eiern und anderen Zellen ist folgender: Die Interphase ist kürzer, so daß G1 und G2 praktisch fehlen. Mit anderen Worten: das sich teilende Ei repliziert seine DNA mit voller Geschwindigkeit genauso wie Bakterien. Nur wenn die Kerne der Blastomeren tatsächlich in der Mitose (Metaphase, Anaphase) sind, erfolgt keine DNASynthese. Nach Beendigung der frühembryonalen Furchungsperiode nimmt die Mitose-Aktivität ab und es stellt sich ein "typischer" Zellzyklus ein. Die Gründe für die große Leistungsfähigkeit der Eier (im Gegensatz zu nichtembryonalen Zellen), DNA zu synthetisieren, sind folgende: 1. Die gesamte Maschinerie für die DNASynthese ist bereits im befruchteten Ei vorhanden: a) in großen Mengen DNA-Polymerase, das Enzym, das die neue komplementäre Polynucleotid-Kette an der DNA-Matrize (ein Strang des Doppelstrangs) synthetisiert. Bei jeder Zellteilung wandert die DNA-Polymerase aus dem Cytoplasma in den Zellkern. Der Zygoten-Kern und jeder einzelne Blastula-Kern hat den gleichen DNA-Polymerase-Gehalt zur Verfügung. Bei nichtembryonalen Zel-

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schiedliche Gene aktiviert werden. Folglich finden sich in den verschiedenen Zellen im Laufe der Embryogenese und Differenzierung zu adulten Geweben (Organen) Variationen in der Art der synthetisierten m-RNA und folglich der translatierten Proteine. Bei den beiden klassischen Experimenten Aufgrund unseres heutigen Wissens über von Spemann, die die Pluripotenz (Konstanz die Vorgänge bei der Mitose, vor allem des genetischen Materials) demonstrierten, unserer Kenntnisse der biochemischen handelt es sich um das: Abläufe (DNA-Struktur und identische Replikation), ist klar, daß jede neu entste- 1. Schnürungsexperiment hende Zelle immer wieder den gleichen Beweis: keine ungleiche Verteilung der geBestand an genetischer Information erhält. netischen Information für linke bzw. rechte Ich hatte schon kurz erwähnt, daß diese Körperhälfte Auffassung im 19. Jahrhundert, bevor man etwas von DNA wußte, keineswegs verbreitet war. Man nahm vielmehr eine un- 2. Experiment der verzögerten Kernversorgleiche Verteilung von Kernmaterial an, gung einer Eihälfte. Beweis der woraus dann die unterschiedliche Entwick- Kernäquivalenz: auch nach mehreren Milung der einzelnen Zellen erklärt wurde. tosen besitzt jeder Zellkern noch die geDaß das aber keineswegs so ist, konnte samte genetische Information, um die Entbereits durch die klassischen Versuche von wicklung eines vollständigen Embryos zu Spemann gezeigt werden (Versuch der ver- realisieren (Abb. 7 ). zögerten Kernversorgung). Ich möchte noch anmerken, daß die Differenzierung der verschiedenen Zellen, wie wir heute wissen, nicht auf einer ungleichen Verteilung des genetischen Materials beruht, sondern auf Unterschieden im Cytoplasma der einzelnen embryonalenen Zellen. Dort nämlich befinden sich Regulationsfaktoren (Unterschiedliche Verteilung im Ei), die dafür sorgen, daß verschiedene Bereiche des DNA-Stranges abgelesen, d.h. unter-

len ist das nicht der Fall. Sie müssen erst vor der Zellteilung das Protein (Enzym) DNA-Polymerase neu synthetisieren. Das benötigt Zeit und erklärt die Notwendigkeit der G1-Periode. b) Nukleotide, ATP, weitere Enzyme (z.B.Ligasen), etc.

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Furchungstyp in Korrelation zur Dottermenge und Dotterverteilung Dottermenge Dottermenge

Furchungstyp

Tiere

alecithal - oligolecithal* total,adäqual (Abb.30α) Viele Wirbellose (dotterfrei - dotterarm)

Branchiostoma,Säuger (Mammalia)

mesolecithal* (mäßig dotterreich)

total, inäqual(Abb.30ß) Viele Amphibien, Ganoiden (Stör, Knochenhecht, Schlamm fisch), Petromycon (Neunauge) Dipnoer (Lungenatmer: Neoceratodus, Protopterus, Lepidosiren)

polylecithal** (dotterreich)

partiell, discoidal (Abb. 30 γ)

polylecithal**

partiell, superfiziell die meisten Arthropoden (Abb. 30 δ ) (Insekten, Spinnen, viele Crustaceen, Myriopoden)

Myxine, Selachier, Teleostier, Gymnophionen (Blindwühlen [Amphibia]), Reptilia, Aves, Monotremata

* Holoblastische Furchung **Meroblastische Furchung

Tabelle 1

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Abb. 30

Dotterverteilung Dotterverteilung

Furchungssymmetrie

Tiere

isolecithal

Rotationssymmetrie

Säuger

(gleichmäßige

radiär

Echinodermata, Branchiostma

Verteilung)

spiral

Mollusca (die meisten), Annelida , Plattund Rundwürmer

bilateral

Ascidien (Seescheiden)

discoidal

Cyclostoma, Pisces, Amphibia, Reptilia, Aves, Monotremata Cephalopoda

anisolecithal (ungleichmäßige Verteilung) A. telolecithal (an einem Pol des Eies angehäuft)

bilateral

B. centrolecithal superfiziell (im Zentrum des Eies)

Insekten, Spinnen, Krebse, Tausendfüßler

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Wirbeltierentwicklung am Beispiel der Amphibien (s. auch Videofilm: Kurze Sequenzen auch auf unserer WEB-site: http://www.uni-essen.de/zoophysiologie Die Normogenese (Ontogenese) der Wirbeltiere kann in folgende Entwicklungsphasen eingeteilt werden: 1. Furchung einschließlich Morula- und Blastula-Bildung bei Amphibien, Blastocyste bei Säugern) 2.Gastrulation 3.Neurulation 4.Organogenese

Abb. 31 Furchung des Amphibienkeimes Furchung

Es handelt sich bei den Amphibienembryonen um Holoblastier im Gegensatz zu Meroblastier (Elasmobranchii [Haie, Rochen],Teleostei [Knochenfische], Sauropsiden [Reptilien, Vögel]. Bei den Amphibienkeimen haben wir es mit einer totalen inäqualen Furchung zu tun. Der gesamte Dotter wird in den Keim einbezogen. Die 1. Furche erfolgt meridional beginnend vom animalen Pol (Abb. 31). Die Durchschnürung des Eies erfolgt in Richtung des vegetativen Pols langsamer aufgrund des hohen Dottergehalts. Ergebnis: 2-Zellstadium. Die 2. Furche, senkrecht zur 1. Furche,verläuft ebenfalls meridional, so daß das 4-Zell-Stadium entsteht. Die 3. Furche ist eine äquatoriale Furche und zwar nicht genau am Eiäquator, sondern über dem Eiäquator; deshalb die Bezeichnung "inäquale Furchung". Die Mito-

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sen verlaufen z.B. bei Triturus vulgaris (Teichmolch) oder Triturus alpestris (Alpenmolch) in den ersten 5 Teilungsschritten streng synchron. Die Kerne sind immer in der gleichen Phase. Ab 32-Zellstadium wird diese strenge Synchronie weitgehend aufgehoben und geht in der grobzelligen Blastula vollständig verloren. Gastrulation: Auf die Furchung folgt die Gastrulation. Fragen wir uns, welche Bedeutung das Gastrulationsgeschehen für die Primitiventwicklung hat. Sehr simpel und zusammenfassend kann man feststellen: Aus dem bis dahin einschichtigen Blasenkeim wird während der Gastrulation der 3-keimblättrige Embryo gebildet. Das gilt nicht nur für die Amphibien, sondern für alle höheren Vertebraten einschließlich Mensch. Bei der Furchung wird der Keim in einzelne Kompartimente zergliedert. Während der Gastrulation aber kann man massive Zellbewegungen feststellen. Nach der Gastrulation ( in der anschließenden Neurulation und Organogenese) erfolgen keine dramatische Zellwanderungen mehr. Während der sogenannten Organogenese findet lediglich eine Differenzierung (Histogenese)der Zellen, Gewebe und Organe bis zum adulten Endzustand statt, ohne daß äußerlich noch völlig neue Veränderungen festzustellen sind. Diese Aussage gilt jedoch nicht für Prozesse der Metamorphose (Kaulquappe zum Frosch; Insektenmetamorphose: Holometabole Entwicklungsweise). Durch Vogt’s Vital-Farbmarkierungsexperimente(1923-1929) konnten diese Zellwanderungsprozesse in deskripter Weise elegant aufgeklärt werden (Methode: mit Agar-Blöcken, die mit Nilblau-Sulfat oder Neutralrot getränkt waren, wurden Farbmarkierungen auf die Eioberfläche gestempelt). So konnten die Zellbewegungen während der Gastrulation genau verfolgt werden. Einige Dinge sind allerdings auch ohne Farbmarkierung deutlich zu erkennen und zu verfolgen. Der Gastrulationsbeginn wird sichtbar durch das Auftreten des

Urmundes(Abb. 32 a, α, 33 A, E). Die Neurulation ist äußerlich an der Bildung der Neuralfalten zu verfolgen (Abb. 34). Während der Gastrulation, deren wesentliche Abläufe man von außen nicht verfolgen kann, wird das Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) induziert(Abb. 30B, C,D, F,G,H). Bei diesem Prozess handelt es sich um eine komplizierte Signalkette und damit wie bei der Krebsproblematik um ein zentrales Problem der modernen Zellforschung. Es kommt in dieser Periode zu einem komplexen Zusammenspiel von Wachstumsfaktoren (Induktionsfaktoren) und regional- und stadienspezifisch exprimierten Genen. Der Urmund wird kenntlich durch die Konzentrierung von Embryonalpigment in der dorsalen Keimregion, da die Zellen in dieser Zone flaschenförmigige Gestalt annehmen (Abb.35 A). Dadurch werden die Zellen an ihrer Außenseite (Keimoberfläche) dunkler und somit wird der sichelförmige Urmund erkennbar. Dann erfolgt die sogenannte Invagination oder besser Involution, das Einwandern von Zellmaterial in das Keiminnere, und zwar so, daß der bis jetzt einschichtige Keim 2-schichtig* wird (Abb. 35). *Anmerkung: In Wirklichkeit besteht das Ektoderm bei Anuren , also auch bei Xenopus (Südafrikanischer Krallenfrosch) , aus mehreren Zellagen (Asashima und Grunz, 1983). (Abb. 33 E,F; vergl. Urodela 33 A,B). Durch Vogt’s Farbmarkierungs-Experimente konnte für die Gastrula ein Anlagen-Plan aufgestellt werden. Danach kann man bereits in der frühen Gastrula Aussagen darüber machen, welcher Keimbereich sich zu bestimmten Organen oder Geweben der Larve oder adulten Organismus entwickeln wird (Abb. 36, 37, 38, 39, 40). Und zwar geht hervor aus dem: Ektoderm: präsumptive Epidermis und Neuralstrukturen (Gehirn, Rückenmark)

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Abb. 32 Gastrulation bei Amphibien (Urodela)

Abb. 34 Neurulation

Mesoderm: Chorda, Muskulatur, Herz, Blutzellen, Niere etc. (Text weiter auf Seite 44) Entoderm: Darm und Anhangorgane (Pankreas, Leber, Lunge, etc). Ähnliche Anlagepläne hat man auch bei allen übrigen Vertebraten aufgestellt (Abb. 34).

Das Schicksal der 3 Keimblätter (Die folgenden Aussagen sind allgemeingültig für alle Wirbeltiere) Es gehen hervor aus dem: EKTODERM 1a)

Abb. 33 Vergleich der Gastrulation bei Urodela (links) und Anura (rechts)

b) c) d) e) f)

Epidermis mit Anhangsorganen: Haare, Nägel, Schweiß-, Talg- und Milchdrüsen Epithel der Mundschleimhaut und Drüsen Schmelzkappen der Zähne Vorderer Lappen der Hypophyse (Adenohypophyse) Epithel der Nasenschleimhaut und das Epithel des Afters

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g) i) ii)

2. a) b)

3.

4.

Epithel des Sinus urogenitalis Scheidenvorhof bis zum Hymen (im weibl. Organismus) Vorderer Teil des Harnröhrenepithels (im männl. Organismus) Zentrales und peripheres Nervensystem einschließlich Gliagewebe Sinnesepithelien der Nase, des inneren Ohres, des Auges und eines Teils der Geschmacksorgane Im Auge: Tapetum Linse Teil des Glaskörpers Muskeln der Iris

Abb. 35 Urmundlippenbereich bei Xenopus laevis (Anura)

Epithelien des Amnions und Chorions (vorübergehende Funktion während der Embryonalentwicklung; nach dem Schlüpfen oder der Geburt werden die extraembryonalen Hilfsstrukturen nicht mehr benötigt)

MESODERM 1. Skelettmuskel- und Bindegewebeapparat einschließlich: a) Knorpel b) Dentin der Zähne c) Sekundäre Hüllen aller endothelialen und epithelialen Gänge und Leitungsgebilde 2.

3.

Urogenitalsystem einschließlich: Rindenschicht der Nebenniere (Markschicht wird von Ganglienleisten-Derivaten gebildet. (ausschließlich: Epithel der Harnblase und der Harnröhre Blut- und Gefäßsystem einschließlich: Herz, Abb. 36 Vergleich der Gastrulation bei verschiedenen Wirbeltieren Lymphknoten, Lymphgefäße und Milz

Fortsezung auf Seite 55

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Anlagepläne im frühen Gastrulastadium

Abb.38 Darstellung der Differenzierungsleistungen während der Normalentwicklung (Normogenese [prospektive Bedeutung]).

Abb. 37 Anlagenpläne bei verschiedenen Wirbeltieren Abb. 39 Darstellung der autonomen Differenzierungsleistungen der einzelnen Areale der frühe Abb. 39 Anlagenplan für einzelne Keimbereiche Gastrula, d.h. bei Isolierung (Explantation) können unter in vitro-Kulturbedingungen [prospektive sich diese Bereiche ohne Zellinteraktionen mit Potenz] Nachbarzonen in bestimmter Weise differenzieren (prospektive Potenz). Abb.40 Anlagenplan, wie er in dieser oder ähnlicher Form in neueren Publikationen dargestellt wird. Berücksichtigt wurden hier neuere Erkenntnisse darüber, wo bestimmte Induktionsfaktoren (Wachstumsfaktoren) in der dorsal vegetativen oder ventral vegetativen Zone lokalisiert sind oder nach der mittleren BlastulaPhase (midblastula transition = MBT) bestimmte Abb. 40 Anlagenplan mit Angaben, wo bestimmte Gene angeschaltet werden. Gene in der frühen Gastrula exprimiert werden. 54

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Fortsetzung von Seite 53 4.

Extraembryonale Bindegewebe der Embryonalanhänge

lich Mensch sehr ähnlich verlaufen. Ergebnis der Formbildung nach Abschluß der Gastrulation; der folgende für die Wirbeltiere typische Bauplan ist angelegt worden:

ENTODERM

1. Medullarrohr (Gehirn und Rückenmark) 2. Neuralleisten 1. Epithel des Magen- und Darm-Kanals (Aus- 3. Chorda dorsalis nahme: die oben erwähnten vom Ektoderm 4. Ursegmente: Somiten/Seitenplatten gelieferten Anhangsorgane): 5. Darmrohr a) Geschmacksknospen b) Leber c) Pankreas d) Schilddrüse e) Epithelkörperchen (Parathormon) f) Thymus g) Branchialkörperchen h) Tuba auditiva i) Mittelohr Abb. 41 k) Kehlkopf l) Luftröhre zu 2. Aus den Neuralleisten-Zellen gehen hervor: m) Bronchien a) Neurone und Gliazellen des sensorischen, n) Lungen sympathischen und parasympathischen Ner 2. Epithel der Harnblase und Harnröhre (Ausvensystems. nahmen: s. unter Ektoderm b) die Epinephrin (Adrenalin)-produzieren 3. Epithel des Dottersackes und der Allantois den Zellen des Nebennierenmarks. (vorübergehende Funktion während der c) die Pigment-bildenden Zellen der EpiEmbryonalentwicklung) dermis. Das Endergebnis ist am Ende der Gastrulation: d) Skelett- und Bindegewebe des KopfbeEntoderm und Mesoderm liegen innerhalb des reiches Keims. Äußerlich sieht man den Fortgang des zu 3. Chorda: (embryonale Wirbelsäure) verProzesses am Kleinerwerden des Dotterpropfes. schwindet später bis auf Reste innerhalb der Das Entoderm verlagert sich vollständig ins KeiWirbelkörper, welche sich um die Chorda minnere. herum entwickeln. Dies geschieht bei den verschiedenen Vertebraten in unterschiedNeurulation lichem Ausmaße (vgl. Lehrbücher der ver gleichenden Anatomie und Morphologie der Nach der Gastrulation erfolgt die Neurulation. Die Wirbeltiere (z.B. Romer). Neurulation beginnt mit dem Sichtbarwerden der zu 4. Aus den Ursegmenten geht der gesamte Neuralplatte, auch Medullarplatte genannt. Das ist Skelett- und Muskelapparat des Körper, die Region, die von Chordamesoderm unterlagert sowie der bindegewebige Stützapparat herwird und aus der das Zentralnervensystem hervorvor. Aus dem visceralenMesodermblatt geht. Ich weise schon jetzt darauf hin, daß diese (Splanchnopleura) entsteht die äußere Prozesse bei den Vögeln und Säugern einschließ-

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Umkleidung des Darms. Aus dem äußeren parietalen Blatt (Somatopleura) geht die Basis (Grundlage) der Körperwand hervor. Beide sind durch die sekundäreLeibeshöhle, das Cölom, getrennt. zu 5. Aus dem Darmrohr (Entoderm) entwickelt sich der gesamte Darm mit Anhangdrüsen und Organen von Mund bis After. After und Mund selbst sind dagegen ektodermalen Usprungs.

Klassische entwicklungsphysiologische Experimente Verschmelzung von zwei 2-Zell-Embryonen (Mangold/Seidel, 1927)

Dieses Experiment weist cytoplasmatische Gradienten nach, die bereits im ungefurchten Ei vorhanden sind. Der graue Halbmond kann als äußerliche Indikation solcher Gradienten dienen, ist aber nicht exakt mit der Lokalisation bestimmter Stoffe identisch. Bei dem Schnürungsexperiment von 2-Zellstadien ging aus weniger mehr hervor. In dem hier beschriebenen Experiment zeigt sich, daß die Regulation auch in umgekehrter Richtung verlaufen kann: aus mehr wird weniger, d.h. es wird nur ein Embryo, wenn auch wesentlich größer als im Abb. 42 Schwanzknospenstadium Normalfall, gebildet. Abb.44 A. werden zwei Keime im 2-Zellstadium Organogenese (hantelförmige Verformung in bestimmten Kulturmedien) miteinander verschmolzen, bildet Wie der Name schon sagt,, kommt es im Laufe der sich unter speziellen Bedingungen ein einziger weiteren Entwicklung zur histotypischen vergrößerter Embryo (Zellmasse doppelt so groß (gewebetypischen) Differenzierung der Organe wie ein Einzellkeim). Ob aus den Kombinationen und Gewebe. nur ein Embryo oder Doppel- bzw. Mehrfachbildungen hervorgehen, hängt davon ab, in welcher Ebene die erste Furchung erfolgt. Neben dem sehr häufigen Typ in Richtung der zukünftigen Sagittalebenen des Embryos (Abb. 45 b und ß) sind noch weitere Furchungsebenen möglich (a, α und c). Bei b und ß wird das Keimmaterial durch die erste Furchung gleichmäßig auf die linke und rechte Blastomere verteilt (vergleiche Schnürungsversuche in 2-Zellstadium oder in der früheren Gastrula [in Sagittalrichtung]). Nur in solchen Kombinationskeimen, in denen die Abb. 43 Organogenese zukünftigen Urmundlippenregionen beider ursprünglicher Keime benachbart zu liegen kommen, ergibt sich ein einziger vergrößerter Keim (siehe Kombinationen a β = 2 (Abb.45 D,E), evtl. auch noch a α = 1. 56

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Andere Kombinationen, z.B. 4 oder 6 ergeben mehrere Chorda- und Neuralrohrbildungen (siehe Abb. 44 G,H).

Abb.44 Verschmelzungsexperiment von 2 Embryonen im 2-Zellstadium

Abb. 45 Verschiedene Ergebnisse nach Verschmelzung von 2 Embryonen im 2Zellstadium (Erklärung siehe Text)

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Experimente zu Fragen nach der Determination der Embryonalgewebe 1. Explantationsexperimente 2. Exogastrulation-Experiment (Holtfreter, 1933) 3. Transplantationsexperimente zu 1. Explantationsexperiment (Sandwich-Experiment) Isoliertes Ektoderm entwickelt sich zu atypischer Epidermis. Nach Induktion mit Induktionsfaktoren kann es aber neurale, mesodermale und entodermale Derivate bilden. Andere Bezirke → z.B. die dorsaleUrmundlippe differenziert sich autonom zu Chorda und Muskulatur (Abb. 58, 76). Mit diesen Experimenten läßt sich klären, welche Embryonalbereiche bereits in ihrer Entwicklung festgelegt (determiniert) sind und welche Bereiche noch zu einem bestimmten Zeitpunkt der Embryonalentwicklung in ihrer Differenzierungsmöglichkeit verändert werden können. Auch heute sind die Begriffe prospektive Bedeutung und prospektive Potenz für die zusammenfassende Benennung selbst molekularbiologischer Abläufe sehr nützlich. Prospektive Bedeutung beschreibt die Fähigkeit von Zellen und Geweben, sich so zu entwickeln, wie es in der Normalentwicklung (Normogenese) der Fall ist. Prospektive Potenz beschreibt die Fähigkeit von Zell- und Gewebearealen, sich abweichend von ihrer normalen Differenzierungsleistung zu entwickeln. Die prospektive Potenz einer Zelle oder eines Gewebebereichs kann größer oder geringer sein als es gemäß ihrer prospektiven Bedeutung der Fall wäre. So differenziert sich isoliertes Neuroektoderm (präsumptives [zukünftiges] Zentralnervensystem) zu Epidermis. In diesem Falle ist die prospektive Potenz des Keimbereichs nach seiner Isolation

geringer als gemäß seiner prospektiven Bedeutung. Behandelt man aber die zukünftige Bauchepidermis (Ventrales Ektoderm) nach der Isolation mit bestimmten Induktionsfaktoren, so kann sich dieses Gewebe zu Gehirn, Chorda, Muskel oder Darm entwickeln. In diesem Fall ist die prospektive Potenz des Ektoderms (präsumptive Epidermis) größer als es gemäß der prospektiven Bedeutung der Fall wäre. Die Begriffe Prospektive Bedeutung und Prospektive Potenz können auch an Furchungsstadien des Amphibieneies (Regulationstyp) und vonMollusken oder Anneliden (Mosaiktyp) erklärt werden: Betrachten wir ein 2-Zellstadium der Amphibien. Wir wissen, daß aus jeder der beiden Blastomeren in der Normogenese eine Körperhälfte hervorgeht. Im Schnürungsversuch entwickelt sich aus jeder der beiden Blastomeren eine vollständige Larve. In diesem Falle ist die Prospektive Potenz der einzelnen Blastomere größer als ihre Prospektive Bedeutung. Bei Regulationseiern (z.B. Amphibien) ist die prospektive Potenz bestimmter Keimbereiche auch in der späteren Embryonalentwicklung größer als gemäß ihrer prospektiven Bedeutung. Bei Mosaikeiern ist dieDetermination [ prospektive Bedeutung] der meisten Zellen unwiderruflich festgelegt, d.h. bei Zerstörung fällt ein Körperoder Organbereich aus. Deshalb gilt für für Mosaikeier: die Prospektive Potenz ist gleich der Prospektiven Bedeutung. zu 2. Exogastrulation : Ektoderm differenziert sich zu atypischer Epidermis statt zu Gehirnstrukturen. Da das Mesoderm nicht in das Keiminnere verlagert wird, fehlt die Induktionsaktivität des Chordamesoderms, das das Neuroektoderm während der Gastrulation unterlagert.

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Abb.46 Exogastrula-Versuche

Werden Axolotl-Embryonen (Ambystoma mexicanum = Mexikanischer Molch) ab ca. 16-32 Zellstadium in hypertoner Kulturlösung (erhöhte Salzkonzentration) gehalten, so kommt es zu sogenannten Exagastrulae. Das Mesoderm (einschließlich Spemannscher Organisator [dorsale Urmundlippe = Chordamesoderm]) wandert unter diesen Bedingungen nicht in das Keiminnere ein (wie bei der normalen Gastrulation), sondern das gesamte Mesoentoderm separiert sich vom Ektoderm. Dadurch unterbleibt die Unterlagung des Neuroektoderms durch das Mesoderm, so daß die Neuralinduktion unterbleibt. Das Ektoderm differenziert sich lediglich zu atypischen Epidermis, das Mesoderm autonom zu Chorda und Somiten. Dieses Experiment von Holtfreter (1933) wies nach, daß für die neurale Induktion (Gehirnbildung) die Interaktion von Ektoderm und Mesoderm erforderlich ist, und zwar durch vertikale Signale zwischen Chordamesoderm und Neuroektoderm (Abb. 46). Wir konnten diese Ergebnissean Axolotl bei einem weiteren Vetreter der Urodela (Triturus alpestris) bestätigen. Aber auch bei Xenopus laevis (Südafrikanischer Krallenfrosch), ein Vertreter der Anura spielen

Abb.47 Die wichtigsten biologischen Testmethoden (Beschreibung siehe nächste Seite)

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offensichtlich planare Induktionsprozesse vor Beginn der Gastrulation eine untergeordnete Rolle (Grunz, Schüren, Richter, 1995). Dies konnte in vergleichenden Untersuchungen (Xenopus versus T.alp.) mit mehreren molekularen Markern wie Pax-6, engrailed-2, otx2, cerberus etc. gezeigt werden (Chen , Hollemann, Pieler, Grunz (1999), im Druck in dem Journal MOD [Mechanisms of Development]).

Abb.47 Die wichtigsten biologischen Testmethoden A. Implantationsmethode (Einsteck-Versuch) nach Hans Spemann und Hilde Mangold (1924). In das Blastocoel einer frühen Gastrula kann entweder dorsale Urmundlippe (Spemannscher Organisator) oder Induktionsfaktoren, gebunden an präzipitiert es γ -Globulin (Trägerprotein) implantiert werden. Es bilden sich dann sekundäre Strukturen auf derBauchseite des Wirtsembryos (vergleiche Abb. 57, 55 A-C). B. Sandwich-Test nach Holtfreter (1934). Animale Kappen (omnipotentes Ektoderm) werden aus mittleren bzw. späten Blastulae oder frühen Gastrulae isoliert und der zu testende Induktor (gebunden an ein Trägerprotein) zwischen beiden Stücken eingeschlossen (Abb.49 a). C. Nucleopore -Filterkammer Nicht-präzipitierte (= lösliche) Induktionsfaktoren zeigen nur einen Effekt, wenn sie mit der ehemals dem Blastocoel zugewandten Seite des Ektoderms in Kontakt kommen. Weiterhin weist das Ektoderm einen Abkugelungseffekt auf, wodurch das Eindringen des Induktors unmöglich gemacht wird. Um das Ektoderm am Abkugeln zu hindern, wird es mittels eines permeablen Filters auf dem Substrat fixiert, ohne daß es zerquetscht wird. D. Test von Induktionsfaktoren (z.B.FGF oder Aktivin) in speziellen Mikrotestplatten für sehr geringes Volumen (5-10 µl) (Grunz, et al., 1988) E. Disaggregationsversuche (Grunz, 1969; Minuth und Grunz, 1980; Grunz und Tacke, 1989) F. Präparation von Pseudoexogastrulae zur Klärung der Frage nach planaren oder vertikalen Signalen während der primären Schritte der neuralen Induktion (Chen, Hollemann, Pieler and Grunz, 1999).

zu 3. Spemanns klassische Austauschexperimente bei Molchembryonen (heteroplastische Transplantation) Abb. 48 Austausch von dorsalem Ektoderm (Neuroektoderm, präsumptiver Gehirnregion) und ventralem Ektoderm (präsumptiver Bauchepidermis) a) in der frühen Gastrula erfolgt eine ortsgemäße Entwicklung b) in der späten Gastrula erfolgt eine herkunftsmäßige Entwicklung des Transplantats Experimente zu Beginn der Gastrulation: Abb. 48 a - c, a' - c' Experimente am Ende der Gastrulation: α - γ, α'- β' Triturus vulgaris (Teichmolch = viel braunes Embryonalpigment [braunschwarz]): a - c, α, β; Triturus cristatus (Kammolch = fast kein Embryonalexperiment [weiße Embryonen]): a' c',α', β', γ Die sogenannte heteroplastische Transplantation (Gewebeaustausch zwischen zwei Species) wurde gewählt, um das Spender- und Wirtsmaterial bis zur Differenzierung der Derivate verfolgen zu können. Wird in der frühen Gastrula präsumptive Gehirnregion (Neuroektoderm) in den präsumptiven Epidermisbereich eines Wirtsembryos und vice versa transplantiert [a-c, a'-c'], so entwickelt sich das Transplantat ortsgemäß, da beide, Neuroektoderm und Ektoderm noch nicht endgültig determiniert sind (weitere Erklärungen, z.B. Bedeutung der Kompetenz während der Vorlesung) Im späten Gastrula/frühen Neurula[α - γ, α'- β'] ist das anteriore Neuroektoderm durch das unterlagernde Chordamesoderm bereits zu Gehirn determiniert (α). Das ventrale Ektoderm ist ebenfalls schon determiniert, aber zu Bauepidermis (α'). Beide Transplantate entwickeln sich nun

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herkunftsgemäß, i.e. Gehirn (Auge) [β',γ] bzw. Epidermis [β]. Das Ergebnis ist 1. die Differenzierung von Epidermis innerhalb der Gehirnregion, also ein Fehlen bestimmter Teile des Gehirns (β; endgültige Differenzierung ohne Abbildung) bzw. 2. die Differenzierung eines zusätzlichen Auges in der Bauch-Rumpfregion des Wirtskeimes (γ). zu 3. Xenoplastische Austauschexperimente Der Gewebeaustausch zwischen Anuren (Froschlurchen) und Urodelen (Schwanzlurche) wird als Xenoplastische Transplantation bezeichnet. Das Experiment wird in der Vorlesung detailliert diskutiert. An diesem Beispiel können die Begriffe herkunftsgemäß, ortsgemäß, artsspezifisch, Kompetenz, Bedeutung der Spezifität des Reaktionssystems und art- Abb.48 Heteroplastische Transplantation übergreifende Induktionsaktivität besonders informativ erklärt werden (Abb.50, 51).

Begriff der Kompetenz Unter Kompetenz versteht man die Fähigkeit einer Zelle oder eines Gewebes auf einen Induktionsreiz (Signal) zu reagieren. Diese Fähigkeit hängt von der Art und dem Embryonalalter der reagierenden Zelle ab. Ektoderm aus der frühen Gastrula kann durch dorsale Urmundlippe (Spemann'sche Organisator) zu Gehirngewebe induziert werden, nicht aber Ektoderm aus der späten Gastrula. Man sagt, daß das Ektoderm der späten Gastrula die Kompetenz verloren hat, auf Induktionssignale zu reagieren. Durch Proteinsynthesehemmer kann der Kompetenzverlust für eine bestimmte Zeit verzögert werden (Publikation:Grunz, 1970). Momentan werden in der Forschung die molekularen Mechanismen untersucht, wie es zum Kompetenzverlust einer Zelle kommt. Infrage kommen der Verlust von spezifischen Rezeptoren (Liganden für Wachs-

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tums- oder Induktionsfaktoren) auf der äußeren Zellmembran oder Aktivierung von Inhibitormechanismen innerhalb der Zelle. Das Spemannsche Transplantationsexperiment (Abb.48) kann sowohl die Begriffe Kompetenz als auch die Definitionen Ortsgemäße Entwicklung und Herkunftsgemäße Entwicklung verdeutlichen.

Zellaffinität Unter Zellaffinität versteht man die Fähigkeit der Zellen, gleich- oder verschiedenartige(Nachbar-) Zellen zu erkennen. Gleichartige Zellen bilden Keim- oder Gewebeverbände, während sich verschiedenartige Zellen voneinander trennen. Bei diesen Erkennungsmechanismen spielt die äußere Zellmembran ([Glyko-]Proteine der Plasma- Abb.50 Xenoplastische Transplantation membran) eine entscheidende Rolle (Grunz, 1969). Wichtige Funktionen bei der Zellerkennung und Zellmotilität hat das Cytoskelett (Mikrotubuli und Mikrofilamente) in Wechselwirkung mit Komponenten der Plasmamembran. Die Zellaffinität von Ektodermzellen kann experimentell verändert werden (Publikation Grunz, 1972). Beispiele für die selektive Zellaffinität werden in der Vorlesung vorgestellt.

Abb. 51 Ergebnis einer Xenoplastischen Transplantation

Abb.49 Isolierung und Kombination von Ektoderm und Entoderm (Grunz, 1972)

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Während der Embryonalentwicklung (auch beim Menschen) kann es zu anormalen Veränderungen der spezifischen Zellerkennung kommen, wodurch Mißbildungen entstehen können (z.B. Hasenscharte, Spina bifida), weil bestimmte Zellund Gewebeareale keinen Kontakt zueinander aufnehmen. Zellerkennungsmechanismen spielen auch bei der Krebsproblematik eine Rolle. Unter bestimmten Bedingungen verlassen Zellen “verbotenerweise” ihren Zellverband und können als maligne Wanderzellen Tochtergeschwülste (Metastasen) bilden.

ursprünglichen (jetzt experimentell mesodermalisierten) Ektodermzellen mit Entodermzellen gemischt (Abb. 49 c), so verhalten sie sich wie Mesodermzellen, d.h. sie haben eine positive Affinität zu Entoderm erlangt. Statt sich von den Entodermzellen zu separieren, werden sie von den Entodermzellen umhüllt (Abb. 52b) (Grunz, 1972).

Werden Ektoderm- und Entodermzellen aus Blastula- oder frühen Gastrulastadien isoliert (Abb.49, 52) und miteinander vermischt, so kommt es innerhalb von 24 Stunden zu einer (Aus-) Sortierung (englisch: sorting out). Dies ist möglich, weil sich die Zellen amoeboid bewegen können (siehe meine Videofilm, der während der Vorlesung gezeigt wird). Nach 24 Stunden haben sich die Ektoderm-zellen vollständig von den Entodermzellen getrennt (negative Zellaffinität, Abb. 52 a). Werden dagegen Mesodermzellen mit Entodermzellen gemischt, “vertragen” sich beide Zellsorten miteinander und es bildet sich ein Reaggregat, bestehend aus Chorda und Somiten im Zentrum, umhüllt vom Entoderm (Abb. 49b). Mesoderm als mittleres Keimblatt weist eine Abb.52 Ergebnis der Kombination von Zellen positive Affinität sowohl zu Entoderm (inneres aus verschiedenen Keimblättern Keimblatt) wie auch zu Ektoderm (äußeres (Townes und Holtfreter, 1955) Keimblatt) auf. Werden Zellen aller drei Keimblätter miteinander gemischt, so ergeben sich pseudoembryoartige Gebilde, nämlich Ektoderm (Epidermis) außen, Mesoderm (Chorda, Muskulatur, Coelomepithel) in der Mitte und Entoderm (Darm) im Zentrum (Abb. 52d). Die Zellaffinität kann experimentell verändert werden (Grunz, 1972). Werden Ektodermzellen mit vegetalisierenden (mesodermalisierenden) Faktor [Aktivin] behandelt, so werden sie mesodermal induziert (Differenzierung von Chorda und Muskulatur, Abb. 49a). Werden solche

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Regionalspezifische Induktion durch verschiedene Bereiche der oberen Urmundlippe Mangold-Experiment, 1933 Verschiedene Bereiche der dorsalen Urmundlippe bzw. das invaginierte Chordamesoderm der späten Gastrula rufen in kompetentem Ektoderm unterschiedliche Induktionen hervor. So induziert der craniale Bereich der dorsalen Urmundlippe Kopfinduktionen, die caudale Zone aber Schwanzinduktionen (Abb. 53, 54)

Ähnliche Ergebnisse erzielt man, wenn craniales bzw. caudales Chordamesoderm aus der frühen Neurula, das in der Normogenese das darüberliegende Neuroektoderm zu Gehirn determiniert, im Einsteck-Versuch getestet wird. Der craniale Chordamesoderm-Bereich induziert im Wirtsembryo sekundäre Kopfbildungen, der caudale Bereich ruft Schwanzinduktionen hervor (Abb. 54).

Mittlerweile gibt es völlig neue Erkenntnisse über die Bildung des Organisators (Review: Dawid, 1992; Grunz,1992, 1993, 1996). Man hat kürzlich Gene identifiziert, die nur in der Organisatorregion exprimiert werden (XFD-1, XFKH-1, goosecoid, noggin, Abb. 40). Diese Gene sind wesentlich bei den ersten Schritten der Achsenbildung (Chorda, Somiten, Neuralrohr) beteiligt.

Abb.53

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Abb. 55Einsteck-Test (Vergl. Abb. 57 A, B''; 53b). Verschiedene Bereiche der dorsalen Urmundlippe (Spemannscher Organisator) wurden in das Blastocoel von Wirtsgastrulae von Triturus alpestris implantiert.

A. Der craniale und caudale Bereich der dorsalen Urmundlippe (Abb. 53 b) wurde implantiert in das Blastocoel einer frühen Gastrula. Es bildete sich ein fast vollständiger sekundärer Embryo. (Vergl. Organisatorexperiment von Hans Spemann und Hilde Mangold, Abb.57 G) B. Der craniale Bereich der dorsalen Urmundlippe (Abb. 53 b) wurde implantiert in das Blastocoel einer frühen Gastrula. Es bildete sich ein sekundärer Kopf. (Vergl. das Experiment von Otto Mangold, Abb. 54 d) C. Der caudale Bereich der dorsalen Urmundlippe (Abb. 53 b) wurde implantiert in das Blastocoel einer frühen Gastrula (vergl. Abb. 53b, 54c1). In Abb.54 wurde im Gegensatz zu meinem Experiment (caudale obere Urmundlippe, Abb. 53b) der caudale Bereich des Chordamesoderms (bereits eingewanderte caudale dorsale Urmundregion) als Induktor verwendet. Es bildete sich in beiden Experimentausführungen ein sekundärer Schwanzbereich.

(Experimente und Originalaufnahmen H.Grunz)

von

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Zwei-Gradienten-Hypothese von Toivonen und Saxén Es wurden Knochenmark (überwiegend mesodermaler Induktor) und Leberstücke (überwiegend neuraler Induktor) gleichzeitig oder alleine in Gastrulae implantiert oder im SandwichVersuch getestet. Leber allein induziert in kompetentem Ektoderm archencephale (Vorderhirn) Strukturen. Knochenmark allein induziert in kompetentem Ektoderm spinocaudale Strukturen (Schwanzstrukturen).

cranialen und caudalen Bereich bestimmte homeobox enthaltende Gene bzw. eine ganze Kaskade anderer Gene aktiviert werden, die bei der Festlegung (Determination) der verschiedenen Gehirn- und Körperregionen eine wesentliche Rolle spielen. Neben der Zwei-GradientenHypothese gibt es noch die AktivierungsTransformations-Hypothese von Nieuwkoop. In diesem Modell nimmt man an, daß das Ektoderm zunächst latent zu Vorderhirn determiniert (aktiviert) wird. Erfolgt keine weitere Information, geht aus dem Ektoderm Vorderhirn hervor. Setzt jedoch ein zeitlich versetzter mesodermaler Induktionsreiz ein (ebenfalls ausgehend vom Chordamesoderm), so kommt es zur Transformation des Ektoderms zu Mittel-/Nachhirn- und Schwanzregion-Derivaten. Man ist im Augenblick dabei, die molekularen Mechanismen dieser Prozesse aufzuklären. Dies ist nur mit Hilfe der modernen Gentechnik möglich. Aktivierungs Transformations-Hypothese (nach Nieuwkoop)

Abb. 56 Schematische Darstellung der Gradienten-Hypothese von Saxén und Toivonen Leber + Knochenmark induzieren deuterencephale Strukturen (Mittelhirn). Aus diesem Experiment wurde geschlossen, daß in der Normogenese zwei Induktionsprinzipien (Abb. 56,, mesodermale[M] bzw. neurale[N]) in bestimmten Konzentrationen (Gradienten) auf das Neuroektoderm einwirken müssen, um die anterioposteriore Embryonalachse zu realisieren. Ähnliche Ergebnisse wurden von der Gruppe Tiedemann mit angereicherten Proteinfraktionen (neural und mesodermal induziernde Faktoren ) erzielt. Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, daß während der Embryonalentwicklung im

Beim Einwandern des Chordamesoderms wird nach dieser Hypothese zunnächst das unterlagerte Neuroektoderm "aktiviert" (Activation), d.h. zu archencephalen Strukturen (Vorderhirn) determiniert. Die weitere Einwanderung des Chordamesoderms bewirkt dann im posteriroren und caudalen Bereich die "Transformation" von archencephalen zu deuterencephalen (Mittelhirn) und rhombencephalen (Hinterhirn) Strukturen.

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Induktion (Embryonale Induktion) Das Spemann / Mangold - Experiment (1924) Organisator oder Einsteckexperiment Bestimmte Bereiche des Embryos sind in der Lage, durch Zellinteraktionen kompetente Zellen in eine andere Differenzierungsrichtung zu lenken. So differenziert sich dorsale Urmundlippe autonom zu Chorda und Muskulatur, ist aber darüberhinaus in der Lage, Ektoderm zur Bildung des Zentralnervensystems zu induzieren. Der dorsale Urmundlippenbereich hat also die Funktion eines Induktors oder Organisators. Spemann hat diesen Bereich als Organisator bezeichnet, weil er an der Organisation des Achsensystems des entstehenden Embryos entscheidend beteiligt ist.

Das Spemann/Mangold - Experiment (neuerdings auch im englischen Sprachraum häufig als Einsteck-Experiment bezeichnet), für das Spemann 1935 den Nobelpreis für Experimentelle Medizin erhielt (Abb.57) , wird in der Vorlesung unter Berücksichtigung neuester Erkenntnisse genauer erklärt.Wird der Spemannsche Organisator (dorsale Urmundlippe) isoliert aufgezogen, so zeigt er ein typisches autonomes Elongationsverhalten( Abb. 58 A,b1,c1,d1). Diese Eigenschaft ist bei Randzonenmaterial weniger ausgeprägt (Abb.58B, e1, f1).Ein ähnliches Elongationsverhalten erlangt kompetentes Ektoderm, wenn es durch hohe Konzentrationen von Aktivin (Wachstumsfaktor der TGFß-Super-proteinfamilie) mesodermal induziert wird. Dieses induzierte Ektoderm differenziert sich wie der Spemannsche Organisatorbereich in Chorda und Muskulatur (Somiten).

Abb.57 Organisator- (Eisteck-) Experiment Abb. 58 (Spemann und Hilde Mangold, 1924). Nobelpreisfür Spemann (1935)

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Fragen nach den Mechanismen der Induktion

Frage nach der Natur der Induktionsstoffe

Es gab verschiedene Ansätze in der Geschichte der Entwicklungsbiologie, das Problem der embryonalen Induktion zu lösen. Die neurale Induktion (Bildung von Gehirnstrukturen) kann durch einfache chemische Substanzen wie Harnstoff und Methylenblau ausgelöst werden. Das könnte zu dem Trugschluß führen, daß für diesen Prozeß auch in der Normogenese keine spezifischen Informationsmoleküle notwendig sind. Das Problem ist jedoch viel komplizierter als ursprünglich erwartet und ist bis heute noch nicht bis in alle Einzelheiten gelöst. Man weiß mittlereweile, daß nicht nur das Induktionssystem (Chordamesoderm, Spemannscher Organisator), sondern auch das Reaktionssystem (Ektoderm, Neuroektoderm)bei der Bildung des Zentralnervensystems eine wesentliche Rolle spielen. Wird Ektoderm durch calciumfreie Kulturlösung in Einzelzellen zerlegt (disaggregiert) und erst nach 2-3 Stunden wieder zu größeren Zellverbänden zusammengeschüttelt (reaggregiert), so bilden sich aus diesen Zellaggregaten Gehirnstrukturen anstelle von Epidermis (Grunz und Tacke, 1989). Man weiß mittlerweile (seit 1995), daß BMP-4 die Neural entwicklung verhindert. Durch Interaktion von Faktoren in der Spemannschen Organisatorregion und BMP-4 kommt es zur Induktion des Zentralnervensystems (s. unten).

Man hat Lipide, Nucleinsäuren und schließlich Proteine in Betracht gezogen. Im Gegensatz zu den 30iger Jahren nahm man in den 40igern an, daß für so komplizierte Prozesse wie der neuralen Induktion nur Moleküle mit hohen Informationsgehalt infrage kämen (also nicht so einfache und unspezifische Substanzen wie Methylenblau). Deshalb hat man zunächst gedacht, Ribonukleinsäuren könnten als solche Induktionsfaktoren agieren. Mittlerweile weiß man, daß bei der Steuerung der mesodermalen und wahrscheinlich auch bei der neuralen Induktion Proteine als Informationsmoleküle wirksam sind. Zunächst hat man sogenannte heterogene Induktoren (Knochenmark, Leber, Milz, Hela-Zellen, Gewebe von 11 Tage alten Hühnerembryonen) als Induktormaterial verwendet. Diese Gewebe oder aus ihnen isolierte Proteinfraktionen rufen verschiedene Typen von Induktionen (mesodermale, neurale oder entodermale Induktionen) hervor. Diese Gewebe enthalten also Faktoren,von denen in den letzten Jahren einige charakterisiert worden sind. So macht man heute für die Induktion mesodermaler Derivate (Chorda, Muskulatur, Blutzellen etc.) Faktoren der FGF (Fibroblasten- Wachstumsfaktoren = Fibroblast Growth Factor) und der TGFß (Transforming Growth Factor) ProteinSuperfamilien verantwortlich. Der erste in hochangereicherte Form isolierte Induktionsfaktor war der vegetalisierende Faktor (Arbeiten von Prof.Dr.Dr. Tiedemann), der identisch oder weitgehend identisch mit Aktivin A (=EDF) ist. Der zuerst von J.Smith isolierte XTCMIF (Xenopus Tadpole Cells Mesoderm Inducing Faktor) wurde aus dem Überstand einer permanenten XenopusZellinie gewonnen . Es handelt sich dabei um ein Proteingemisch, das als aktive Komponente Aktivin enthält. Aktivin, XTX-MIF und vegetalisierender Faktor haben identische Induktionseigenschaften. Das mittlerweise gentechnisch (rekombinant) in homogener Form (Reinstsubstanz) synthetisierbare Aktivin besitzt eine hohe biologische Aktivität (Induktionsaktivität) in geringsten Konzentrationen. Aktivin gehört zur TGFß-Superfamilie und induziert bei Konzentrationen von 20-100 ng/ml in kompetentem Ektoderm (Ektoderm der mittleren Blastula, animal cap assay) dorsale mesodermale Strukturen wie Chorda und Somitenmuskulatur. In niedrigeren Konzentrationen (weniger als 20 ng/ml) werden ventrale mesodermale Struktiuren realisiert. (Grunz, 1983, Asashima und Mitarbeiter, 1991)[Abb.72]. Weitere wichtige Faktoren der TGFß-Superproteinfamilie sind die BMPs (bone morphogenetic protein), die ventrales Mesoderm induzieren

Abb. 59 Wichtige Vertreter der TGFß-Superproteinfamilie. Auch der vegetalisierende Faktor (als erster isoliert) liegt als Dimer vor. Durch reduzierende Substanzen (Mercapthoethanol) wird die Dissulfid-Brücke (siehe auch bei Activin in der Abbildung) zerstört und der Faktor inaktiviert.

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können.Sie spielen aber auch eine wesentliche Rolle bei der Determination von Ektoderm zu Epidermis und neuralen Strukturen (Gehirn). Dieses Forschungsgebiet steht im Zentrum intensiver Forschungen international bekannter Forschergruppen, weil diese Faktoren nicht in der Normogenese und im Zusammenhang mit Evolutionsprozessen, sondern auch bei der Krebsentstehung eine zentrale Rolle spielen (Verwandtschaft von Wachstumsfaktoren und ihren Rezeptoren mit Oncogenen und Protooncogenen). Oncogene sind Krebs hervorrufende Gene oder ihre Produkte.

Von der Einzelle zum Embryo - Ausbildung der Körpergrundgestalt(Hauptkörperachsen)

3. Ausbildung der cranial/caudalen Polarität Die Determination von anterior/posterioren Polarität fällt teilweise mit der cranial/caudalen Polarität früher Gastrula-Stadien zusammen, i.e. die vordere (anteriore) Region der Dorsalregion entspricht der späteren Kopfregion (cranial). Zu 1) Während der Oogenese entsteht bereits durch asymmetrische Verteilung von Dotter, Embryonalpigment, aber auch von molekularbiologisch charakterisierten Substanzen wie Vg1 und bestimmte mRNAs und Proteine eine animal/vegetative Polarität. Bei Drosophila bildet sich während der Oogenese durch Einlagerung maternaler Substanzen, die anteriore/posteriore Embryonalachse aus. Ein wichtiger Faktor ist dabei das maternale Effekt Gen bicoid.

Die Ausbildung folgender Polaritäten sind für die Embryonalentwicklung von entscheidender Bedeutung: 1. 2.

Ausbildung der animal/vegetativen Polarität Ausbildung der animal/vegetativen Polarität

Abb. 60 Darstellung der verschiedenen Polaritäten am Beispiel eines jungen Amphibienembryos (frühes Schwanzknospenstadium)

Abb. 61 Determination der anterioren/ posterioren und dorsal/ventralen Polarität während der Oogenese bei Drosophila.Bereits während des Oozytenstadiums werden von den Nährzellen bicoid-mRNA transferriert. Diese mRNA und das von ihr kodierteProtein bestimmt diePosition des zukünftigen Kopfes. Sowohl die mRNA als auch das Protein ist in Form eines Gradienten (Abnahme von anterior nach posterior) verteilt.

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Abb. 62 Determination der Polaritäten während der Amphibien-Embryonalentwicklung A. Ausbildung der animal/ vegetativen Polarität (Ooozytenstadium vor der Besamung) B. Ausbildung der animal/vegetativen Polarität durch Cortical Rotation nach Eindringen des Spermiums auf der gegenüberliegenden Seite in der anialen Hälfte C. Bildung des dorsalen Mesoderms (auch als Nieuwkoop Center bezeichnet) D. Bildung des Spemann'schen Organisators E. F. Ausbildung der cranial/caudalen Polarität durch Retinsäure und FGF (E = frühe Gastrula, F = späte Gastrula)

A

B

Abb. 63 Traditionelles (A) und Modernes Konzept (B) der Frühembryonalen Induktion.Dargestellt sind zwei frühe Gastrulae. Früher nahm man an, daß sämtliche Induktionssignale instruktiv von der Spemannschen Organisatorregion ausgingen, und die übrigen Bereiche des Embryos lediglich auf diese Signale permissiv reagierten. Deshalb

sind diese Signale in (A) als Pfeile dargestellt. Molekularbiologische Befunde in neuester Zeit haben jedoch gezeigt, daß die in der Spemannschen Organisator expremierten Gene und sezernierten Induktoren eine Inhibitionswirkung gegenüber BMP-4, Nodal und Wnt ausüben. BMP-4 wirkt als Antagonist zu den neuralen Induktionsfaktoren wie Chordin, Noggin und Cerberus. (Weitere Informationen im Text).

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Zu 2) Durch den Spermaeintritt unterhalb des animalen Pols (aber innerhalb des Breitengrades zufallsgemäß), kommt es exakt auf der gegenüberliegenden Seite im vegetativen Bereich zur „Cortical Rotation“. Dabei verschiebt sich die Cortex (Rinde) gegenüber dem tieferliegenden Cytosol äquatorialwärts. Bei einigen Amphibien bildet sich der sogenannte graue Halbmond aus, der partiell der zukünftigen Spemannschen Organisatorzone (dorsale Urmundlippe in der frühen Gastrula) entspricht. Der graue Halbmond kommt durch Embryonalpigmentverringerung in der Maginalzone durch die Cortikalrotation zustande. Man weiß mittlerweile eine Menge über die dabei ablaufenden molekularbiologischen Prozesse a) Verlagerung von Vg1 (Substanz, die zur TGFβSuperproteinfamilie zählt) Verlagerung bestimmter mRNAs und andere Proteine Verlagerung von β-catenin in die zukünftige Dorsalseite b) durch diese Verlagerung entsteht ein dorsales Zentrum (manchmal als Nieuwkoop Center bezeichnet). Durch Interaktion von Activin, Vg1 und Wnt kommt es auf der Dorsalseite zur Activierung von early response-Genen, wie goosecoid (gc) und siamamois. Der Wnt-Signalweg ist eng korreliert mit β-catenin, das vor allem auf der Dorsalseite lokalisiert und aktiviert wird. Goosecoid (Homeobox-Gen), das nur auf der Dorsalseite in der Region des Spemannschen Organisator expremiert wird, aktiviert Gene, die für sezernierte Proteine wie Chordin, Follistatin, Noggin, Frz-1 kodieren. Sezernierte Proteine sind Proteine die eine für die Auschleusung aus der Zelle notwendige Signalsequenz besitzen. Zu den nicht sezernierter Proteinen gehört z.B. goosecoid, das eine Homeodomäne besitzt, die die Bindung dieser spezifischen Regulatorproteine (Transkriptionsfaktoren) an die DNA ermöglichen. Chordin, Follistatin, Noggin, Frz-1 (Antagonist zum vegetalisierenden Wnt) werden nur in der Region des Spemannschen Organisators expremiert. Sie sind für die Dorsalisierung des Mesoderms und die Induktion des Zentralnervensystems verantwortlich. Sie besitzen keine eigenen Rezeptoren sondern interagieren mit BMP4, das als Antiorganisator wirkt (genauer Mechanismus der neuralen Induktion s. unten). Ein weiteres Molekül, das Kopfinduktionen hervorruft, also partielle Spemannsche Organisatoreigenschaften besitzt [der Organisator programmiert eine komplette Achse: Kopf, Rumpf, Schwanz] ist Cerberus. Dieses Gen ist aktiv im Kopfentoderm also noch weiter anterior als der klassische

Organisatorbereich. Das Protein ist ebenfalls ein Antagonist zu BMP4, darüberhinaus aber auch zu den Rumpfinduktoren Nodal und Wnt. Durch die Inhibition der drei Faktoren kommt es zur Bildung der Kopfstrukturen. Wird Cerberus mRNA in ventrale Blastomeren des 8-Zell-Stadiums injiziert, so bildet sich ein zusätzlicher Kopf , also ein ähnlicher Effekt wie er durch den vorderen Bereich des Organisators hervorgerufen wird (Cerberus war in der Mythologie der Höllenhund, der mehrere Köpfe besaß). Zu 3) anteriore/posteriore (cranial/caudale) Polarität Bei der Determination der zukünftigen Kopf-, Rumpf- und Schwanzregion ist eine Interaktion einer Reihe von Faktoren verantwortlich. Dazu gehört das gerade erwähnte Cerberus, aber auch Retinsäure (Vitamin A-Homolog) und Retinsäure abbauende Enzyme und wahrscheinlich FGF (FibroblastenWachstumsfaktor). Durch noch nicht genaue bekannte Mechanismen, an denen diese und noch unbekannte Faktoren beteiligt sind, kommt es zur Programmierung der einzelnen Gehirnregionen (Tel-, Di-, Mes-, Met- Myelencephalon und des Rückenmarkes) und der Rumpf- und Schwanzregion.

Die Antiorganisatoren und das Neural Default Modell 1989 hat unsere Arbeitsgruppe Forschungsergebnisse publiziert, die bahnbrechend für das Verständnis der Wirbeltierembryonalentwicklung waren. Die sich daran anschließenden Versuche mehrerer Arbeitsgruppen ergaben evolutionsbiologische Erkenntnisse von bis dahin nicht erwarteter Tragweite (s. unten). Alle Experimente und Erwartungen nach Spemann’s und Hilde Mangold’s Organisator-Experiment waren auf die Suche nach dem Organisatorstoff (Induktor) gerichtet. Ein solcher Induktor, lokalisiert in der dorsalen Urmundlippe (Spemannscher Organisator), sollte demnach alle übrigen Bereiche des Embryos veranlassen, sich in bestimmter Richtung zu organisieren und zu entwickeln. Der Induktor wäre also ein Instruktor, der die übrigen Bereiche des Embryos in permissiver (also nur in empfangender) Weise programmiert (s. Abb. 63 A). Nach dieser traditionellen Hypothese würde das Neuroektoderm neuralfaktorenspezifische Rezeptoren besitzen und bei Anwesenheit eines neuralen Induktors zu Gehirnstrukturen determiniert. Ohne Induktorsignal entwickelt sich das Ektoderm zu Epidermis, wie dies Isolationsexperimente tatsächlich zeigen konnten. Eine paradoxe Situation ergab sich jedoch, als wir zeigen konnten, daß sich Ektoderm nach Disaggregation in Einzelzellen ohne Induktor zu Gehirnstrukturen entwickelte (Grunz und Tacke, 1989). Welche Rolle sollte nach den

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traditionellen Hypothesen jetzt noch ein neuraler Induktor spielen? Für die späteren Untersuchungen von Interesse war unser Befund 1 Jahr später, daß der Zellüberstand disaggegierter Zellen nach Zugabe zu disaggregierten Ektodermzellen die Neuraldifferenzierung unterband. Die Zellen differenzierten sich wie nicht disaggregierte Ektodermzellen zu Epidermis. Schon zu dieser Zeit nahmen wir an, daß ein bestimmtes Molekül im Extrazellularraum die autonome Neuralentwicklung des Ektoderms verhindert (Grunz und Tacke, 1990). 5 Jahre später wurde dann dieses Molekül identifiziert (Wilson und Hemmati-Brivanlou, 1995). Es handelt sich um BMP-4 (bone morphogenetic protein= Knochen-Morphogenetisches Protein). Wie auch bei einigen anderen Wachstumsfaktoren (FGF, TGF) hat BMP während der frühembryonalen Entwicklung eine andere Aufgabe als bei der Organogenese, nämlich Mitwirkung bei der Determination der dorsal/ventralen Polarität. Später in der Entwicklung wird BMP seinem Namen gerecht und ist bei der Knochenbildung beteiligt.

Welche Rolle spielt BMP4 und neurale Induktionsfaktoren bei der Gehirndetermination? Mittlerweile weiß man, warum sich disaggregierte Ektodermzellen zu Gehirnzellen entwickeln. Offensichtlich wird bei der Disaggregation BMP4 und/oder BMP2 aus dem Extrazellularbereich abgelöst und diffundiert in die Zellkulturlösung. Die Konzentration von BMP ist nun so gering, daß eine Bindung an den BMP-Rezeptor nicht in genügender Konzentration erfolgen kann (Abb. 64,67 ). BMP-Zugabe in genügender Konzentration ins Kulturmedium bewirkt die Determination der disaggregierten Zellen zu Epidermis. Bereits vor der Entdeckung des „epidermalisierenden“ Effektes von BMP wurde ein sezernierter gehirninduzierender Faktor, das Chordin, im Bereich der dorsalen Urmundlippe (Spemannschen Organisatorbereich) gefunden. Wenn man Ekoderm (intakte animale Kappen) mit diesen Protein behandelte, so erhielt man Gehirnstrukturen. Unbehandelte animale Kappen differenzieren sich zu Epidermis. Wie ließen sich diese Befunde mit der Disaggregationsexperimente vereinbaren? Es stellte sich heraus, daß Chordin im Gegensatz zu traditionellen Überlegungen keinen eigenen Rezeptor besitzt. Vielmehr reagiert es mit BMP im Extrazellularraum zwischen induzierenden Chordamesoderm und reagierenden Neuroektoderm und bildet mit ihm einen Komplex. Dadurch kann BMP2/4 nicht mehr mit seinem Rezeptor interagieren, was eine Neuralisierung des Ektoderms zur Folge hat. Daher ergibt sich das gleiche Ergebnis wie bei der Disaggregation der Ektodermzellen. Damit war der scheinbare Widerspruch

– autonome Neuralisation bzw. neurale Induktion – aufgehoben. Mittlerweile konnte gezeigt werden, daß alle bisher bekannten neuralisierenden Faktoren wie Follistatin, Noggin und Cerberus Komplexe mit BMP 2/4 bilden. Somit wirkt BMP als Antiorganisator. Im Gegensatz zur traditionellen Auffassung ist somit der Grundzustand des Ektoderms neural und nicht epidermal. BMP wirkt also als epidermaler Induktor. Diese Befunde haben deshalb zur Bezeichnung „Neural-Default-Status“ des Ektoderms geführt. Eine Neuralisierung des Ektoderms kann auch erzielt werden, wenn man den Signalweg des BMP4 unterbricht. Das ist möglich mit sogenannten dominant-negativen Inhibitoren. Zwei Strategien werden dabei angewandt. Entweder synthetisiert man solche mRNA-Konstrukte, die für ein unvollständiges BMP4-Protein kodiert, das nicht korrekt an seinen Rezeptor binden kann. Da die mRNA im Überschuß meist in die zukünftigen ventralen Blastomeren eines 8Zellstadiums injiziert wird, kommt es zu einer Überexpression (overexpression). Die im frühen Embryo vorhandene korrekte mRNA wird dadurch kompetitiv ausgeschaltet (also ein dominant-negetativer Effekt). Ebenso kann man auch eine mRNA im Überschuß injiziieren, die für einen defekten BMP4-Rezeptor kodiert. Dadurch wird erreicht, daß der BMP4-Ligand nicht mehr an den Rezeptor andocken kann. Auch dieser dominant-negative BMP-Rezeptor hat eine Neuralisierung (Gehirnbildung) des Ektoderms zur Folge. Struktur und Funktion von Rezeptoren Rezeptoren sind Moleküle, die auf Signalmoleküle reagieren. Die Signalmoleküle(Liganden) docken in spezifischer Weise an ihrem Rezeptor an. Es gibt zwei Haupttypen von Liganden: 1. Petidmoleküle wie Insulin oder Induktionsfaktoren bzw. Wachstumsfaktoren (Proteine), die mit plasmamembranständigen (äußere Zellmmembran) interagieren. 2. Steroidhormone, die in die Zelle eindringen und dort mit ihrem Rezetor einen Komplex bilden. Im Falle beider Signalmolekül- und Rezeptortypen verläuft die weitere Signalkette bis zum Zellkern, wo es dann zu einer Interaktion mit der DNA und zur Genregulation kommt. Wie bereits erwähnt, reagiert BMP-4 mit seinem Rezetor auf der äußeren Zellmembran und bewirkt so, daß sich Ektoderm zu Epidermis differenziert. Die bisher bekannten neuralen Induktionsfaktoren besitzen keine eigenenen Rezeptoren, sondern hindern das BMP mit seinem Rezeptor zu interagieren. Solche Signalketten sind in der Abbidung 65 zu sehen.

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DORSALIZATION and NEURAL INDUCTION

VENTRALIZATION and ANTINEURALIZATION

BMP4/InductorComplex

A

B

1. LIGAND BINDING BMP4 or other members of the TGFß-superfamily

Accessory receptor (Type III receptor betaglycan) NH 2

C

Chordin or other neural inducers (nogging, cerberus, etc.)

Diluting out into the culture medium after disaggregation



2. COMPLEX FORMATION

Inhibition of BMP4-binding to the receptor

NH 2

NH 2

3. PHOSPHORYLATION

Type II receptor (Primary Receptor)

II

I

GS Box

P

Type I receptor (Transducer)

Heteromeric Complex

II

P

4. SIGNAL PROPAGATION

P

P

COOH COOH

COOH

Formation of epidermis

I

I

II

COOH

Substrate Kern, DNA

COOH



Formation of neural tissue

Abb. 64 Schematische Darstellung der Interaktion von BMP4 und seinem Rezeptor. Durch Bindung von Chordin und anderen sezernierten Induktionsfaktoren (Gene und ihre Produkte expremiert imOrganisator- bereich) an BMP-4 kommt es zur neuralen Induktion. Zusammen mit anderen Signalketten und sekundären Interaktionen kommt es zur Bildung des kompletten Zentralnervensystems. Die oben dargestellte Signalkette ist nicht auf das Amphibienmodell beschränkt, sondern es handelt sich um in der Zellbiologie weitverbreitete Mechanismen der Interaktion von Liganden mit ihren spezifischen Rezeptoren.

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Abb. 65 Signalkette von Wachstumsfaktoren (embryonalen Induktionsfaktoren), die zur Anschaltung von Genen im Spemannschen Organisatorbereich führen. Man kann experimentell die DNA so verändern, daß sie eine mutierte mRNA transkribiert und folglich die Synthese eines nicht mehr funktionsfähigen Rezeptors zur Folge hat (Abb. 66). Wird diese mRNA in Blastomeren des 2-Zellstadiums injiziert, so wirkt das translatierte Protein als dominantnegativer Rezeptor, d.h. es konkurriert bzw. dominiert das Wildtyp-Protein und hat damit einen Inhibitionseffekt (also negativen Effekt) (Abb.66). Ähnliche Effekte kann man auch dadurch erreichen, daß man den Liganden(z.B. BMP-4) mutiert, so daß er nicht mehr mit seinem Rezeptor reagieren kann. Im diesem Falle differenziert sich dann Ektoderm nicht zu Epidermis wie in der Normogenese, sondern zu neuralen Strukturen.

Abb. 66 Effekt eines dominant-negativen Rezeptors

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Die Bedeutung von Gradienten Wie kommt es nun aber zur differenziellen Ausbildung der cranial/caudalen Polarität also zur Organisation von Kopf, Rumpf- und Schwanzregion? Gut erklären kann man sich die Bildung der Dorsalseite (hohe Konzentration von Chordin, kaum BMP) bzw. Ventralseite (hohe Konzentration von BMP, kein Chordin). Wie sieht es aber in der intermediären Region aus? Hilfreich bei der Beanwortung dieser Frage war der Nachweis einer Metalloprotease mit der Bezeichnung Xolloid. Dieses Enzym wird ebenso wie BMP4 und Chordin wahrscheinlich in spezifischer Konzentration in den Extrazellularraum sezerniert und löst den BMP/ChordinKomplex auf, in dem es das Chordin in zwei Domänen spaltet. Damit wird Chordin inaktiv und BMP wird wieder frei und kann an seinen Rezeptor binden. Mit diesem Modell kann man die Bildung eines spezifischen anterioren/ posterioren Gradienten postulieren (Abb.68A ). Ein ähnlicher Mechanismus kann ebenfalls für Cerberus angenommen werden. Interessant an Cerberus ist, daß das Protein in 2 verschiedenen Formen als Cer-L (lange Form) und Cer-S (kurze Form) vorkommt. Beide Formen binden BMP, Nodal und Wnt in unterschiedlicher Weiseeines Gradienten (Abb. 68B). Durch Inhibition sämtlicher Rumpforganisatoren (ventral/caudal) wie BMP, Nodal und Wnt kommt es zur Realisation der Kopfregion (Piccolo, S.,

Abb. 67 Nachweis des Antagonismus zwischen Chordin und BMP-4. Der in der Spemannschen Organisatorregion expremierte neurale Induktionsfaktor Chordin bildet mit BMP-4 oder BMP-7 einen Komplex und verhindet dadurch die Bindung von BMP-4/7 an seinen Rezeptor (Genaue Erklärung siehe Text). BMP bewirkt die Determination von Ektoderm zu Epidermis. Werden Ektodermzellen disaggregiert, bilden sich Neuralstrukturen (oberer Teil der Abbildung). Das wird auch durch RT-PCR (unterer Tei der Abbildung) nachgewiesen. Der pan-neurale Marker NCAM ist im Embryo (Kontrolle)(Bande 1) und in disaggregierten Zellen (Bezeichnung: untreated, Bande 2) nachzuweisen. Nach Zugabe von BMP zu den disaggregierten Zellen (Bande 3) wird die Expression des neuralen Markers verhindert. Folglich kommt es jetzt zur Expression des epidermisspezifischen Keratins. Wird gleichzeitig BMP und Chordin (Bande 4) zugegeben, wird das BMP daran gehindert mit seinem Rezeptor zu reagieren und es kommt zur Expression von NCAM und histologisch zur Bildung von Gehirnstrukturen

Agius, E., Leyns, L., Bhattacharyya, S., Grunz, H., Bouwmeester, T. and DeRobertis, E. M. (1999). The head inducer Cerberus is a multifunctional antagonist of Nodal, BMP and Wnt signals. Nature 397: 707-710).

Bedeutung von BMP und Chordin für die Evolution Die Urbilateralia-Hypothese Von großer Tragweite für die gesamte Biologie war der Befund, daß bei Drosophila (Vertreter der Evertebrata) homologe Gene und ihre Produkte zu denen von Xenopus oder Zebrafish (Vertebrata) gefunden wurden. So gibt es zu Chordin (Xenopus) ein homologes Protein bei Drosophila, nämlich short gastrulation (sog). Das homologe Protein zu BMP 2/4 /(Xenopus) ist dpp (decapentaplegic, Drosophila). Wichtig für das Verständnis der Evolutionsprozesse war der Befund, daß Chordin bei Xenopus die zukünftige Dorsalseite, sog bei Drosophila aber die zukünftige Ventralseite determiniert. Bei BMP/dpp ist es umgekehrt. Ebenso eindrucksvoll war der Versuch, bei dem die in Drosophila ventralisieren de sog -mRNA in Xenopus-Embryonen injiziert wurde und dort eine Dorsalisierung (Kopfstrukturen) hervorrrief. Andererseits wirkt dpp wie BMP. Daraus wurde

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geschlossen, daß Protostomia und Deuterostomia aus einer gemeinsamen Urform (den Urbilateralia) vor ca. 300 – 600 Millionen Jahren hervorgegangen sind. Curioserweise wurde mit diesen molekularbiologischen Befunden die bereits 1822 von dem französischen Anatom Geoffry De-Hillaire aufgestellte Hypothese bestätigt, daß bezüglich dorsal/ventraler Polarität kein Unterschied besteht zwischen Evertebraten und Vertebraten. Er hatte einen Hummer auf den Rücken plaziert und fand auf diese Weise die gleiche Organisation wie bei den Wirbeltieren nämlich das Herz auf der Bauchseite und das Zentralnervensystem auf der Rückenseite (Abb.70). In dieser hart geführten Auseinandersetzung war der französische Anatom Curvier der Hauptvertreter der Mehrheit der Wissenschaftler, die weiterhin die traditionelle Auffassung vertraten. Ein weiteres spektakuläres Beispiel für konservierte Genfunktionen in der Evolution – das Masterkontroll-Gen Pax 6 (siehe S. 4, 5, 137 ).

Die Bedeutung und Wirkungsweise frühembryonaler Induktionsfaktoren Frühembryonale Induktionsfaktoren (Determinationsfaktoren) sind für die Progammierung des Körperbauplanes verantwortlich. Durch spezifische Interaktionen mit Transkriptionsfaktoren sorgen sie für die räumliche und zeitliche Regulation (Expression und Repression) der für die Zelldifferenzierung bedeutsamen Gene und ihrer Produkte. Diese Prozesse sind für die Bildung des Mesoderms (Derivate: Muskulatur, Chorda, Herz, Blut) und des Zentralnevensystems (Gehirn und Nervenbahnen) von fundamentaler Bedeutung. Der erste mit biochemischen Methoden hochangereicherte Induktionsfaktor (Protein) war der von der Gruppe Prof. Tiedemann, Berlin, aus Hühnerembryonen isolierte Mesoderm- und Entoderm-Derivate induzierende Faktor. Er wurde

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A

B Abb. 68 Modelle für die Erklärung der Ausbildung von dorsal/ ventralen (Rücken/Bauch)und anterior/posterioren (Kopf/Rumpf/ Schwanz) Gradienten. Das obere Diagramm zeigt die Interaktion von Chordin (Region 4, Induktor des Spemannschen Organisators) und BMP-4 (Region 1 auf der zukünftigen Bauchseite). In der intermediären Region bewirkt ein Enzym (Xolloid=Metalloprotease, bei Drosophila: Tolloid) für die Spaltung des Chordin/BMP-4Komplexes innerhalb des Chordins. Dadurch kommt es zur partiellen Freisetzung des BMP-4 und durch seine Bindung an seine Rezeptoren zur Realisation intermediärer Differenzierungen (zwischen dorsal und ventral). Ähnliche Mechanismen gibt es bei Drosophila, dort aber programmiert das Chordin-Homologe Short gastrulation (sog) die Ventralseite und decapentaplegic (dpp, homolog zu BMP4) die Dorsalseite (siehe auch meine Hinweise auf die Evolutionsaspekte dieser Befunde). Das untere Diagramm zeigt die Wirkungsweise von Cerberus, einem Gen, das im einwandernden Kopfmesoderm (in der äußerst

anterioren Region des Spemann'schen Organisatorregion) expremiert wird. Es konnte gezeigt werden, daß bei gleichzeitiger Inhibition von BMP-4, Nodal und Wnt die Kopfregion realiesiert wird. Fehlt Cerberus oder ist das Gen mutiert, kommen die Rupfund Bauchregion-Organisatoren BMP-4, Nodal und Wnt zum Zuge und dem resultierenden Embryo fehlen die Kopfstrukturen. Besonders interessant ist die Tatsache, daß Cerberus in einer kurzen und langen Proteinform vorkommt und offensichtlich in Form eines Gradienten sezerniert wird. Die lange Form bindet alle Moleküle BMP-4, Nodal und Wnt. Damit kommt es zur Bildung des Vorderkopfes und Vorderhirns. Nimmt man an, daß in einer intermediären Zone vor allem die kurze Cerberus-Form sezerniert wird, kommt es nur zur Bindung von Nodal und damit zur Realisation der Rumpfregion (Piccolo, S., Agius, E., Bhattacharyya, S., Grunz, H., Bouwmeester, T. and DeRobertis, E. M. (1999). The headinducer Cerberus is a multifunctional antagonist of Nodal, BMP and Wnt signals. Nature 397, 707-710.)

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als vegetalisierender Faktor bezeichnet, weil er in kompetentem Ektoderm Gewebe induziert, die im Embryo aus dem vegetativen Bereich und der Marginalzone (nicht aus dem animalen Bereich) des Embryos hervorgehen. Es konnte gezeigt werden, daß eng verwandte Faktoren in differenzierten Zellen (im erwachsenen Organismus[Maus, Ratte, Mensch]) vorkommen. Dort wirken sie als Wachstumsfaktoren (growth factors), d.h. als Stimulatoren der Zellteilung (Proliferation). Dazu gehören Proteine der Fibroblasten-Wachstumsfaktoren (FGF)- und der Tumorwachstumsfaktoren (TGFβ)-Superproteinfamilien. In der Embryogenese wirken sie aber als Programmierungsfaktoren, d.h. als Determinationsfaktoren. Es war ein international stark beachteter Durchbruch als nachgewiesen werden konnte, daß der vegetalisierende Faktor homolog ist zu Activin. Activin (activin βA), ebenfalls ein Mitglied der

Abb. 69 Verwandte Gene und ihre Produkte (Proteine) sind bei den Protostomia für die Determination der Dorsalseite und bei den Deuterostomia für die Ventralseite und vice versa verantwortlich (siehe Urbilateralia - Hypothese).

Abb. 70 Hummerpräparation von Geoffry DeHillaire. Der franz. Anatom orientierte das Tier mit dem Rücken zum Substrat. Damit ist die Anordnung der wichtigsten Organe ähnlich wie bei den Vertebraten - Herz auf der Bauchseite (ventral), das Zentralnervensystem auf der Rückenseite (dorsal)(siehe Urbilateralia-Hypothese).

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TGFβ)-Superfamilie wurde ursprünglich aus Follikel-Flüssigkeit isoliert. Es ist ein Gonadenhormon, das die FSH-Sekretion stimuliert. Ebenfalls eng verwandt mit Activin ist der von Smith isolierte XTC-Faktor aus Xenopus-LarvenZellkulturen (Xenopus Tadpole Cells) und der Erythroid Differenzierungsfaktor (EDF). Letzterer induziert Erythroleukemia-Zellen zur Differenzierung in Hämoglobin produzierende Zellen. Ein weiteres Activin-verwandtes Protein konnte aus Amnionflüssigkeit isoliert werden. Der Autor (H. Grunz) konnte als erster 1983 zeigen, daß vegetalisierender Faktor (= Activin) in kompetenten Ektoderm in Abhängigkeit der Konzentration und Dauer der Einwirkungszeit eine Vielfalt mesodermaler und entodermaler Derivate induzieren kann. Durch das induzierte Mesoderm können dann noch sekundär neurale Strukturen gebildet werden (Grunz, H. [1983]: Change in the differentiation pattern of Xenopus laevis ectoderm by variation of the incubation time and concentration of vetalizing factor. Roux’s Arch. Dev. Biol. 192, 130-137). Mit steigenden Konzentrationen und Verlängerung der Einwirkungszeit des Induktionsfaktors kommt es zu einer Verschiebung des Differenzierungsmusters von ventralen zu dorsalen mesodermalen Strukturen. Man kann die gebildeten Gewebe bestimmten Zonen im Embryo zuordnen. So sind Blutzellen, Herz und Coelom auf der Ventralseite, Vornierenkanälchen in der Intermediärzone undSomiten, Chorda und Neuralrohr auf der Dorsalseite lokalisiert. Eine solche Veränderung des Differenzierungsmusters von ventral zu dorsalen Strukturen ist in den Abbildungen 72 AF zu sehen. Niedrige AktivinKonzentrationen induzieren Blutzellen und Herzstrukturen (Abb. 72 B,C). Mittlere Konzentrationen induzieren Chorda und Muskulatur (Abb. 72 F,G). Sehr hohe Konzentrationen von Activin (vegetalisierender Faktor) bewirken die Bildung entodermaler

Derivate (Abb.72 H), wie dies im Embryo am vegetativen Polbereich der Fall ist. Steigende Activinkonzentrationen bewirken die Aktivierung spezifischer Gene in einer bestimmten Sequenz. Vergleiche dazu auch die Ergebnisse von Christine Nüsslein-Vollhard (Nobelpreis 1995), die eine Korrelation zwischen Gradienten bestimmter maternaler Faktoren (z.B. Bicoid) und der Aktivierung spezifischer Gene nachweisen konnte. Durch neuere Arbeiten von Green und Smith konnte gezeigt werden, daß selbst bei linearer Erhöhung der Activinkonzentrationen die Anschaltung von charakteristischen Genen und folglich die Programmierung bestimmter Zelltypen in dem behandelten Ektoderm stufenweise erfolgt (Abb. 75). Dies ist besonders schön zu sehen, bei den folgenden Gen-Expressionen: EpidermisKeratin: kein oder fast kein Activin; ventral/ posteriore Gene Xhox 3, XIHbox 6: wenig Activin; Gene der ventralen Marginalzone: Muskel Actin und Brachyury (Xbra): mittlere Activinkonzentration: Gen im Organisatorbereich [dorsales Mesoderm] goosecoid: hohe Activinkonzentrationen. Diese stufenweise Anschaltung von Genen und die Musterbildung habe ich in den Abbildungen 73 und 74 gezeigten Modellen dargestellt. Bei zunehmenden Activinkonzentrationen und Induktoreinwirkungszeiten kommt es zu einer stufenweisen Realisierung bestimmter Zelltypen. In Abbildung 56 ist die Rückseite des Modells gezeigt, an der man die gleichzeitige Realisierung bestimmter Gewebetypen klarmachen kann. Hier nur drei Beispiele: bei hoher Activinkonzentration und langer Inkubationsdauer bildet sich Chorda und Entoderm oder nur Entoderm (Säule 9 und 7, und histologisches Präparat, Abb.54 G.,H.); bei niedriger Activinkonzentration und kürzerer Inkubationszeit erhält man Explantate, die Epidermis und Mesenchym (2), Herzstrukturen (4), Muskulatur (6), Chorda (7) und Neuralstrukturen (8) enthalten. Unbehandelte

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Ektoderm-Explantate differenzieren sich nur zu atypischer Epidermis (Abb. 73,74(1) und Abb. 72A. Neueste Untersuchungen deuten darauf hin, daß der Grundzustand (default-Zustand) des Ektoderms neural ist (Hemmathi-Brivanlou 1994; Kelly und Melton, 1994). Durch sehr geringe Konzentrationen von Wachstumsfaktoren (z.B. BMPverwandte Faktoren) im Ektoderm oder in der extrazellulären Matrix des Ektoderms könnte die Neuralisation des Ektoderms verhindert werden. Neurale Induktoren im Spemannschen Organisatorbereich würden nach dieser Hypothese mit solchen Faktoren interagieren und somit die Neuralisation des Ektoderms verhindern. Diese Hypothese wird auch durch unsere Disaggregations- und Reaggregationsversuche von Ektoderm gestützt. Disaggregierte Ektodermzellen (3 Stunden einzeln gehaltenen) bilden nach ihrer Reaggregation neurale Strukturen (Grunz und Tacke 1989, 1990). Die als Einzelzellen über 3 h kultivierten Ektodermzellen könnten aus der extrazellulären Matrix Faktoren ins umliegende Medium verlieren, die für die Determination des intakten nicht disaggregierten Ektoderms (während der Normogenese) zu Epidermis erforderlich sind. Nur der Teil des Ektoderms (Neuroektoderm), der vom einwandernden Chordamesoderm (Organisatorbereich = dorsaler Urmundlippenbereich) unterlagert wird und neuralisiernden Faktoren ( aus dem Chordamesoderm stammend) ausgesetzt ist, wird in neuraler Richtung (Zentralnervensystem) determiniert.

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A

E

B

F

C

G

D

H

Abb. 71 (oben) Wirkungsweise von frühembryonalen Induktions-faktoren (Schema verändert nach Asashima, 1994) Dargestellt sind die Induktionsfaktoren (Activin [=vegetalisiernder Factor] und aFGF/bFGF), die chemisch unterschiedlichen Proteinsuperfamilien angehören: 1. FGF (Fibroblasten growth factor)-Superproteinfamilie 2. TGFß (Transforming growth factor)-Superproteinfamilie

Abb. 72 (links) Differenzierung von kompetentem Ektoderm von Xenopus laevis, das im Sandwich-Test (animal cap assay) mit steigenden Konzentrationen von vegetalisierenden Faktor (= Activin) behandelt wurde. A. kein Activin (Kontrolle) B,C niedrige Activin-Konzentration D-F mittlere ActivinKonz. G,G hohe Activin-Konz. (Grunz, 1983) Bei steigenden Aktivinkonzentrationen wird folgende Sequenz von induzierten Geweben beobachtet: Epidermis (A), Blutzellen (B), Mesenchym und Blutzellen (C), Herzstrukturen (D), Herzstrukturen und Niere (E), Muskulatur (F), Muskulatur und Chorda (G), Entodermderivate (H)

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Abb.73

(1 atypische Epidermis, 2 Epidermis und Mesenchym, 3 Coelomepithel und Blutzellen, 4 Herzstrukturen, 5 Vornierenkanälchen, 6 Muskulatur (Somiten), 7 Chorda, 8 Neural, 9 Entoderm

Abb. 74 5 Vornierenkanälchen,

Abbildungen 73-75 Darstellung der Wirkungsweise frühembryonaler Induktionsfaktoren (Gradientenmodelle[Grunz, 1996] und Northernblot[Abb.75], verändert nach Green, New, Smith, 1992) Gezeigt sind die Effekte von Activin (= vegetalisierender Faktor, XTC, oder EDF), Vertreter der TGFß-Superproteinfamilie. [vergleiche decapentaplegic (dpp) -Gen bei Drosophila; auch ein Vertreter der TGFß-Familie]. Abb. 73zeigt die schematische Darstellung der in den Abbildungen 72 und 75 gezeigten Ergebnisse: Realisation verschiedener Gewebe in Abhängigkeit von der Konzentration(K) und Dauer der Einwirkungszeit(T). Trotz linearer Zunahme von K und/oder T erfolgt die Induktion der verschiedenen Gewebe bei Erreichen bestimmter Schwellenwerte (threshold concentrations) stufenweise (verg. Abb. 72 und 75). Abb. 74 (Rückseite des Modells) zeigt die alleinige oder gleichzeitige Realisation verschiedener Gewebe.

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Abb. 75 Bei bestimmten Konzentrationen von Activin (Erreichen bestimmter Schwellenwerte), werden neue Gene aktiviert, dafür aber andere fast oder ganz abgeschaltet (*). Gut zu sehen ist das für Keratin (Abschaltung bei 0.9 units/ml)und Anschaltung (Expression) von Xhox 3. Ebenfalls deutlich zusehen ist der Wechsel von brachyury (Gen in der Marginalzone mit Ausnahme der Organisatorregion) und goosecoid (Gen in der Organisatorregion) (nach Green,New,Smith, 1992)

*)Die Problematik ist jedoch komplizierter als hier beschrieben. Offensichtlich werden bei unterschiedlichen Aktivinkonzentrationen zunächst die gleichen Gene (vor allem ventral mesodermale) angeschaltet. Die Expression dorsaler mesodermaler Gene erfolgt dann aufgrund sekundärer Zellinteraktionen. Grunz,H. (1979) Change of the differentiation pattern of amphibian ectoderm after the increase of the initial cell mass. Wilhelm Roux’ Arch. 187, 49-57 Minuth, and Grunz(1980) The formation of mesodermal derivates after induction with vegetalizing factor depends on secondary cell interactions. Cell Differentiation 9, 229-238 Green, J.B.A., Smith, J.C. and Gerhart, J.C. (1994). Slow emergence of a multithreshold response to activin requires cell-contact-dependent sharpening but not prepattern. Development 120, 2271-2278. Wilson, P.A., and Melton, D.A. (1994). Mesodermal patterning by an inducer gradient depends on secondary cell-cell communication. Current Biology 4, 676-686.

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Veränderung der Differenzierungsrichtung des Spemannschen Organisators von Chorda / Muskulatur zu Herzstrukturen durch Suramin (Abb. 76) und Organ-Engineering (Abb. 77).



A



B

aging in vitro up till stage 12.5 prior to ± Suramin treatment ± Suramin

C



± Suramin

D ± Suramin



A

A. Isolierung des Spemannischen Organisators (obere Urmundlippe) der früheren Gastrula (oben) und der mittleren Gastrula (Mitte) bzw. Extirpation der Neuralplatte/ Chordamesoderm aus der früheren Neurula (unten). Wird die obere Urmundlippe (Spemannischer Organisator) mit mikro-chirurgischen Methoden aus dem 1,5 mm großen Embryo (Stecknadelkopf-größe) isoliert und in Zellkultur aufgezogen, so differenziert sich dieses Fragment zu Chorda [zukünftige Wirbelsäule] (no), Muskulatur (so) und Gehirnstrukturen (br) (s. Abb. B). Wird der Spemannsche Organisator mit Suramin behandelt,differenziert sich das Explantat zu einem blasenförmigen Gebilde, das sich rythmisch kontrahiert (Abb. C). Histologische und molekulargenetische Analysen haben ergeben, daß sich der Spemannsche Organisator unter diesen Bedingungen zu Herzstrukturen entwickelt. ® Suramin (Germanin ), ursprünglich gegen den Erreger der Schlafkrankheit eingesetzt, interagiert mit Wachstumsfaktoren, die im Spemannschen Organisator vorhanden sind und verändert seine Differenzierungsrichtung (Grunz, 1992, 1993;Oschwald, Clement, Knöchel, Grunz, 1994; Fainsod, Steinbeisser, DeRobertis, 1995). Durch die Behandlung mit Suramin kommt es zur Ventralisierung (Herzstrukturen, Abb. 76 C,D) der dorsalen Strukturen (Chorda und Muskulatur) des Spemannschen Organisators. B . Isolierte obere Urmundlippe (Spemannscher Organisator) ohne Suramin-Behandlung hat sich, wie erwartet, zu Chorda und Muskulatur entwickelt. no = Chorda, so = Somiten (Muskulatur), br = Gehirn C. .Histologischer Schnitt durch eine Blase mit Herzstrukturen, die aus der oberen Urmundlippe (Spemannschr Organisator) nach Suramin-Behandlung hervorgegangen ist. h = Herzstrukturen, ce= cement gland (Haftdrüse) D. Ein

Herzspezifischer Gen-Marker beweist, daß sich isolierte dorsale Urmundlippe nach Behandlung mit Suramin zu Herzstrukturen differenziert hatte (Vergleiche das Herz in der normalen Larve).

Abb. 76 Spemannscher Organisator, behandelt mit oder ohne Suramin (Grunz, 1992,1993)

E. Das in der isolierten oberen Urmundlippe vorhandene Kopfentoderm wird durch die Suraminbehandlung nicht inhibiert. Der Gen-Marker Endodermin wird im Entoderm des Embryos (Schwanzknospenstadium) und im Spemannschen Organisator mit oder ohne Suraminbehandlung expremiert.

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H

Abb. 77. .Spemannscher Organisator differenziert sich nach Behandlung mit Suramin zu Herzstructuren(Abb. 76C). Solche in Gewebekultur erzeugten Herzstrukturen können die normale Herzanlage, die dem Empfängerembryo entfernt wurde (E), ersetzen (F, Rescue-Experiment). Diese Larven bewegen sich wie normale Larven.Wird das experimentell erzeugte Herz in die caudale Bauchregion transplantiert (D), so erhält man ein zusätzliches Herz (H). In G sind Larven nach 12 Tagen Aufzucht mit ersetztem Herz (wie in A) und Larven ohne Herz zu sehen. Die Larven ohne Herz sind hypertrophiert (aufgebläht). Das ist damit zu erklären, daß sie aufgrund des fehlenden Herzens natürlich auch keine funktionierenden Nieren besitzen (fehlende Durchblutung). Diese Larven haben keine Überlebenschance.

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Das Experiment erlaubt folgende Aussagen:

Augenentwicklung und Transplantationsexperimente Das Wirbeltierauge ist ein hochentwickeltes Linsenauge. Der Augenbecher (Derivat des Diencephalon) induziert das darüberliegende Ektoderm zu Linse und Cornea. Beim ebenfalls hochentwickelten Linsenauge der Cephalopoden (Tintenfische) geht dagegen sowohl der Augenbecher als auch die Linse aus dem ektodermalen Keimblatt durch Einstülpung hervor (siehe auch neue molekulargenetische Befunde zur AnalogieHomologie-Problematik; Pax6-Gen (Abb. 2 und Seite 137). Wird präsumptive Bauchepidermis von Triturus cristatus (Kammolch) in die zukünftige Linsenregion eines Triturus vulgaris Embryos transplantiert (Abb.78), so wird durch Induktion des Augenbechers des Wirts eine Linse im Ektoderm des Spenders induziert (a). Das rechte Auge (b) des Wirts dient als Kontrolle. Die Linse in a (linkes Auge) ist deutlich größer als in (b) (normales rechtes Auge von T. vulgaris).

1. Der Augenbecher induziert im darüberliegenden Ektoderm die Linse 2. Das Induktionssignal ist nicht speziesspezifisch (bei dem Experiment handelt es sich um eine heteroplastische Transplantation) 3. Das reagierende Gewebe dagegen differenziert sich spezies-spezifisch (Größe der Linse entspricht der Spezies, aus der das Ektoderm stammt) [herkunftsgemäße Entwicklung] 4. Nicht nur das Ektoderm in der Nähe des (bzw. über dem) zukünftigen Augenbecher kann auf das Induktionssignal reagieren, sondern auch das gesamte ventrale Ektoderm (präs. Bauchepidermis). Dieses Experiment ist nicht in Abb.78 dar gestellt. Es konnte jedoch an Xenopus-Embryonen gezeigt werden, daß es auch zur Linsenbildung ohne Augenbecher kommen kann (sogenannte freie Linsen). Wird in der frühen Neurula der schraffierte Teil (Neuroektoderm und das drunterliegende Mesoderm, siehe Abb.79) explantiert, so findet man trotz einseitig fehlendem Augenbecher häufig eine Linse (freie Linse) (Brahma und Grunz, 1988). Dieser Befund ist jedoch nicht wiedersprüchlich zu den Befunden von Spemann (Bedeutung des Augenbechers für die Linseninduktion), weil offensichtlich zumindest bei Xenopus bereits in der frühen Neurula die Linsenbildung durch das unterlagernde Kopf-mesoderm im Ektoderm induziert wird. Die Linsendetermination erfolgt also

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vor der Ausformung des Augenbechers. Ähnliche Effekte hatte auch Spemann schon bei einigen Spezies beschrieben. In diesem Zusammenhang wurde von ihm der Begriff der "doppelten Sicherung" geprägt. Er glaubte aber im Gegensatz zu uns, daß das Ektoderm bei einigen Spezies eine autonome interne Linsendifferenzierungspotenz besitzt. Das Kopfmesoderm hat auch bei den Urodelen eine weitere wichtige Bedeutung. Es sorgt dafür, daß in der Normogenese realisiert werden kann. Entfernt man experimentell immer breitere Stücke des Mesoderms in der medianen Zone (Abb. 80, p.P. und En), so kommt es zu einer Annäherung, einer partiellen Verschmelzung (Synopthalmie, Abb.81, 3), vollständigen Verschmelzung (Cyclopie; Cyclopenauge, Abb. 81, 4) und letztendlich zum Verschwinden der Augenregion (Abb. 81, 6). Ähnliche Effekte können bei Behandlung der Embryonen mit Cysteiniumchlorid beobachtet werden, wodurch die Ausdehnung oder die Einwanderung des Entomesoderms und die Augenanlagenbildung inhibiert wird.

Abb. 78 a,b (frühes Augenentwickl-ungsstadium), Abb.678 c,d (Augen im adulten Molch, c= T. cristatus-Linse, d= T.vulgaris-Linse)

Abb. 79

Abb. 80

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Transdetermination Während der Embryonalentwicklung von Drosophila sind im Larvenstadium Ansammlungen von undifferenzierten Zellen vorhanden, die Imaginalscheiben (imago [lat.] = erwachsen). Aus ihnen gehen bestimmte Organbereiche des erwachsenen Tieres (der Imago) hervor, z.B. Antennen, Augen, Beine, Halteren, Flügel und Genitalien. Die Zellen der einzelnen Imaginalscheiben sind bereits determiniert, d.h. sie entwickeln sich normalerweise zu Antennen , Augen, etc. (Abb.96). Ernst Hadorn und Mitarbeiter konnten aber zeigen, daß die Zellen der Imaginalscheiben in eine andere Determinationsrichtung gelenkt werden können. Er nannte dieses Phänomen Transdetermination. So kann aus einer Genital-Imaginalscheibe ein Bein hervorgehen. Jedoch sind nur bestimmte Transdeterminationsrichtungen möglich. Aus einer Bein-Imaginalscheibe können also umgekehrt keine Genitalien entstehen (Abb. 82b).

Abb. 81

Abb. 82a

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Diese Transdeterminations-Potenzen konnten durch folgende Experimente nachgewiesen werden: Imginalscheiben können aus Larven herausoperiert und in erwachsenen Fliegen transplantiert werden (Abb.82a). Dort teilen sich die Imaginalscheiben-Zellen weiter, bilden aber keine adulten Organe. Nach verschiedenen Zeiten (4-28 Tage) werden sie in normale Larven transplantiert. Bei der Metamorphose gehen Organe Genital-Imaginalscheibe

Bein-Imaginalscheibe

Imaginalscheiben für Kopforgane (Mund, Oberlippe) Antennen

Palpus Flügel-Imaginalscheibe

Abb. 82b

Thorax

hervor, die typisch sind für das adulte Tier. In den meisten Fällen geht aus einer AntennenImaginalscheibe auch eine Antenne hervor. Jedoch in einigen Fällen entwickelten sich aus Teilbereichen der Antennen-Imaginalscheibe Beinabschnitte. Dieses Phänomen wird als Transdetermination bezeichnet, weil anstelle des „normalen“ Organs eine Differenzierung realisiert wird, die einem anderen Körperbereich oder Körperteil entspricht Abb. 82a,b). Die Imaginalscheibenzellen haben die Fähigkeit bewahrt, sich in eine andere Differenzierungsrichtung zu entwickeln als es ihrer normalen Potenz (oder gemäß ihrer prospektiven Bedeutung) entspricht. Andererseits gibt es nur wenige Fälle im Tierreich, in denen sich differenzierte Zellen in einen anderen Zelltyp verwandeln können. Diese "normale" Zelltypstabilität (Erhaltung des Determinations- und und vor allem Differenzierungszustandes) ist in vielen normalen Geweben lebensnotwendig und lebenserhaltend. Die anormale Veränderung der Zelldetermination

und Differenzierung und den damit verbundenen Prozessen (Erhöhung der Zellproliferation, Änderung des Stoffwechsels und der Zellaffinität und Motilität) ist dagegen häufig lebensbedrohend (Tumorbildung, Auswandern aus dem Zellverband [Metastasenbildung] bei der Krebsproblematik).

Transdifferenzierung (Metaplasia) Ein unumstrittenes Beispiel dafür, daß sich adulte Zellen die Potenz zur Umwandlung in andere Zelltypen bewahrt haben, stellen die Irisepithelzellen des oberen Irisbereiches bei bestimmten Molcharten dar. Nach Entfernung der Augenlinse bildet sich aus diesen Zellen eine neue Linse (Abb.83). Dieser Prozeß wird auch als Wolffsche Linsenregeneration bezeichnet. Es handelt sich also um eine Transdifferenzierung (auch als Metaplasia bezeichnet) von pigmentierten Irisepithelzellen in transparente Linsenzellen. Dabei werden Gene aktiviert, die für spezielle Linsenproteine (Cristalline) kodieren. Die bei der Wolffschen Linsenregeneration ablaufenden zellbiologischen Prozesse wurden intensiv von Tuneo Yamada und Mitarbeitern im Oak Ridge National Laboratory, Oak Ridge, Tennessee, untersucht. Die Linsenregeneration beim Molch stellt ein günstiges Modellsystem für molekularbiologische Studien über die Mechanismen der spezifischen Genaktivierung und Genregulation dar. Folgende Prozesse wurden bei der Bildung einer neuen Linse beobachtet: A. Die Kerne der Zellen des oberen Irisrandes verändern ihre Form. B. Die dorsalen Iriszellen bilden große Mengen von Ribosomen. C. Einsetzen von DNA-Replikation mit anschließender Zellteilung. D. Dedifferenzierung der Irisepithelzellen: Die Zellen entledigen sich der Melanosomen zusammen mit Anteilen von Cytoplasma [Die dunkelbraun gefärbten Melanosomen geben den Irisepi89

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Abb. 83 Wolffsche Linsenregeneration (ausgehend vom dorsalen Irisrand beim erwachsenen Molch, dessen ursprüngliche Linse mit einem Iridektomie-Messerchen* entfernt wurde, bildet sich eine neue funktionstüchtige Linse) ( *wird auch in der Augenchirurgie beim Menschen verwendet)

thel-Zellen die charakteristische dunkle Färbung]. Dieser Prozeß der Depigmentierung wurde von Yamada als Shedding (Abschnürung) bezeichnet. Die abgestoßenen Zellbereiche mit Melanosomen werden von Makrophagen aufgenommen und wegtransportiert. E. Die dorsalen Irisepithelzellen (nicht aber die Zellen am ventralen Irisrand) fahren fort, sich zu teilen und bilden eine sich ständig vergrößernde Zellmasse in der Region der entfernten Linse. F. Die zukünftigen Linsenzellen synthetisieren nun spezifische Proteine(α-, ß-, γ-, δ-Cristalline), die typisch sind für Linsenzellen. G. Die neue Linse bildet peripher angeordnete Linsenepithelzellen und zentral gelegene Linsenfiberzellen. H. Sobald sich die neue Linse gebildet hat, beenden die pigmentierten Zellen am dorsalen Rand der Iris ihre Mitosetätigkeit. Die Zellen am unteren (ventralen) Irisrand teilen sich kurz nach der Entfernung der ursprünglichen Linse ebenfalls für begrenzte Zeit. Es kommt aber zu keiner Dedifferenzierung und Depigmentierung wie bei den Zellen am oberen (dorsalen) Irisrand. Weiterhin sind auch Retinazellen des Molchauges in der Lage, sich unter in vitro - Bedingungen in Linsenzellen umzuwandeln (Transdetermination von Retina- in Linsenzellen; Arbeiten von Lopashov (Moskau), Hoperskaya (Moskau), Eguchi (Japan). Diese Beispiele (Transdetermination und Transdifferenzierung) zeigen, daß differenzierteZellen in einem bestimmten Grade und unter bestimmten Bedingungen in der Lage sind, sich zu einen anderen Zelltyp zu entwickeln. Diese Potenz ist aber limitiert. Eine Irisepithelzelle kann wohl zu einer Linsenzelle umprogrammiert werden, es ist aber bis jetzt nicht gelungen, eine Transdifferenzierung eines anderen Zelltyps zu erreichen. Höchstwahrscheinlich ist dies auch gar nicht möglich. Hinweise für eine eingeschränkte Differenzierungspotenz differenzierter Zellen haben auch die Kerntransplantationsexperimente geliefert.

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Dies konnte dadurch gezeigt werden, daß Kerne von Geweben in eine Zygote transplantiert wurden, deren eigener Kern zuvor experimentell entfernt wurde. Der „neue“ Kern wäre dann in der Lage, die Aufgaben des entfernten Kerns zu übernehmen, d.h. die normale Embryonalentwicklung in Gang zu setzen. Ein solches Experiment erlaubt es die Weißmann’sche Hypothese der eingeschränkten Kernpotenz in den verschiedenen Geweben während und nach der Differenzierung zu widerlegen. Briggs und King haben 1952 solche Experimente durchgeführt, als entsprechende Mikro-transplantations-Methoden verfügbar waren. Sie konnten zeigen, daß Kerne von Blastulazellen nach ihrer Transplantation in entkernte Oozyten in der Lage waren, die Entwicklung schwimmender Kaulquappen zu realisieren. Dieses Experiment war eine Variante von Spemanns Versuch der verzögerten Kernversorgung eines geschnürten Amphibieneies. Es war also schon klar, daß Blastulakerne noch über die Potenz verfügen, die Entwicklung bis zum Larvenstadium und bis zum metamorphosierten Frosch oder Molch zu ermöglichen. Es zeigte sich aber, daß Kerne aus zunehmend älteren Entwicklungsstadien (älter als Blastulae) kontinuierlich ihre Potenz verloren, die Embryonalentwicklung bis zum Larvenstudium zu realisieren.

Dabei zeigte sich jedoch, daß Kerne aus unterschiedlichen Geweben oder Keimblättern verschiedene Potenzen aufwiesen. Keimbahnzellen aus Kaulquappen von Rana konnten in 40 % der Fälle die Entwicklung von Oozyten bis zur Kaulquappen steuern. Kerne somatischer Gewebe (z.B. Entoderm = zukünftiger Darm) der Kaulquappe (Rana) waren jedoch nur in geringem Prozentsatz in der Lage(Abb.85), die Entwicklung in Gang zu setzen. John Gurdon konnte zeigen, daß Kerne von Entodermzellen von KrallenfroschKaulquappen (Xenopus laevis) noch über die Potenz verfügen, in 4 % Fälle die Entwicklung bis zur schwimmenden Kaulquappe in Gang zu setzen. Durch Serientransplantationen (Entodermkern in Oozyte, Entwicklung der Oozyte bis zur Blastula, Blastulakerne wieder in neue entkernte Oozyten) konnten die Prozentwerte der Entwicklung zur normalen Larve deutlich erhöht werden (Abb.84, 85). Selbst Kerne aus eindeutig differenzierten Geweben (Schwimmhautepithel des erwachsenen Frosches), die in "entkernte" Oozyten transplantiert wurden, konnten die Entwicklung bis zur Neurula realisieren. Durch Serientransplantation konnte erreicht werden, daß in zahlreichen Fällen immerhin das Kaulquappenstadium erreicht wurde. Die Tiere starben aber kurz bevor gleichalte

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normale Kaulquappen mit der ersten Nahrungsaufnahme beginnen. In sehr wenigen Fällen entwickelten sich die Larven zu adulten Fröschen (Abb.85). Aus diesen Ergebnissen kann gefolgert werden, daß die Kerne adulter Gewebe noch alle Gene enthalten, die wir auch im Oozytenkern vorfinden. Es findet also während der Differenzierung der einzelnen Gewebe kein differenzieller Genverlust statt. Es handelt sich vielmehr um eine selektive Expression verschiedener Gene korreliert mit unterschiedlichen Entwicklungsstadien und Körperregionen (Organe, Gewebe). Warum Kerne adulter Gewebe nur pluripotent und nicht totipotent sind, ist bislang ungeklärt. In Säugern (Maus und insbesondere Mensch) erscheint es im Augenblick als reine Utopie durch Transplantation von Kernen differenzierter (adulter) Zellen in entkernte Zygoten geklonte Individuen zu produzieren. Mit Kernen früher Embryonalstadien ist dies aber möglich. Durch Injektion von Blastocystenkernen von schwarzen Mäusen in Blastocsyten von weißen Mäusen konnten Chimären erhalten werden, phänotypisch erkennbar an der schwarz/weiß Streifung des Felles. Besonders interessant war der Befund, daß selbst bestimmte Krebszellen (Zellkerne aus Teratocarcinoma-Zellinien), die tödliche Tumoren in der adulten Maus hervorrufen, nach Implantation in Blastocysten normaler Mäuse "normal" werden(Abb.86). Sie werden in den Blastocystenzellverband integriert und sind nach vielen Teilungen in sämtlichen Organen der gesunden Maus nachzuweisen. Schon phänotypisch ist das dadurch nachweisbar, weil das Fell schwarz/weiß (zebraartig) gefärbt ist, da die TeratocarcinomaKerne von schwarzen Mäusen stammen und in Albino-Blastocysten implantiert wurden (Abb.86). Durch den Einsatz molekularbiologischer Techniken konnte gezeigt werden, daß Zellen mit gleichem DNA-Bestand (Äquivalenz des Genoms) z.B. zukünftige Blutzellen bzw. zukünftige Epidermiszellen aber jeweils andere Gene

aktivieren und entsprechende mRNA transkribieren [Blutzellen = Globin-mRNA, Epidermis = Keratin-mRNA]. Weiter unten werden die molekularbiologischen Standardtechniken zum Nachweis der differenziellen Genexpression beschrieben, die sowohl aus der Entwicklungsbiologie (Embryologie) als auch aus anderen Bereichen der Zellforschung (einschließlich Krebsforschung) nicht mehr wegzudenken sind und die ständig an Bedeutung gewinnen.

Abb. 85

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Furchung des Seeigelkeimes (Abb.87) 1. 2 meriodionale Furchungen 2. Im 4-Zellstadium wird dann die erste äquatoriale Furchung angelegt → das führt zum 8-Zellstadium 3. Durch meridionale Furchung werden die 4 animalen in 8 gleichgroße Blastomeren zerlegt. 4. Gleichzeitig werden die 4 vegetativen Blastomeren inäqual in 4 große äquatorialwärts liegende Makromeren und vier kleine Mikromeren am vegetativen Pol zerlegt → 16-Zellstadium 5. Der Übergang vom 16 zum 32-Zellstadium erfolgt folgendermaßen: a) Die acht animalen werden durch eine latitudinale Furchung in 2 Kränze geteilt. Abb. 87 b) Die Makromeren teilen sich durch Meridionalfurchen in einen Ring von 8 gleichgroßen Zellen. c) Die vier Mikromeren schnüren zum vegetativen Pol 4 kleinste Mikromeren ab. Die 4 Mikromeren des 16-Zellstadiums teilen sich nicht so schnell wie die übrigen Blastomeren. Sie wandern später als primäre Mesenchymzellen ins Innere der Blastula ein. Im 64-Zellstadium haben wir folgende Verhältnisse: 40 an1 + an2 - Blastomeren 8 veg1 - Blastomeren 8 veg2 - Blastomeren 8 Mikromeren Bei weiteren Teilungen werden die Größenunterschiede zwischen den Zellen verwischt und es bildet sich eine mit Gallerte gefüllte Furchungshöhle. Zu diesem Zeitpunkt kann man den Keim als Blastula → Blasenkeim bezeichnen.

Erklärung des Begriffes "Determination": Man sagt, eine Zelle ist determiniert, wenn ihre Entwicklungsrichtung festgelegt ist, d.h. wenn eine Zelle unwiderruflich programmiert worden ist, sich z.B. zu einer Muskel- oder Gehirnzelle zu entwickeln. Unter Differenzierung versteht man die Ausprägung von Merkmalen, die spezifisch für eine Zelle, einen Zellverband oder ein Organ sind. In der molekularen Entwicklungsbiologie kann der Differenzierungszustand und Differenzierungstyp bestimmter Zellen durch molekulare Marker (antisense-RNA oder monobzw. polyklonale Antikörper) bereits vor der histotypischen (histologisch charakterisierbaren) Differenzierung nachgewiesen werden. [Histologie = Gewebelehre].

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1. Die Echinodermen-Blastula ist bereits früh bekleidet mit beweglichen Wimpern. Sie bewegt sich zuerst in der Eihülle und schwimmt nach dem Ausschlüpfen frei beweglich umher. 2. Auswachsen von Wimpern am animal Pol. 3. Abplattung des vegetativen Pols. 4. Einwanderung (von dort aus) des primären Mesenchyms, das von den Mikromeren des 16Zell-Stadiums abstammt. 5. Ringbildung des primären Mesenchyms um die Basis des Urdarms mit 2 größeren (paarigen) Anhäufungen links und rechts an der künftigen Ventralseite des Keims. Damit zeigt der Keim bilateral-symmetrischen Bau. Besonders deutlich ist dies etwas später in der Entwicklung, siehe bei Prismenstadium. 6. Ausscheidung von Dreistrahlern als erste Anlage des Larvenskeletts in den paarigen Ansammlungen der primären Mesenchymzellen. 7. Auswanderung von sekundären Mesenchymzellen vom Gipfel des Urdarmdaches. 8. Seitlich werden als Mesoderm die Coelomsäcke abgeschnürt. 9. Gliederung des Darmes in Oesophagus, Mitteldarm und Enddarm. 10. Der Darm krümmt sich zur künftigen Ventralseite. Der animale ventrale Teil plattet sich zum Oralfeld ab. 11. Das Ektoderm auf der Dorsalseite wächst stärker als auf der Ventralseite und dehnt sich aus → Entstehung des Prismenstadiums. 12. Einsenkung des Ektoderms auf der Ventralseite als Mundbucht und Verschmelzung mit dem Urdarmgipfel. → Der Anfang des Oesophagus ist also ektodermaler Herkunft. →Deuterostomia* 13. Schließlich wachsen die Oral- und Analfortsätze aus → Entstehung der Pluteuslarve *Deuterostomia: Urmund wird zum After. Der Vorderdarm bricht sekundär zur Mundbucht durch. Nervensystem wird auf der Rückenseite angelegt.

Protostomia: Urmund wird zur späteren Mundregion. Der After entsteht durch sekundäre Einsenkung des Ektoderms und verschmilzt mit dem caudalen Teil des Urdarms. Neuralsystem wird auf der Bauchseite angelegt. Ebenso wie bei Amphibien, konnte bei den Seeigeln die prospektive Bedeutung bestimmter Keimbezirke durch Farbmarkierungen bestimmt werden → Vitalmarkierungs-Versuche mit Vitalfarben (s.Abb. im Anhang). Der Zellkranz an1 des 16-Zellstadiums liefert einen ganz bestimmten Ektodermbereich. Werden im 16-Zellstadium die Makromeren angefärbt, so wird neben dem Darm auch ein großer Teil Ektoderm gefärbt. Die Grenze zwischen Ektoderm und Entoderm muß also innerhalb der Makromeren des 32-ZellStadiums verlaufen, beim 64-Zellstadium also zwischen veg1 und veg2. Das konnte durch Anfärbung von veg2 (und Mikromeren) des 64Zellstadiums gezeigt werden. Wird der gesamte animale Teil eines 8-oder 16Zellstadiums isoliert aufgezogen, so geht daraus nur ein Wimpern trangendes Fragment hervor (Es findet keine Gastrulation statt). Dagegen ist der vegetative Bereich in der Lage, zu gastrulieren und Larven zu bilden. In der vegetativen Hälfte ist also Material vorhanden, aus dem in der Normogenese primäres Mesenchym, Entoderm und ein Teil des Ektoderms hervorgeht. Bestimmte Bereiche können jedoch durch andere Keimregionen ersetzt werden (reguliert werden). Der EchinodermenKeim ist also kein Mosaikkeim. Dies konnte durch Kombinationen verschiedener Keimbereiche gezeigt werden. Die einzelnen Zellkränze sind also nicht streng gemäß ihrer prospektiven Bedeutung in ihrer Entwicklung festgelegt.

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Ihre prospektive Potenz ist also größer als ihre prospektive Bedeutung. Man kann also für Mosaik- im Vergleich zu Regulations-Eiern folgende Definitionen anwenden: Mosaik-Eier: prospektive Potenz = prospektive Bedeutung Regulations-Eier: prospektive Potenz > prospektive Bedeutung. Diese konnte auch durch Defektversuche gezeigt werden ( Abb.88) Normalerweise geht aus veg2 der Darm, nicht aber das Skelett hervor. Aus veg1 geht ein Teil des Ektoderms hervor, bei gleichzeitiger Anwesenheit von Mikromeren aber Darm, wobei sich die Mikromeren selber zum Larvenskelett entwickeln. Auch bei Fehlen der vegetativen Blastomeren, aber bei Anwesenheit der Mikromeren entsteht eine normale Pluteuslarve(Abb.88 an1+4 Mikromeren; an2+2 Mikromeren).

Abb. 88

Daraus wurde geschlossen, daß ein animal/vegetatives Gefälle vorhanden sei. Nur bei Kombination von animalen und vegetativen Keimberei- Abb. 89 chen in der richtigen Relation erhält man vollständige (normale) Pluteuslarven. Das konnte in Kombinationsversuchen animaler und vegetativer Blastomeren gezeigt werden (Abb.88). Diese Ergebnisse wurden mittels der GradientenHypothese von Hörstadius, Runnström und Cziak erklärt (Abb.89). Die höchste animale Tendenz ist im obersten Zellkranz an1 vorhanden, die höchste vegetative in den Mikromeren. Werden entsprechende Keimbereiche, animale und vegetative, in der richtigen Relation kombiniert, erhält man normale Larven.

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Insektenentwicklung Die Insekten sind erst recht spät Objekte der Entwicklungsphysiologie geworden. Besonders erwähnenswert sind die Experimente zur Transdetermination von Zellen in Imaginalscheiben von Hadorn, der Nachweis von Genaktivitäten an Riesenchromosomen (Beermann), die Wirkung der Metamorphose steuernder Hormone (Karlson) und Schnürungsexperimente zur Kausalanalyse der Entstehung der Körperachse (Sander, Kalthoff, Ilmensee). In neuester Zeit wurden gerade mit Insekten (insbesondere Drosophila = Tau fliege) weitreichende molekulargenetische Ergebnisse erzielt (Gehring, Jäckle, Nüsslein-Volhard, Lewis (USA), Wieschaus (USA); Nobelpreis 1995 für die 3 letzten Wissenschaftler). Von großer Bedeutung auch für die Vertebratenentwicklung einschließlich Mensch sind die Befunde über Maternaleffektgene, Segmentierungsgene und eine Homeobox enthaltende Gene (Abb. 120, 121). Da die Insekten die artenreichste Tierklasse darstellen (wichtige Vertreter im Ökosystem), erscheint es mir für angehende Biologen (nicht nur für entwicklungsbiologisch Interessierte) als besonders notwendig, sich mit der Embryonalentwicklung dieser Arthropoden vertraut zu machen. Die Insekten weisen schon während der Oogenese (Abb. 90) eine centrolecithale Dotterverteilung auf und furchen sich deshalb später superfiziell. Zunächst soll eine allgemeine schematische Darstellung (Prototyp) der Entwicklung ohne Konzentrierung auf einen bestimmten Eityp erfolgen: 1.

Abb. 90 Verschiedene Eifachtypen bei Insekten panoistisch (links) meroistisch-polytroph (Mitte) meroistisch-telotroph (rechts)

Die Kernteilungen beginnen in der Tiefe des Dotters. Insekteneier sind sehr dotterreich mit zentral angeordnetem Dotter (centrolecithal). Die Kerne liegen im sogenannten Furchungszentrum umgeben von Cytoplasmahöfen (Abb.91 a-c).

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2.

Mit den Cytoplasmahöfen wandern die Kerne (Furchungsenergiden ) bei gleichzeitiger Vermehrung (viele Mitosen) auseinander und dann zur Eioberfläche.

3.

Dort verschmilzt ihr Hofplasma mit einer Cytoplasmaschicht an der Eioberfläche, dem Rindenplasma oder dem sogenannten Periplasma.

4.

Nach weiterer Kernvermehrung erfolgt das Auftreten von Zellgrenzen. Dieses einschichtige Oberflächenepithel stellt das Blastoderm dar (Blastodermstadium).

5.

Ausbildung der Keimanlage. Die Zellen im Bereich der zukünftigen Keimanlage werden höher, teilen sich häufiger und scharen sich enger zusammen als im übrigen Blastoderm. Diese Region entspricht dem späteren Thorax, dem sogenannten Differenzierungszentrum. Von hier gehen alle weiteren Prozesse aus. Im typischen Falle formt sich eine paarige Keimanlage. Diese Keimanlage schließt sich ventralwärts zu einer schild- oder herzförmigen Anlage zusammen. Ihr vorderer Teil verbreitert sich zu den paarigen Kopflappen. Je nach Art kann die Keimanlage einen großen Teil des Blastoderms einnehmen oder aber nur winzig sein (1/8-1/20 der Eilänge) z.B. bei der Libelle Platycnemis pennipes.

6.

7.

Abb. 91

Die Mittelplatte senkt sich unter Bildung einer „Primitivrinne“ als unteres Blatt ein und wird von den Seitenplatten, die das Ektoderm bilden, überwachsen. Dieser Vorgang geht vom Differenzierungszentrum aus und schreitet nach vorne und hinten fort ↔ . Vom Differenzierungszentrum geht auch die Segmentierung

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des Körpers aus. 1. Segmentgrenze zwischen 2. Maxille und 1. Thoraxsegment. Sobald die Ektodermseitenplatten sich median zusammengeschlossen haben, wird die Keimanlage als Keimstreif bezeichnet. 8.

Aus dem extraembryonalen Blastoderm entwickeln sich 2 Embryonalhüllen, eine äußere, die Serosa und eine innere, das Amnion. Das Amnion geht vom Rand der Keimanlage aus und schließt sich über ihr. Die sich bildende Amnionhöhle oder Keimhöhle ist mit einer Flüssigkeit gefüllt, auf der die Keimanlage ruht und in die später die Extremitäten vorgestülpt werden.

9.

Das Ektoderm stülpt sich in der Nähe des Vorder- und Hinterendes ein zu Vorderund Hinterdarmanlage.

10.

Vom Differenzierungszentrum ausgehend sondern sich nach hinten und vorne und seitlich Neuroblastengruppen ab, aus denen die Ganglien des Bauchmarkes hervorgehen. Im Kopfbereich gliedert sich die paarige Anlage des Gehirns vom Ektoderm ab.

11.

Im unteren Blatt trennen sich von einem Mittelstreifen, der im typischen Fall zu Entoderm wird, paarige Seitenstreifen als Mesoderm ab.

Gemäß der Ektodermsegmentierung gliedert sich das Mesoderm. In jedem segmentalen Abschnitt entsteht eine Coelomhöhle. Die Coelomsäcke öffnen sich später zur allgemeinen Leibeshöhle und Abb. 92

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die Teile ihrer Wand liefern Anlagen der: 1. Skelettmuskulatur 2. Muskelumkleidung des Darmes 3. Mesodermale Umkleidung anderer Organe 4. Fettkörper 5. Blutzellen. Alle Organe werden zunächst im ventralen Keimstreif angelegt; dann wachsen die Seitenteile im Zusammenhang mit dem Amnion dorsalwärts und vollziehen den Rückenschluß. Bei sogenannten Kurzkeimen (kleine Keimanlage) streckt sich der Embryo während der Entwicklung, krümmt sich dabei und wird tief in die Dottermasse eingesenkt (Einrollung). Später wird diese Einrollung durch eine Ausrollung wieder rückgängig gemacht. Dies ist der Fall beim Kurzkeim der Libelle Platycnemis pennipes. Die Honigbiene ist ein typischer Vertreter des Langkeims.

Determinationsvorgänge bei den Insekten (Klassische Versuche von Kalthoff und Sander, u.a.) Über die frühembryonalen Determinationsvorgän-

ge bei Insekten geben Schnürungs- und UVBestrahlungsexperimente Auskunft. Man kann folgende Zentren unterscheiden: 1. Bildungszentrum (BZ) 2. Differenzierungszentrum. (DZ) Ohne ihre Aktivität kann keine normale Entwicklung erfolgen. Wird während der Furchung ein kleines Stück des Hinterendes des Keimes abgeschnürt, bevor die Kerne die Eioberfläche erreicht haben, entsteht ein normaler Keim. Legt man die Schnürung nur wenig weiter nach vorn, entsteht überhaupt kein Keim. Es geht also vom Bildungszentrum, wenn es mit Kernen versorgt ist, eine Information zum vorderen Teil des Keimes aus, die wichtig zur weiteren Differenzierung ist. Ebenso wichtig ist eine Region in der mittleren Zone des Keimes, das sogenannte Differenzierungszentrum. Vor oder hinter dieser Zone im 512-Zell-Stadium geschnürt, läßt den Keim nur dort entstehen, wo das Differenzierungszentrum enthalten ist. Durch

Abb. 93

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UV-Bestrahlung wird eine Verschiebung des DZ bewirkt. Im Blastodermstadium liegt der Ort des DZ schon fest und nur der Teil, der das DZ enthält, bildet einen Keim. Schnürung in der Mitte des DZ → beide Hälften entwickeln eine Keimanlage.

Neueste Forschungen (Arbeiten von Jäckle, Nüsslein-Volhard, Wieschaus, Lewis) Die weitgehende Aufklärung der Mechanismen bei der Konstruktion des Körperbauplanes (Körpergrundgestalt) von Drosophila während der frühembryonalen Entwicklung wurde begünstigt durch drei wesentliche Gesichtspunkte:

Unvollständige Schnürung während der Furchung ergibt → Kopf vorne und Rumpf hinten 1.Verfügbarkeit von Mutanten bei gleichzeitiger Erklärung:BZ und DZ können ungehindert ihre kurzer Generationszeit Wirkung ausüben. Die weitere unvollständige Entwicklung liegt daran, daß die Einrollung be- 2. Freie Diffusion von Morphogenen im gesamten hindert ist durch die Schnürung. Embryo (keine Aufteilung [Kompartmentierung] des Embryos in der Frühphase Es ist also folgende Reaktionsfolge festzustellen: der Embryonalentwicklung; bei den Seeigeln und Vertebraten erfolgt bereits kurz nach der 1. Aktivierung des Bildungszentrums durch einBefruchtung die Aufteilung in Blastomeren) wandernde Kerne. 2. Aktivierung des Differenzierungszentrums 3. Anwendung molekularbiologischer Technikdurch das Bildungszentrum. en und ergänzender genetischer Untersuchungen Das Bildungszentrum ist nicht mit den Polzellen zu verwechseln. Aus ihnen gehen die Keimzellen Am Aufbau der Körpergrundgestalt sind 5 Klassen hervor. Es handelt sich um Furchungskerne, die in von Genen beteiligt: das Posterior-Ende eingewandert sind und durch das dortige Rindenplasma zu Keimzellen deter- 1. Maternale Gene (Eipolaritätsgene = egg miniert werden. Sie werden als Polzellen nach polarity genes) außen abgeschnürt, später wieder in das Keimin- 2. Gap-Gene nere aufgenommen und gelangen in das Meso- 3. Paaregelgene derm der Genitalanlage. Werden Sie durch UV 4. Segmentpolaritätsgene bestrahlt, so entstehen unfruchtbare Individuen 5. Homöotische Gene (Abb. 13B ). Diese mittels klassischer embryologischer Im Folgenden die Schilderung der Prozesse nur in Methoden erzielten Erkenntnisse sind durch die Grundzügen. molekulargenetischen Methoden in jüngster Zeit (Darstellung der detaillierten und komplizierten vertieft und erweitert worden. Die Grundprinzipien Abläufe ist Stoff meiner Vorlesung im Hauptder Embryonalentwicklung sind somit auch aus studium) molekularbiologischer Sicht weitgehend aufgeklärt worden (Campos-Ortega, Jäckle, Zunächst wird im Insektenei festgelegt, wo sich Gehring, Nüsslein-Volhard, Lewis, Wieschaus). später der Kopf und das Schwanzende befinden werden (Determination der Eipolarität). Weiterhin wird die Rücken- und Bauchseite determiniert.

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Diese Programmierung erfolgt durch mütterliche (maternale) Faktoren, von denen man bis jetzt 25 kennt. Anteriore Organisatorgene determinieren den Kopf und Thoraxbereich, posteriore Organisatorgene kontrollieren die Entwicklung des Abdomens. Terminale Organisatorgene determinieren die Bildung von Terminalstrukturen am Vorder- bzw. Hinterende des Embryos. Es handelt sich bei den erwähnten Prozessen um ein kompliziertes Wechselspiel zwischen verschiedenen Transkriptionsfaktoren und Faktoren, die an der Synthese, Transport und Lokalisierung der anterioren und posterioren Signalfaktoren beteiligt sind. So bilden sich zunächst zwei gegeneinander gerichtete Gradienten. Einer wird durch das Gen biocoid (mRNA, Protein und Gradient) von anterior nach posterior (cranial nach caudal) realisiert und ein entgegengesetzter Gradient, gesteuert durch Gene wie nanos und caudal, verläuft von caudal nach cranial (Abb.120 ). Weiterhin wird schon im Ei die dorsoventrale Polarität (Rücken/Bauch) durch lokalisierte Signale ausgehend von den die Eizelle umgebenden Follikelzellen(Abb.61) festgelegt (Abb. 90F; Drosophila-Typ:Abb.90 Mitte). Sie binden an Rezeptoren auf der Außenseite des Eies. Das dadurch erfolgende transmembrane Signal kontrolliert die Verteilung eines genregulatorisch wirksamen Proteins. Durch die asymmetrische Verteilung des dorsal-Proteins und das in den perivitellinen Raum sezernierte Protein (decapentaplegic = dpp) kommt es zur Interaktion mit weiteren Genen cactus und twist und letztendlich zur Determination der dorsoventralen Polarität. Besonders erwähnenswert ist, daß dpp-Gen für ein Protein der TGFβSuperproteinfamilie kodiert. Activin (zuerst als vegetalisierender Faktor beschrieben) ist ebenfalls ein Mitglied der TGFß-Superfamilie und spielt während der Amphibien-entwicklung (Xenopus laevis) eine bedeutsame Rolle bei der MesodermBildung und ist wahrscheinlich bei der Ausbildung der dorso-

ventralen Polarität wesentlich beteiligt. Bei Drosophila bewirkt der biocoid Konzentrationsgradient in einem weiteren Schritt die streng koordinierte Expression von Lücken-, Paarregel-, Segmentpolaritäts- und homöotischen Genen. Dadurch kommt es zu einer stufenweisen Untergliederung des Embryos in sehr regelmäßig angeordnete Segment- und Untersegmentstrukturen (Abb. 120, 121). Nachdem die Segmentgrenzen festgelegt sind, werden die segmentspezifischen Charakteristika programmiert. Dies geschieht durch homöotische Gene (homeotic selector genes [Lewis 1978]). Es gibt zwei Regionen auf dem Drosophila Chromosom 3, welche die meisten dieser homöotischen Gene enthalten (Abb. 117 ). Es handelt sich dabei um den Antennapedia-Komplex und den Biothorax-Komplex (Lewis 1978 [Nobelpreis 1995], Abb. 118 ).

Abb. 94 Hypothese zur Evolution der Insekten Durch Modifikation und Duplikation homeotischer Gene können bestimmte Körpersegmente im Laufe der Evolution verdoppelt oder auch reduziert werden (flügellose, Dipteren, Odonata=Libellen).

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Die vierflügelige Fruchtfliege wurde erzeugt durch Postembryonale Entwicklung der In3 Mutationen im Bereich der cis-Regulatoren des sekten Ultrabithorax-Gens. Dadurch wird das 3. Thoraxsegment in ein dem 2. Thoraxsegment Je nachdem die Insekten nach Sprengen der Eischaähnliches Segment umgewandelt (Verwandlung le schon Ähnlichkeiten zum erwachsenen Tier der Halteren [Schwingkölbchen]) in ein weiteres aufweisen, unterscheidet man Flügelpaar). 1. Hemimetabole Insekten (z.B. Heuschrecken Diese entwicklungsbiologisch/genetischen [Orthopthera], Läuse und Wanzen [Hemiptera] Erkenntnisse sind von enormer Tragweite für das 2. Holometabole Insekten (z.B. Käfer und SchmetVerständnis der Evolution. Durch Duplikation und terlinge) Abwandlung von homöotischen Genen des Die Hemimetabolen wandeln durch mehrere HäuBithorax-Antennapedia-Komplexes könnte die tungen die larvalen Organe ganz allmählich in die Segmenspezifikation bei der Insektenevolution von adulten um(Abb.95). Umwandlung von Larve tausendfüßler-ähnlichen Insekten bis zu den 4- (flügellos, über das Nymphen-Stadium (äußere und 2-Flüglern (Orthoptera, Diptera) vonstatten Flügelanlagen in Flügelscheiden) zum nicht deutgegangen sei (Abb.94 ). lich anders aussehenden adulten Tier (Imago).

Abb. 95

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Die Holometabolen legen Imaginalscheiben an. Dies sind Epidermiseinstülpungen, die mehr oder weniger tief eingesenkt sind (Abb.96).

X = extraembryonales Hüllmaterial vor dem Keim A = Kopfsegmente B = Mandibelregion C = Thorax D = Vordere Abdominalsegmente 1. Schnürung des späten Blastodermstadiums ergibt zwei Teilembryonen, die zusammen alle Strukturen des gesamten Embryos darstellen.

Abb. 96 Aus ihnen gehen die Beine, Flügel , Komplexaugen und die vom Ektoderm gelieferten Teile des Geschlechtsapparats hervor. Nach mehreren Larvenhäutungen entsteht die Puppe und schließlich die Imago. Bei dieser vollständigen Metamorphose sehen die Imago-Organe ganz anders aus als die larvalen. Die Kernäquivalenz (Pluripotenz) konnte auch für Insekten (Drosophila) ähnlich den Experimenten von Gurdon an Amphibien festgestellt werden. R egionale Differenzierungsunterschiede müssen auf Qualitätsunterschiede im kortikalen Plasma zurückgeführt werden. Daß bestimmte Gradienten, vor allem anterior/posterior, cranial/caudal im Insektenei vorhanden sind, konnte schon durch die klassischen auch durch die Versuche von Sanders an der Kleinzikade Euscelis gezeigt werden. Der hintere Pol ist durch eine Ansammlung symbiontischer Bakterien gekennzeichnet. Die Regionen des Eies wurden von Sanders folgendermaßen gekennzeichnet (siehe Abbildungen S.48, 50 bei Ede:Einführung in die Entwicklungsbiologie und Wolpert: Principles of Development, Abb. 5.34, hier verändert im Skript Abb. 97):

2. Wird die Schnürung aber an einem früheren Stadium, nämlich Stadium der Kernvermehrung durchgeführt, fehlen dem entstehenden Teilembryo sämtliche mittleren Strukturen. Gemäß der Doppelgradientenhypothese war offensichtlich der Gradient zum Zeitpunkt der Schnürung noch nicht aufgebaut. (Fehlen der Information zur Bildung mittlerer Strukturen). 3. Bei einer Schnürung im Kernvermehrungsstadium und Plazierung des Hinterpolmaterials (HPM) mit der Bakterienkugel direkt vor die Schnürstelle, bildet sich hinter der Schnürung ein defekter Embryo, während vorne ein stark verkürzter, aber normaler Embryo entsteht. Das zeigt, daß offensichtlich nun im vorderen Schnürbereich die Quelle des hinteren Gradienten in Form des Plasma/Symbionten-Materials transplantiert wurde. 4. Verschiebt man die Schnürung ganz nach vorne und plaziert das HPM direkt dahinter, so bildet sich vorne nur extraembryonales Hüllmaterial, hinten aber ein Doppelabdomen. Das erkärt sich daraus, daß hinten Informationen für das Abdomen bestehen bleiben. Durch Transplantation des HPM wird auch dort ein Abdomengradient vor der Schnürung gebildet. Es überwiegen die hinteren über die vorderen Faktoren.

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5. Verschiebt man im Kernvermehrungsstadium das HPM zur Mitte des Eies und schnürt erst im späten Blastodermstadium, wenn sich der neue Gradient bereits ausgebildet hat, dann ist es gleichgültig, ob vor oder hinter der Symbiontenmasse geschnürt wird. In jedem Fall bildet sich anterior ein kompletter verkürzter Embryo und hinten ein inverser Halbembryo.

mit großer Akribie sowohl am Modellsystem Drosophila als auch an den VertrebratenModellsystemen Xenopus laevis und Maus/Ratte fortgesetzt. Der Interessierte an diesem zentralen Forschungsgebiet der modernen Molekulargenetischen Entwicklungsbiologie sei für weiterführende Studien auf die Lehrbücher Gilbert: Developmental Biology und Albers et al.: Molekularbiologie der Zelle) verwiesen. Molekulargeneti6. Bei der Chironomide Smittia konnte Kalthoff sche Grundlagen werden auch in meiner Vorledurch UV-Bestrahlung des vorderen Eipols sung : Entwicklungsbiologie und Zellbiologie zum Zeitpunkt der Kernmvermehrung und (Hauptstudium) vermittelt. Kernmigration Doppelabdomenkeime erzeugen. Auch diese Befunde stehen mit dem Doppelgradientenmodell im Einklang. Offensichtlich wird der vordere Gradient durch UV zerstört. Durch RNase- Behandlungen des Vorderpols entsteht ein Doppelabdomen. Offensichtlich handelt es sich bei den Targets der Bestrahlung und RNase-Behandlung um RNPPartikel (Ribonukleoprotein-Partikel), die maskierte maternale m-RNA darstellen. Da der Prozentsatz UV-induzierter Doppelabdomen zum Zeitpunkt der Kernvermehrung am größten war, wird die mRNA eventuell zu diesem Zeitpunkt translatiert.

Die Existenz solcher Gradienten ist auch in jüngster Zeit mit molekularbiologisch-gentechnischen Methoden bestätigt worden. Maternaleffektgene wie bicoid und caudal (Abb.116,12) erzeugen im befruchteten Ei anterior-posterior0e Gradienten. Gradienten homeotischer Gene findet man auch während der Embryonalentwicklung der Amphi- Abb. 97 Erklärung siehe Text bien und der Säuger. Die modernen leistungsfähigen molekularbiologischen Techniken haben den Kenntnisstand in den letzten Jahren über zellbiologischen Entwicklungsprinzipien (gültig auch für andere Organismen) am Modellsystem der Insektenentwicklung (insbesondere Drosophila) exponentiell erweitert. Diese Forschungsaktivitäten werden auch im Augenblick

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Vogelembryogenese Die Bedeutung der Kenntnis der frühembryonalen Entwicklung der Vögel besteht in der großen Ähnlichkeit mit der Entwicklung der Säugetiere (einschließlich Mensch). Reptilien, Vögel und Säuger lassen sich zu den sogenannten Amniota zusammenfassen, deren Embryonen eine spezielle Eihülle (das Amnion) ausbilden. Die Besonderheit des Vogeleies besteht darin, daß es im Gegensatz zum Säugerkeim für Beobachtungen relativ leicht zugänglich ist. Wesentlicher Unterschied zwischen Vogel- und Säugerkeim ist der Dotterreichtum der Vogelembryonen. Es gibt Hinweise dafür, daß die Eier der Säugetiere während der Evolution erst sekundär wieder dotterarm geworden sind. Das wurde möglich, weil die Entwicklung innerhalb des mütterlichen Organismus abläuft und ihre Ernährung über den mütterlichen Kreislauf erfolgt. Die Eizelle des Vogels (wir besprechen hier die Entwicklung des Huhns) ist der Dotter des Hühnereies (Abb.98). Sie löst sich nach Abschluß ihrer Reifung aus dem Eierstock, wird mit einer Eihaut, dem Oolemm, umhüllt und wird während ihrer Wanderung im Eileiter mit der Eiweißhülle und schließlich mit einer Kalkschale umkleidet. Beide sind Sekrete der Wandepithelien des Oviducts. Die Hauptmasse der Eizelle besteht aus Nährdotter, bestehend aus kleineren und größeren Fettkügelchen. Direkt unter dem Oolemm, am animalen Pol des lebendigen Eies, liegt ein kleiner, weißer Fleck. Das ist die Keimscheibe. Sie liegt im lebenden Ei immer oben (orientiert sich auch nach Drehung des Eies immer wieder nach oben). Beim Dotter kann man zwei Typen unterscheiden: a) weißer b) gelber Dotter. Sie sind abwechselnd schalenförmig im Ei gelagert. Der weiße Dotter umgibt das ganze Ei unter dem Oolemm. Unter der Keimscheibe kommt er aber in größeren Mengen vor und dringt als kolbenförmiger Zapfen (Latebra) bis in den Mittelpunkt der Dotterkugel vor. Die Dotterkugel

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Abb. 98 wird innerhalb der Kalkschale festgehalten durch zwei spiralig gedrehte Stränge, welche aus einer besonders zähen Eiweißsubstanz bestehen (Chalazen). Sie ziehen sich zu den beiden Polen des Eies und sind dort mit der inneren Schalenhaut verbunden, der Membrana testae. Die Kalkschale (Testa) besteht aus einem durch Kalksalze imprägnierten Fasergerüst, das luftdurchlässig ist. Das Ei wird kurz nach der Ablösung aus dem Eierstock im Oviduct befruchtet und beginnt sofort mit der Furchung. Bei der Eiablage befindet sich das Ei im Gastrulastadium. Das war der Grund dafür, daß für viele experimentelle Untersuchungen an frühen Furchungsstadien die Amphibien vorgezogen werden, die vom ungefurchten Ei an außerhalb des mütterlichen Organismus heranwachsen. Furchung Bei den Vögeln beobachten wir eine partielle oder discoidale (scheibenförmige Keimanlage) Furch

ung mit einer telolecithalen Dotterverteilung. Das Ei furcht sich nur im Bereich der Keimscheibe, die große Dottermasse wird nicht in die Furchungsprozesse einbezogen. Die ersten beiden Furchungen erfolgen vertical, die 3. Furchung verläuft wie bei den Amphibien horizontal; danach folgen unregelmäßige Teilungen (horizontal bzw. vertical). Die Keimscheibe wächst sowohl flächenhaft als auch in der Dicke. Mit dem Beginn der Bebrütung (Gastrula) verflüssigt sich der Dotter (weiße Dotter) unter der Keimscheibe und es entsteht die sogenannte Subgerminalhöhle . Sie ist mit Einschränkungen vergleichbar mit dem Blastocoel bei den Amphibien. Sie vergrößert sich zunehmend mit der Ausbreitung der Keimscheibe. Nur ein Teil der Keimscheibe wird zum Keimfeld des Embryos. Diese sogenannte Area pellucida, dem innersten Hof der Keimscheibe, liegt halb transparent über der Subgerminalhöhle. Weiter peripher schließt sich die Area opaca an. Das ist eine Zone, in welcher die Keimscheibe dem entodermalen Randwulst aufliegt, der die Subgerminalhöhle begrenzt. Noch weiter peripher folgt dann das Dotterfeld, Area vitellina, das im Laufe der Entwicklung von der Keimscheibe überwachsen wird. Das Hinterende der Keimscheibe ist verdickt und kennzeichnet bereits vor der Bebrütung die Längsachse des Keims. Kurze Zeit nach der Eiablage ist der Keim zweischichtig geworden. Das Entoderm hat sich gebildet. Es hat sich durch Abspaltung (Delamination) aus der Masse der Furchungszellen gelöst (Delaminations-Entoderm). Ein Teil der Zelle stammt aber auch vom posterioren Teil der Keimscheibe. Eine Invagination findet nicht statt (bezüglich des Entoderms). Im Entoderm werden schon während der Furchung im cranialen Bereich der Keimscheibe die Urgeschlechtszellen lokalisiert.

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Nach 10-12 h Bebrütung wird in der Area pellucida von hinten (caudal) nach vorne (cranial) ein verdickter Zellstreifen im Ektoderm, der sogenannte Primitivstreifen sichtbar. Am vorderen Ende bildet sich der sogenannte Primitivknoten oder auch Hensenscher Knoten( Abb.99).

Abb. 100

Abb. 99 18 Std. Bebrütung (Abb. 100) Vom Hensenschen Knoten wird nach cranial (kopfwärts) unter dem Ektoderm ein feiner Längsstreifen gebildet, der sogenannte Kopffortsatz (Chorda dorsalis). 18-30 Std. Bebrütung (Abb. 100) Cranial bildet sich die Medullarplatte, die durch Auffaltung zur Rinne und dann zum Rohr wird. Gleichzeitig wird caudal die Primitivrinne kürzer. Wenn das Medullarrohr bis auf den noch offenen Neuroporus posterior, in dessen Boden

er Hensensche Knoten liegt, geschlossen ist, beginnt sich der Embryonalkörper von der Area pellucida, der Keimscheibe, abzufalten. Vor dem Medullarrohr (cranial) bildet sich die Amnionfalte, erhebt sich über den Kopf, während der Embryo gleichsam in den Dotter einsinkt. Anschließend bilden sich die seitlichen Amnionfalten, später die hinteren Amnionfalten bis der gesamte Embryo eingeschlossen ist. Alles, was außerhalb dieser Falten liegt wird als extraembryonaler Teil der Keimanlage bezeichnet. Die Herzanlage bildet sich durch Abfaltung des visceralen Mesodermblattes auf der Ventralseite des Embryos, wo sich die beiden Blätter zur zunächst paarigen Herzanlage vereinigen. Im Gegensatz zu Fischen und Amphibien, die nackt in den Hüllen ihrer Eier liegen, entwickeln die Embryonen der Vögel und 107

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Säugetiere neben einem Dottersack, den auch die Fische besitzen, folgende Strukturen: 1.Amnion 2.Chorion und 3.Allantois.

hen aus einer ektodermalen und mesodermalen Schicht. Der Dottersack wird von allen 3 Keimblättern fast ganz umwachsen.

75 Std. Bebrütung

Es handelt sich bei diesen extraembryonalen Organen um zellig gegliederte Systeme. Sie gehören zur lebenden Substanz des Embryos, wenn sie auch bei der Geburt oder beim Schlüpfen abgeworfen werden. Aufgrund des Fehlens oder Besitzes dieser Organe teilt man die Wirbeltiere ein in: I. Anamnier (Fische, Amphibien) II. Amnioten (Reptilien, Vögel, Säuger) Der Dottersack (Saccus vitellinus) (Bruchsack des Mitteldarms) I. Bei Fischen, Reptilien und Vögeln ist der Dottervorrat extraembryonal lokalisiert und primär (von Anfang an) vorhanden. II. Bei Säugetieren wird der Dottersack als gewisser Nahrungsvorrat erst sekundär gefüllt. Dem Dottersack liegt das viscerale Mesodermblatt an, das durch sein engmaschiges Kapillarsystem den Dotter abbaut und dem Embryo als Nahrung zuführt. Der Darm faltet sich im Laufe der Embryonalentwicklung vom Entoderm des Dottersackes ab, bleibt aber mit diesem durch den Dottersackgang, Ductus omphaloentericus oder vitellinus, innerhalb des Nabelstranges verbunden. Bei den Sauropsiden wird der Dottersack in den Darm aufgenommen und so wieder zurückgezogen. Bei den Säugern wird er vom Darm abgeschnürt und bei der Geburt abgeworfen.

Das extraembryonale Cölom hat sich durch die mächtige Entwicklung der Allantois stark erweitert (Abb. 104). Das an die Eiweißschicht angrenzende amniogene Chorion umhüllt den ganzen Keim und den Dottersack bis auf eine kleine Stelle am vegetativen Pol. Durch das dem Chorion anliegende viscerale Mesodermblatt der Allantois erfolgt später in ganzer Ausdehnung die Vascularisation des Chorion (allantoide Vascularisation). Die dem Amnion anliegende Fläche des visceralen Allantoisblattes verwächst mit dem Amnion und bildet das sogenannte Muskelblatt, aus dem glatte Muskulatur entsteht. Der Nabelring (N) schließt, vom Amnion umhüllt (Hautnabel) den Dottersackgang und Allantoisgang ein. Beide liegen innerhalb ihres Nabelstrangcoeloms.

50-60 Std. Bebrütung (Abb. 104) Der Embryo ist vom Dottersack abgefaltet und in ihn hineingesunken. Amnion und Chorion beste

Abb. 101 108

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Entwicklung des embryonalen Blutgefäßsystems (Amphibien - Vögel) Amphibien Ab dem Schwanzknospenstadium müssen die Nahrungsstoffe aus dem im Darmboden vorhandenen Nährdotter allen Embryobereichen zugeführt werden. Dargestellt ist in der Abbildung 103 der unter dem Ektoderm (präs. Epidermis) durchschimmernde Rand des Mesoderms. Die Blutgefäßanlagen (paarig) verschmelzen zu einem gemeinsamen Strang, der späteren Vena subintestinalis. Die Randzellen werden zum Endothelrohr der Vena subintestinalis. Die inneren Zellen zu Blutzellen. Die Herzanlage besteht auf jeder Seite aus einem Endothelrohr. Die Endothelrohre haben sich bereits zum Endothelschlauch des Herzens verei- Abb. 103 nigt. Das viscerale Blatt des Mesoderms hat sich Aus dem Herzen entspringen cranialwärts die Aorta an dieser Stelle zur Myoepikardanalge des Herventralis, von der die Kiemenbogenarterien abgezens verdickt(Abb.102). hen. Diese münden in die dorsal gelegene Aortenwurzel, von der im Körperbereich Seitenäste abgehen. Der am frühesten ausgebildete Seitenast ist die Arteria vitellina, die den Darm umgibt. Mesocardium anterius. Es handelt sich um die übriggebliebene Verbindung zwischen dem visceralen und parietalen Mesodermblatt (viscerales Blatt ist zum Myoepicard verdickt) [s.Abb.84]. Herzbildung beim Vogel Die Herzanlage verlagert sich ventralwärts, sobald sich der Embryo abfaltet (Abb.105). Querschnitte im Kopfbereich eines Hühnerembryos: a) Beide Seiten des Kopfcöloms (Perikard) sind fast vereinigt bis auf das Mesocardium anterius,

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welches etwas später auch durchbricht. b) Der Endothelschlauch des Herzens zeigt noch die paarige Anlage. Im Bereich des Endothelschlauches ist das viscerale Blatt des Mesoderms zur Myoepikardanlage verdickt, aus der die gesamte übrige Wand des Herzens hervorgeht. Es muß auf die Ähnlichkeit zwischen Amphibien und Vögel hingewiesen werden. Wenn man sich bei den Amphibien den Mesodermmantel aufgeklappt denkt, so erhält man ähnliche Verhältnisse

wie bei den Frühstadien der Dotterumwachsung bei den Vögeln (genaue Erklärung während der Vorlesung). Alle zu- und abführenden Gefäße der Allantois und des Dottersacks liegen innerhalb des Nabelstranges. Wenn der Dottersack-Kreislauf zurückgebildet wird, tritt der Allantois-Kreislauf an seine Stelle. Dottersack und Allantois-Kreislauf (Hühnerembryo 100 Std. bebrütet) Der Embryo liegt auf dem Dottersack (Abb.106). Die umgebende schlauchförmige Blase ist die Allantois. Die Dottersackarterie (Arteria vitellina) entspringt aus der dorsalen Aorta. Die Allantoisarterie (A. allantoidea oder umbilicalis) entspringt aus dem caudalen Bereich der Aorta.

Abb. 104

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Extraembryonale Hilfssysteme Das Amnion (aus dem Griechischen: Schafhaut, weil bei diesem Tier offensichtlich erstmals beobachtet) umhüllt als feinhäutiger, durchsichtiger Sack den gesamten Embryo. Der Embryo schwimmt innerhalb dieses Sackes in einer Amnionflüssigkeit. Bedeutung: a) Mechanischer Schutz des Keimes b) Schutz des Embryos vor Austrocknung. Wichtige Voraussetzung für die terrestrische Lebensweise der Sauropsiden.

Bedeutung: 1. embryonaler Harnsack 2. extraembryonales Ernährungs- und Respirationsorgan (aufgrund eines gut entwickelten BlutGefäßsystems in seiner Wand) Die Allantois ist mittels Allantoisgang (Ductus allantoideus) innerhalb des Nabelstranges mit dem Enddarm des Embryos verbunden. Wenn bei einigen Sauropsiden und allen Säugern keine Stoffwechselprodukte mehr im Harnsack angesammelt werden, die Produkte also über das Gefäßsystem abgeführt werden, wird das Lumen (Hohlraum) der Allantois rudimentär.

Entstehung: I. Bei allen Sauropsiden und meisten Säugetieren Embryonalentwicklung der Säugetiere durch Vertiefung ektodermaler Falten, die über dem Embryo verwachsen. Obwohl es sich um dotterarme Eier handelt, nimmt → Faltenamnion man an, daß sie ursprünglich von Säugetieren mit II. Bei einigen Säugetieren und Mensch dotterreichen Eiern abstammen. Gründe: → Spaltamnion (Schizamnion) Spaltamnion deshalb, weil die Amnionhöhle von 1. flächenhafte Keimbildung bei den rezenten vornherein als primärer Spalt (durch Dehiszenz) Säugetieren innerhalb der embryonalen Furchungszellen ent- 2. Art der Entodermbildung (durch Abspaltung) steht. 3. Anlage des Dottersackes Das Chorion (Leder- oder Zottenhaut)

Furchung

Zweite Hülle des Embryos, die den Embryo mitsamt seinem Amnion einschließt. Bedeutung: Grenzhaut des Embryos gegenüber seiner Umwelt. Regelt Stoffwechselaustausch → wichtigstes Ernährungsorgan bei den Eiern aller Tiere (Vögel und Säugetiere), deren Ernährung nicht durch intraembryonale Dottervorräte gesichert ist.

Totale adäquale Furchung des Eies (wie bei den Amphibien). Es erfolgt aber eine unregelmäßige Teilung, so daß auch ungerade Zahlen bei den Blastomeren auftreten → (3, 5, 9 usw.).

Die Allantois (wurst- oder schlauchförmiges Gebilde)

Die einzelnen Blastomeren besitzen schon früh ganz verschiedene prospektive Bedeutung und prospektive Potenzen. Die Außenschicht der Morula hat mit der Bildung des Embryos überhaupt nichts zu tun. Aus ihr entwickelt sich das extraembryonale Ektoderm, das Chorion. Es wird seiner Aufgabe gemäß, dem

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Embryo Nahrung zuzuführen, als Trophoblast bezeichnet (aus dem griechischen: Nahrung, Speise). Der Trophoblast nimmt die Verbindung zur mütterlichen Uterusschleimhaut auf. Der Unterschied zwischen Trophoblasten-Zellen und den eigentlichen Embryonalzellen, also zwischen Hilfszellen und Bildungszellen, ist erheblich. Für die Ernährung der wenigen Embryonalzellen wird ein erstaunlicher Aufwand betrieben. Im 16-Zell-Stadium gehören 13 Zellen zum Trophoblasten u. 3 sind Bildungszellen (Abb. 107), im 574 Blastomerenstadium gehören 470 Zellen zum Trophoblasten und 104 sind Bildungszellen.

ren des Keimes liegt, verwechselt werden. Bei den Säugern ist der Hohlraum anstelle der Dottermasse der Sauropsiden getreten. Die dem Hohlraum zugekehrte Seite des Embryoblasten entspricht seinem vegetativen Pol. Von hier sondern sich durch einfache Abspaltung die Entodermzellen des Keims ab und wandern an der Innenseite des Trophoblasten entlang. So wird die Blastocyste doppelwandig und entspricht nun völlig der die Dotterkugel umwachsende zweischichtigen Keimblase der Reptilien und Vögel. Das Entoderm kann bei manchen Säugetieren bereits früh innerhalb des

Von den 104 Zellen sind 80 Entodermzellen und 20-24 die eigentlichen Embryonalzellen.

Abb. 107 Die Entwicklung des Trophoblasten Nach den ersten Zellteilungen bildet sich zunächst das Morulastadium, dem das Blastocystenstadium folgt. Es besteht aus zwei Zellbereichen, der inneren Zellmasse (präsumptive Embryonalzellen) und der sie umgebenden äußeren Zellschicht. Die äußere Zellschicht bildet den Trophoblasten, aus dem später die Placenta hervorgeht (Abb.108).Dieses Stadium darf aber nicht mit der Blastula der Amphibien und der Hohlraum der Blastocyste nicht mit dem Blastocoel der Amphibien, ein Hohlraum, der im Inne-

Abb. 108

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Embryoblasts unterschieden werden (besondere Gestalt oder aufgrund besonderer Färbbarkeit der basalen Gruppe des Embryoblasten). Bei der Primitiventwicklung kann man 4 Typen unterschieden: Typ I (Raubtiere) Die Blastocyste wird auf der Innenseite des Trophoblasten von Entodermzellen umwachsen. Sie stammen aus dem basalen Teil des Embryoblasten. Der Embryoblast wird als Keimscheibe in die Außenwand eingegliedert; die Trophoblastzellen weichen auseinander. Beim Hund entsteht so der Keimschild und in wenigen Tagen nach der Begattung in ihm der Primitivstreifen mit Hensenschen Knoten . Von da ab erfolgt die Entwicklung wie beim Hühnchen. Das Amnion entsteht aus freier Auffaltung des Ektoderms nach Ausbildung der Medullarrinne. Das Chorion ist wohl schon als geschlossene Trophoblastschale vor der Furchung angelegt, aber erst der alte Modus der Faltenbildung trennt die Bezirke des Amnions und Chorions wirklich voneinander, genau wie beim Hühnchen. Es entsteht ein Faltenamnion und das Chorion ist seiner Abgrenzung nach als „amniogenes Chorion“ zu bezeichnen [amniogenes Chorion = weil aus dem Faltungsprozeß des Amnions entstanden]. Das Cölom schiebt sich bis über den Äquator über den Dottersack hinweg. Seine untere Hälfte liegt dem Trophoblasten direkt an.

Der bei Huftieren vorübergehende Zustand der Embryocyste wird hier beibehalten. Der umschlossene Raum entwickelt sich direkt zur „MarkAmnionhöhle“, d.h. zum Hohlraum des Amnions und des Medullarrohrs. Der Keimschild entwikkelt sich aus der basalen Platte der Embryocyste. Der obere Wandanteil bildet das Amnionepithel. Es handelt sich hier um ein Schizamnion (durch Abspaltung) im Gegensatz zum Amnion, das durch Faltung entstanden ist. Typ IV (Mensch) Es bildet sich ebenfalls eine Embryocyste und eine Mark-Amnion. Aber: Es erfolgt schon frühzeitig die Abspaltung eines Entodermblastems. Einnistung des Embryos in die Uterusschleimhaut im Blastocystenstadium Erste Entwicklungswoche Im Blastocystenstadium dringt der Embryo in die Epithelzellen (Endometrium) der Uterusschleimhaut ein und zwar mit der Seite, an der der Embryoblast (innere Zellmasse) liegt. Damit ist die erste Embryonalwoche beendet. Die Uteruswand besteht aus 3 Schichten: 1. Endometrium (Schleimhautauskleidung) 2. Myometrium (Schicht glatter Muskulatur) 3. Perimetrium (Peritoneale Außenschicht)

Typ II (Huftiere) Zweite Entwicklungswoche Im Embryoblast entsteht schon primär ein Hohlraum - die Embryocyste. Nach ihrer Eröffnung Während der 2. Entwicklungswoche kommt es bei wird sie als Keimschild wie bei I in den Tropho- der menschlichen Embryonalentwicklung zur tieblasten integriert. fen Einnistung der Blastocyste in die Uterusschleimhaut. Der Trophoblast entwickelt sich daTyp III (Insektivoren und Primaten und etwas bei zu zwei verschiedenen Bereichen, nämlich abgeändert bei den Nagetieren)

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zum

A. Synzytiotrophoblast B. Zytotrophoblast. (Abb. 109) Der Embryoblast wird zweischichtig und besteht jetzt aus Ektoderm und Entoderm. Am 8. Tag bildet sich die Ammionhöhle. Am 9. Tag ist die Blastozyste fast vollständig in die Uterusschleimhaut eingebettet. Es hat sich der primäre Dottersack gebildet, der von der Heuser-Membran begrenzt wird. Diese Membran geht im embryonalen Bereich in die Entodermschicht über. Am 11. bis 12. Entwicklungstag liegt die Blastozyste so tief im Endometriumstroma, daß nur noch eine leichte Wölbung der Uteruswand auf die Einnistungsstelle hinweist. Der Trophoblast hat sich deutlich verdickt und vergrößert. Synzytiumzellen dringen tief in das Stroma ein, wodurch es zu einer Kontaktaufnahme zum mütterlichen Kreislaufsystem kommt. Dritte Entwicklungswoche In der dritten Entwicklungswoche geht aus der 2– schichtigen Keimscheibe der aus drei Keimblätter bestehende Embryo hervor. Von nun an ist die Entwicklung weitgehend identisch mit der Vogelembryogenese. Zunächst bildet sich der Primitivstreifen aus. Er entsteht auf der caudalen Seite der Keimscheibe im Ektoderm. Cranial endet der Primitivstreifen im Primitivknoten. Ähnlich wie beim Hühnchen kommt es zur Einwanderung von Zellen von beiden Seiten des Primitivstreifens. Die Zellen wandern lateral zwischen Ektoderm und Entoderm. Dieser Vorgang wird wie bei den Amphibien als Invagination bezeichnet. Damit kommt es zur Bildung des 3. Keimblattes, dem Mesoderm. Im Bereich des Primitivknotens wandern Zellen auch cranialwärts ein und bilden somit einen röhrenförmigen Fortsatz, den Chordafortsatz. Der Chordafortsatz stellt die Anlage für das embryonaleAchsenorgan, der Chorda dorsalis, dar. Am 17. Entwicklungstag liegt das mesodermale Blatt als separate Einheit zwischen Ektoderm und

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Entoderm. Am 18. Tag besteht die Keimscheibe aus einem länglichen Gebilde, das im cranialen breiter als im caudalen Bereich ist. Der Primitivknoten verlagert sich kontinuierlich noch caudal, während sich die Chordaanlage gleichzeitig verlängert. Am Ende der 3. Woche hat sich die Neuralplatte gebildet, die ähnlich wie bei den Amphibien eine schuhsohlenähnliche Form aufweist. Auch beim Menschen wird die Neuralplatte vom Chordamesoderm induziert. In den weiteren Tagen bilden sich die Neuralfalten, dazwischenliegend befindet sich die Neuralplatte. Nach der medianen Verschmelzung der Neuralfalten entsteht das Neuralrohr. Die weiteren Prozesse (Allantois-, Amnionbildung etc.) verlaufen weitgehend ähnlich wie beim Vogelembryo. Menstruationszyklus

Hypophyse zurück hemmt die Ausschüttung von FSH. Östrogen fördert die Produktion von Prolactin und ICSH. Letzteres bewirkt wiederum die Produktion von Progesteron kurz vor der Ovulation. Progesteron sorgt für die Umwandlung des Uterusepithels in der prägraviden Phase und damit für die Vorbereitung der Einnistung des befruchteten Eies (Sekretionsphase der Uterusschleimhaut). Solange die Progesteronproduktion anhält, bleibt dieser Zustand erhalten. Wenn das Ei befruchtet wird, wandelt sich der Gelbkörper um zum Corpus luteum graviditatis. Es kommt zur Steigerung der Progesteronproduktion. Diese wird später von der Plazenta übernommen. Wird das Ei nicht befruchtet, bildet sich der Gelbkörper zurück. Folglich geht auch die Progesteronproduktion zurück, so daß die Sekretionsschleimhaut abgebaut wird und bei der Menstruation abgestoßen wird.

Der neue Zyklus nach der Abstoßung der Uterusschleimhaut wird durch die Hypophyse eingeleitet (schüttet folgende Hormone aus): Hormone FSH (Follikelstimulierendes Hormon) ICSH (Interstitialzellen-stimulierendes Hormon) und später FSH, das direkt auf die Keimzellen (Reifung eines neuen Follikels) wirkt. ICSH = LH (Luteinisierendes Hormon) bewirkt im Follikel die Produktion von Östradiol. Bei weiter ansteigender ICSH-Konzentration tritt bei bestimmten ICSH/FSH-Verhältnis Ovulation (Follikelsprung) ein und anschließend die Ausbildung des Corpus luteum (Gelbkörper). Die Hypophyse wirkt vor allem auf das Ovar. Die Keimdrüsenhormone (Östrogene) wirken auf den Uterus (Abb.110).

1. Hormone werden von speziellen endokrinen Drüsen gebildet. 2. Sie werden direkt ins Blut abgegeben. DerTransport erfolgt zu speziellen 3. Geweben und Zellen, die auf den Hormonreiz selektiv reagieren. Manche Zellen und Organe reagieren gar nicht, andere völlig entgegengesetzt in ihrem Metabolismus auf die Hormone.

Aufbau der neuen Schleimhaut

1. Kleine Moleküle (Derivate von Aminosäuren, z. B. Thyroxin) 2. Polypeptide oder Proteine (Oxytocin, Insulin) 3. Steroide (Derivate des Cholesterins)

Die Proliferationsphase ist kurz vor der Ovulation beendet. Gleichzeitig wirkt das Östrogen auf die

Oft wirken Hormone auf Gewebe, die selbst wiederum Hormone produzieren. Hormone gehören unterschiedlichen chemischen Substanzengruppen an:

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Abb. 111 Riesenchromosomen von Chironomus tentans Es handelt sich immer um das gleiche Chromosom, aber in verschiedenen Geweben. a-d Chromosom 1. Speicheldrüse (a), Malpighische Gefäße (b), Rectum (c), Mitteldarm (d) e-h Chromosom 3. Malpighische Gefäße (e,g) [e=Larve, g=Puppe], Rectum (f,g)[f=Larve, g=Puppe] a-d Genexpression (Puffs) in verschiedenen Organen e-g entwicklungsstadienabhängige Genexpression. Diese Genexpression (erkennbar als Puffbildung) wird durch erhöhte EcdysteronKonzentration ausgelöst (Abb. 113).

Abb. 112 Die Metamorphose der Froschlarve (Kaulquappe) zum erwachsenen Frosch Fehlen entsprechende Hormone (z.B. Thyroxin), bleibt die Metamorphose aus. Bei bestimmten Amphibienarten hat sich das Ausbleiben der Metamorphose im Laufe der Evolution als Dieses Beispiel zeigt die direkte(sogar Selektionsvorteil erwiesen (Phänomen der morphologisch sichtbare) Korrelation zwischen Neotenie = Eintritt der Geschlechtsreife im Hormonwirkung, Entwicklungsstadium und Larvenstadium, z.B. bei Ambystoma mexicanum Genexpression. [Axolotl]). 117

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Wirkungsweise der Hormone: 1. Sie beeinflussen die Syntheserate von Enzymen und anderen Proteinen 2. Einfluß auf die Enzymaktivität 3. Änderung der Permeabilität der Zellmembran. Kein bekanntes Hormon ist aber ein Enzym oder Coenzym. Die Hormonwirkung besteht darin, bereits vorhandene Stoffwechselprozesse zu regulieren. Ebenso wie Enzyme sind sie als „Katalysatoren“ bei Stoffwechselprozessen aktiv. Im Gegensatz zu den Enzymen nehmen sie aber an der Stoffwechselprozessen nicht selber teil. Proteohormone findet man im Blut in Konzentrationen von: 10-12 bis 10-10 Mol/Liter

Steroid-Protein -Komplex wandert in den Zellkern ein und bewirkt die Synthese spezifischer m-RNAs. Dadurch kommt es zur Bildung zellspezifischer Proteine oder sekundärer Hormone. 2. Die Peptidhormone binden an spezifische Rezeptoren in der äußeren Zellmembran (Plasmamembran). Ein Teil von ihnen besitzt einen intrazellulären Proteinanteil, der Tyrosinkinase- oder Serinkinase-Aktivität besitzt. Durch die Bindung des Hormons oder Wachstumsfaktors an den spezifischen Rezeptor werden eine Reihe weiterer Abläufe in der nachfolgenden Signalkette aktiviert, die zur Neusynthese zellspezifischer Produkte führen können. Die embryonalen Induktionsfaktoren binden ebenfalls an Rezeptoren mit Tyrosin- oder Serinkinase-Aktivität.

Schilddrüsenhormon und Steroidhormone: 10-9 bis 10-6 Mol/Liter Ecdyson bzw. sein Derivat Ecdysteron (20-OHEcdyson) bewirkt bei Fliegenmaden die Pupariumbildung (Abb.113). Es war das erste Insektenhormon, das in reiner kristallisierter Form isoliert werden konnte. Die Strukturaufklärung ergab, daß es sich um ein Steroidhormon handelt. 20-Hydroxyecdyson ist auch verantwortlich für die Häutung der Krebse. Das Schilddrüsenhormon spielt eine wenetliche Rolle bei der Amphibienmetamorphose (Abb.112). Die Hormone kann man aufgrund ihrer unterschiedlichen chemischen Struktur und ihrer Angriffspunkte in der Signalkette in der Zelle in 2 Gruppen unterteilen: 1. Steroid-Hormone 2. Peptidhormone 1. Die Steroid-Hormone dringen in die Zelle ein und werden an ein Protein gebunden. Dieser

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kulturzellen radioaktive Vorstufen zugeführt werden. Anschließend werden die Ribosomen isoliert und aus ihnen 28 S ribosomale RNA (rRNA) Nachweis der spezifischen Genexpression vor isoliert. Die rRNA wird auf die Filter gegeben, an der Entwicklung rekombinanter DNA-Techni- die die Leber-DNA gebunden ist. Die rRNA wird ken nur an die DNA-Bereiche binden, die für die rRNA kodiert. Mit dieser Methode konnte gezeigt werHybridisierung von Nukleinsäuren den, daß der Nucleolus die 28 s rRNA kodiert. Das Experiment wurde von Wallace und Birnstiel Vor der Einführung der Klonierungstechniken (1966) durchgeführt (Abb.114): wurden bereits Hybridisationstechniken eingesetzt, um zu testen, ob eine bestimmte Nucleotidsequenz mit einer anderen übereinstimmt. Wie der Name schon sagt, bestehen Hybridmoleküle aus zwei verschiedenen Nucleotidsträngen, meist unterschiedlichen Ursprungs. Sie weisen komplementäre Basenpaare auf. Es konnte gezeigt werden, daß DNA bei Erhitzen auf über 90° C in ihre Einzelstränge zerfällt. Man spricht auch von Denaturierung oder Schmelzen der DNA. (Eine Denaturierung erfolgt auch bei NaOH-Behandlung). Erfolgt auf das Erhitzen eine langsame Abkühlung, so legen sich die komplementären Basensequenzen wieder aneinander und es bilden sich wieder Doppelstränge. Werden jedoch DNA-Arten mit unterschiedlichen Gensequenzen miteinander gemischt, erfolgt keine Hybridisierung. Sind Teilbereiche der DNA identisch, erfolgt eine partielle Hybridisierung. In ähnlicher Weise kann auch RNA mit DNA Hybride bilden. So bindet RNA an die Genbereiche der DNA, an denen sie transkribiert wurde. Meist wird einer der Nucleinsäurestränge radioaktiv markiert, um den Hybridisationprozeß mit entsprechenden Detektionsmethoden nachweisen zu können. Im folgenden wird ein Experiment beschrieben, in dem die Hybridisierungstechnik eingesetzt wurde (Abb. 96): Nicht radioaktiv markierte DNA aus Frosch-Leber wird denaturiert (Zerlegen in Einzelstränge in alkalischem Milieu) und immobilisiert auf Nitrocellulose Filterpapier. Radioaktive RNA wird parallel hergestellt, indem einem anderen Frosch oder Zell-

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1. normalen Kaulquappen: Je Zellkern 2 Nucleoli 2. heterozyote Mutanten-Kaulquappe: Je Zellkern nur 1 Nucleolus 3. homozygote Mutanten-Kaulquappen: Zellkerne enthalten überhaupt keine Nucleoli (Kaulquappen sterben vor der Metamophose)

von den homozygoten Mutanten. Es wurden dann unterschiedliche Mengen von radioaktiver 28 s rRNA (verschiedene Filter) mit den 3 unterschiedlichen DNA-Typen (aus normalen Kaulquappen und Mutanten) hybridisiert. Auf einige Filter wurde wenig, auf andere mehr radioaktive rRNA auf

Abb. 114

Die isolierte DNA der 3 verschiedenen Kaulquappen Serien wurde denaturiert. 50 µg DNA wurde dann auf Filterpapier (12 Filter pro Serie) aufgebracht. Die erste Gruppe von Filtern enthielt dann denaturierte DNA von Wildtyp-Kaulquappen, die zweite von den heterozygoten Mutanten, die dritte

getragen. Es wurde folgendes Ergebnis erzielt: 1. radioaktive rRNA hybridisierte sehr gut mit normaler Kaulquappen-DNA (linke Reihe in der Abb.) 2. bei Kaulquappen ohne Nucleoli erfolgte keine

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spezifische Bindung (rechte Reihe). 3. bei heterozygoten Kaulquappen (1 Nucleolus wurde nur halb soviel rRNA gebunden wie bei normalen Kaulquappen (mittlere Reihe). Damit konnte nachgewiesen werden, daß 28 s rRNA von der Nucleolus-Region des Kaulquappen-Genoms kodiert wird. Solche Aussagen über bestimmte Genbereiche und Gene waren vor der Verfügbarkeit der neuen Klonierungstechniken aber eher die Ausnahme, da mit den oben beschriebenen Techniken nur Nucleinsäure-Abschnitte (mRNA) nachgewiesen werden konnten, die in vielen Kopien in der Zelle vorkommen. mRNA von z.B. Genen (Single copy-Gene), die für seltene Strukturproteine kodieren, ließen sich mit der Technik nicht analysieren.

Gentechnologie Die wichtigsten Techniken und Grundlagen werden in meiner Wintervorlesung erläutert. Sie sind die Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilnahme amGroßpraktikum und den Seminaren im Fach Zoophysiologie. Neue Technologien haben das Studium der DNAStruktur revolutioniert. Das gilt vor allem für die Möglichkeit, neue Informationen über das Eukaryonten-Genom und die Genregulation während der Embryogenese und Zelldifferenzierung zu erhalten. 1. Präparation von molekularen Sonden m-RNA kann aus Zellen unterschiedlich gewonnen werden: a) Isolation von m-RNA beim Prozess der Translation. Behandlung von Polysomen mit EDTA oder Puromycin - Dissoziation des Komplexes. Separation der m-RNA von den Ribosomen. Identitätsbestimmung der RNA durch in vitro Proteinsynthese (Zellfreie Proteinbiosynthese = "Cell-free protein-synthesizing systems", z.B. Reticulocyten-

oder Weizenkeim-System). Es werden radioaktive Aminosäuren dem zellfreien System zugefügt, so daß neu synthetisierte Proteine aufgrund des Einbaues der radioaktiven Vorstufen erkannt werden können . b) Eine andere nützliche Sonde wird gewonnen, in dem man - von m-RNA ausgehend - cDNA synthetisiert (Complementary [komplimentäre] DNA). Dies ist ein DNA-Einzelstrang, der gebildet wird als Kopie von mRNA mit Hilfe des Enzyms Reverse-Transkriptase. Normalerweise findet man das Enzym bei Retroviren, die statt DNA RNA enthalten. Der Besitz des Enzyms Reverse Transkriptase verleiht ihnen die Fähigkeit, komplementäre DNA-Kopien von RNA herzustellen. 2. Präparation synthetischer Gene a) Einzelsträngige cDNA kann als Matrize für die Produktion eines komplementären DNA-Stranges dienen. Erforderlich ist das Enzym DNA Polymerase I. Es entsteht ein DNA- Doppelstrang, welcher ein komplettes synthetisches Gen darstellt. So wurden die Gene synthetisiert, die für Kaninchenglobin und für Ovalbumin (Huhn) kodieren. b) Die Codon Sequenz wird aufgrund der Kenntnis der Aminosäure-Sequenz des Proteins konstruiert. Bei dieser Methode erübrigt sich die primäre Isolation von m-RNA und die anschließende Umkopierung mittels Reverser Transkriptase. Die Bedeutung solcher Techniken ist gerade auch im industriellen Bereich von revolutionärer Bedeutung. In dieser Weise ist z.B. das Insulingen chemisch synthetisiert worden. 3. Rekombinante DNA-Techniken (Klonierungstechniken) Keine einzelne Entwicklung in der Molekularbiologie hat mehr Begeisterung und Befürchtungen ausgelöst, als die Methode, eukaryontische DNA durch Einbau in Plasmide und Einschleu-

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ßung in Bakterien zu klonieren. Diese Technik hat es ermöglicht, geradezu unlimitierte Mengen von spezifischen DNA-Sequenzen zu produzieren. Plasmide sind kleine, zirkuläre DNA-Moleküle, die sich selbständig und unabhängig vom Bakteriengenom replizieren, z. B. in E.coli. Das Plasmid wird als Vehikel benutzt, um eukaryontische DNA in Bakterien einzuschleusen. Die eurkaryotische DNA wird in das Plasmid durch enzymatische Rekombination eingebaut. Sie wird zusammen mit der Plasmid-DNA repliziert. Diese Insertion von eukaryotischer DNA wurde möglich gemacht durch Restriktions-Endonucleasen. Diese Enzyme wurden aus Mikroorganismen isoliert. Sie schneiden die DNA an ganz spezifischen Stellen. Diese Orte für den Angriff dieser Enzyme ("Restriction sites") bestehen gewöhnlich aus 4 oder 6 Basenpaaren. Die Restriction sites haben pallindromische Symmetrie, d.h. die Basensequenz auf dem einen Strang der DNA ist spiegelbildlich zum komplementären. Heutzutage ist es aufgrund der rekombinanten DNA-Techniken möglich, spezielle Gene und mRNAs zu isolieren und zu identifizieren, auch dann, wenn die mRNAs nur in wenigen Kopien in der Zelle vorliegen. Diese Technik wird als Genklonierung bezeichnet. Mit traditionellen biochemischen Methoden wäre es nicht möglich, ein einzelnes Gen mit ca. 15.000 Basenpaaren aus einer Gesamtzahl von etwa 2 x 105 Genen (menschliches Genom) zu charakterisieren. Mit den modernen molekularbiologischen Methoden jedoch ist dies möglich, genauso wie die Synthese einer enormen Zahl von Kopien eines Gens. Differentielle Hybridisation (SubtraktionsKlonierung) Diese Methode wird angewandt, wenn zwei mRNA Preparationen verfügbar sind, die beide viele gemeinsame Sequenzen (identische mRNAs) besitzen, sich aber durch einige verschiedene unterscheiden, die besonders interessant sind, d.h.

mRNAs von Zellen vor oder nach heat-shock, Pharmaka-, Hormone-Gaben oder Zellen verschiedener Entwicklungsstadien (z.B. Oozyten oder Gastrulae wie im Beispiel in der Abb. im Anhang). 32P-radioaktiv

markierte cDNA wird in vitro synthetisiert ausgehend von beiden Poly(A)+ - RNAPräparationen. Die meisten cDNA Sequenzen sind bei beiden Populationen gleich. Aber in den Zellen unterschiedlicher Entwicklungsstadien sind einige neue Sequenzen vorhanden. Diese Prozedur wurde benutzt, um cDNA Klone von entwicklungsstadien-spezifischen mRNAs am VertebratenModellsystem Xenopus laevis (Südafrikanischer Krallenfrosch) zu charakterisieren(Dworkin and Dawid, 1980; Richter, Grunz, Dawid, 1988). Einbau von eukaryotischer DNA in Vektoren (Plasmide oder Phagen) Man geht dabei folgendermaßen vor: Zunächst wird die Kern-DNA (meist Eukaryoten-DNA) in viele einzelne Stücke zerlegt. Als molekularbiologisches „Schneidewerkzeug“ dienen RestriktionsEndonucleasen (auch als Restriktionsenzyme bezeichnet). Diese Enzyme erkennen spezifisch bestimmte Sequenzen der DNA und schneiden den DNA-Strang überall dort, wo diese Basensequenz vorkommt. So schneidet ECORI (isoliert aus dem Bakterium Escherichia coli) die DNA an vielen Stellen, und zwar immer dort, wo die Basensequenz 3'-Ende ....... GAATTC........ 5' 5'-Ende ....... CTTAAG........ 3' vorkommt. Es handelt sich bei den Sequenzen, die von den Restriktionsenzymen geschnitten werden um sogenannte palindromische Sequenzen, d.h. sie sind, vom 3' zum 5'-Ende bzw. vom 5' zum 3'-Ende gelesen, identisch. Eine weitere Besonderheit der Restriktionsenzyme ist es, daß ihre Schnitte entweder stumpfe (blund) oder überlappende (sticky) Enden der DNA hinterlassen.

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Als nächster Schritt folgt der Einbau der DNAFragmente in Klonierungs-Vektoren. Geeignet sind entweder ringförmige DNA-Moleküle (Plasmide) oder spezifisch veränderte Viren (Phagen). Erstere kommen in Bakterien vor und werden unabhängig vom Bakterienchromosom repliziert. Sie enthalten Gensequenzen, die für bestimmte Antibiotika abbauende Enzyme (z.B. Tetracyclin oder Ampicillin) kodieren. Wenn das Bakterium solche Plasmide enthält, ist es gegen die entsprechenden Antibiotica resistent. Bestimmte modifizierte Viren sind besonders dann für Klonierungsexperimente geeignet, wenn besonders große DNA-Fragmente kloniert werden sollen. Plasmide können so konstruiert werden, daß sie z.B. nur einen EcoRIoder BamHI-sensitive Gensequenz besitzen. Deshalb kann der Ring an nur einer Stelle aufgeschnitten werden. Wird dieses geöffnete Plasmid (viele Kopien) gemischt mit DNA-Fragmenten, die ebenfalls mit dem gleichen Restriktionsenzym geschnitten wurde, so kommt es in vielen Fällen zu einer Verbindung zwischen Plasmid-DNA und Eukaryoten-DNA. Beide DNAs besitzen komplementäre Basensequenzen (sticky ends), die kovalent mittels eines spezifischen Enzyms, DNA Ligase, miteinander verknüpft werden. Als Ergebnis erhält man Plasmide, die nur ein einziges Stück von Eukaryoten-DNA (z.B. von Insekten [Drosophila], Frösche oder Säugetieren) enthalten. Diese Plasmide werden auch als Rekombinante Plasmide oder meist als Rekombinante DNA bezeichnet. Die häufig verwendeten und kommerziell erhältlilichen Plasmide enthalten meist zwei AntibiotikaResistenzen. Das tcR-Gen verleiht dem Bakterium Tetracyclin-Resistenz, das ApR-Gen AmpicillinResistenz. Diese Tatsache ist für Klonierungstechniken von entscheidender Bedeutung, weil es dadurch möglich wird, nur solche Bakterien zu selektionieren, die ein rekombinantes Plasmid aufgenommen haben. Hier der prinzipielle Ablauf der Methodik.

Durch geeignete Techniken ist es möglich, daß Wild-Typ E.coli-Bakterien rekombinante Plasmide aufnehmen. Aber nicht jedes Bakterium nimmt Plasmide auf. Auf Ampicillin-haltigen AgarPetrischalen vermehren sich nur solche Bakterien, die rekombinante Plasmide aufgenommen haben (wichtiges Selektionsprinzip). Es werden dann Kolonien von auf Ampicillin-wachsenden Bakterien auf andere Agarplatten, die Tetracyclin enthalten, übertragen. Falls die Bakterien dort wachsen, muß der Genbereich, der für die Resistenz verantwortlich ist, intakt sein. Die Plasmide haben sich in diesem Falle einfach wieder geschlossen, ohne daß sie Eukaryoten-DNA integriert haben. Sie sind deshalb für die weitere Klonierung uninteressant. Durch spezielle Methoden (spezielle Konstruktion des Plasmids), auf die ich hier nicht eingehe, kann die spontane Ringbildung vermieden werden. Bakterien, die auf Ampicillin, aber nicht auf Tetracyclin-haltigen Agarplatten wachsen, enthalten Plasmide, deren tcR-Gen-Sequenz durch ein integriertes Eukaryoten-DNA-Stück (Fremd-DNA) unterbrochen und deshalb inaktiviert wurde. Diese Bakterienkolonien sind für die weitere Analyse interessant. Im anschließenden sogenannten „Screening“ (Sortieren, Sieben) wird nach solchen Bakterien-Kolonien gesucht, die ein bestimmtes Eukaryonten-Gen (im Plasmid) enthalten: Bakterienzellen der Kolonien, die rekombinante Plasmide enthalten, werden durch Abdruck von den Agarplatten auf NitrozelluloseFilter plaziert. Nach Lysierung (Platzen) der Bakterien wird die DNA an das Filter gebunden. Es folgt eine Hitzedenaturierung der DNA (Separierung der DNA in Einzelstränge). Dann werden die Filter in einer Lösung inkubiert, die die RNA (oder deren cDNA-Kopie) des Genes enhält, das kloniert werden soll. Falls eines der Plasmide das gesuchte Gen enthält, so ist die entsprechende DNA auf dem Filter gebunden. Nur diese DNA kann die radioaktive spezifische RNA oder cDNA binden, d.h. die RNA oder cDNA mit komplimen123

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tären Basen bildet mit der DNA ein Hybridmolekül. Es wird dann ein Röntgenfilm in Kontakt mit dem Filter gebracht. Über der Region, in der die immobilisierte DNA die radioaktive RNA oder cDNA gebunden hat (Bakterienkolonie mit dem gesuchten Gen), bildet sich auf dem Röntgenfilm nach seiner Entwicklung ein schwarzer Fleck. [Die energiereichen Elektronen, abgestrahlt von der radioaktiven RNA, haben den gleichen Effekt auf die Silberhalogenid-Kristalle in der Filmemulsion wie sichtbares Licht]. Nun weiß man, welche Kolonie auf der Agarplatte das gesuchte Gen enthält und kann nun diese Bakterien billionenfach vermehren und damit gleichzeitig die in ihnen vorhandenen rekombinanten Plasmide (als Insert das gesuchte Gen).

te DNA-Moleküle (Plasmid + fremd DNA) produziert werden. Dabei wird sowohl das Plasmid als auch die Fremd-DNA (meist von Eukaryoten) mit dem gleichen Restriktionsenzym behandelt, wodurch komplementäre „sticky ends“ geschaffen werden. Durch ein weiteres Enzym, DNA-Ligase, erfolgt der Einbau der Eukaryoten-DNA in das Plasmid. Nach Herstellung des Hybrid-Plasmids wird dieses in E.coli-Bakterien eingeschleust, wo es repliziert wird. Dieser Prozeß wird auch als Transformation der Bakterien bezeichnet.

Die rekombinanten Plasmide können dann von der chromosomalen DNA des Bakteriums durch Ultrazentrifugation oder durch spezielle säulenchromatographische Techniken separiert werden. Die Eukaryonten-DNA kann dann durch das jeweils spezifische Restriktionsenzym aus dem Plasmidring herausgeschnitten werden. Auf diese Weise können Mikrogramm-Mengen der DNA-Sequenz, die das zu isolierende Gen repräsentieren, in hochangereicherter Form gewonnen werden. Das oben geschilderte Verfahren hört sich einfacher an als es in der Praxis tatsächlich ist. Um ein bestimmtes Gen von Säugetieren zu charakterisieren, muß man etwa 1500 Kolonien screenen, was mit erheblichen technischen know how und vor allem großem Zeitaufwand verbunden ist.

M 13 ist ein Einzelstrang - DNA-Bakteriophage. In der Wirtszelle verwandelt er sich in eine replikative Form (doppelsträngig). Das Genome ist zirkulär, 6500 Nukleotide lang. Bis auf eine 507-lange Nucleotid-Region, genannt intergenic sequence (IS) enthält das M 13-Genom genetische Information, die für die Virus-Replikation notwendig ist. Die IS akzeptiert jedoch inserts von Fremd-DNA, ohne daß die Lebensfähigkeit (viability) des M 13 verlorengeht. Die für die Klonierung konstruierten M 13 besitzen 2 Typen von Sequenzen, die in dieser Region eingefügt sind. 1) Das erste ist ein Fragment des E.coli lac operon, das die Regulator-Region und Kodierungsinformation für die ersten 146 Aminosäuren des ßgalactosidase-Gens (Z-Gen) enthält (siehe JacobMonod-Modell). Der aminoterminale Bereich des ß-galactosidase Proteins, synthetisiert in den infizierten Zellen, ist in der Lage, ein defektes ß-galactosidase - Gen (lac- - Mutante: z- y+ a+, das auf dem F-Episome in der Wirtszelle vorhanden ist, zu komplementieren ("α- complementation"). Die Komplementation produziert aktive ß-ga-

Spezielle Erläuterungen Die Abkürzungen der Restriktionsenzyme deuten auf die Organismen hin, in denen sie vorkommen, z.B. EcoRI in E.coli. Diese Enzyme produzieren entweder „klebrige Enden“(sticky ends) oder „stumpfe Enden“ (blund ends) . Dadurch können ringförmige rekombinan-

Klonierung in Phagen Bakteriophage M 13 Vektors [(X-Gal)-Prinzip]

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lactosidase, die eine blaueFarbe-Bildung bewirkt, wenn die Phagen und E.coli in Gegenwart des Induktors Isopropyl-thiogalactoside (IPTG) und dem chromogenen Substrat Xgal wachsen (Xgal = 5-bromo-4-chloro-3-indolyl-ß-D-galactoside, IPTG ist ein nicht verstoffwechselbarer Induktor) 2) Der zweite Sequenztyp ist ein kleines DNAFragment („Polylinker“), das verschiedene einmal vorhandene Restriction-Sites enthält. Dieses DNAFragment (Polylinker) ist in den N-terminalen Bereich des ß-galactosidase Gens eingefügt. Diese Insertion hat keinen negativen Einfluß auf die Fähigkeit des ß-galactosidase Peptids, die ß-galactosidase-Mutante zu komplementieren. Jedoch, weitere Insertionen (z. B. Fremd-[Eukaryoten]-DNA) zerstören die Komplementation. Phagen, die Inserts enthalten, ergeben farblose Plaques, wenn sie in Gegenwart von IPTC und Xgal gehalten werden. Klonierung in Plasmiden Wichtigste Voraussetzung für effektive Klonierung: Möglichkeit der Unterscheidung von Plasmiden mit oder ohne Fremd-DNA, d. h. Rezirkulation ohne Fremd-DNA. 1. Weitgehende Verhinderung der Rezirkulation (genaue Einhaltung von bestimmten Konzentrations-Relationen von Vector und Fremd-DNA oder andere Techniken [siehe unten]). 2. Unterscheidung von Rekombinanter DNA von nicht rekombinanter DNA durch genetische Techniken. a) Insertions - Inaktivierung von Genbereichen auf dem Vektor, die Antibiotika-Resistenz bewirken. b) Directional cloning (Gezieltes Klonieren) Viele Plasmid-Vektoren besitzen 2 oder mehrere einmalige Restriktionsenzym Erkennungs-Sequenzen (Recognition sites).

Es besitzt z.B. Plasmid PBR 322 jeweils eine Hind III und eine Bam H I - Schnittstelle. Nach Spaltung mit beiden Enzymen kann das größere Fragment elektrophoretisch separiert werden und mit Fremd-DNA [geschnitten mit den gleichen Enzymen] ligiert werden, die ebenfalls kohesive Enden besitzt und somit kompatibel ist zu den durch Bam H I und Hind III im Plasmid produzierten klebrigen Enden. Die resultierenden zirkulären Rekombinanten transformieren die Bakterien zu Ampicillin Resistenz. Weil bei nicht Rekombinanten aufgrund der fehlenden Komplementarität zwischen dem durch Hind III und Bam H I produzierten Sequenzen die Rezirkulation nicht effektiv verläuft, ist die Transformation der E.coli sehr unzureichend. Das bedeutet, daß die meisten ampicillin-resistenten E.coli-Kolonien auch FremdDNA eingebaut haben. zu 1. Verhinderung der Rezirkulation Während der Ligation katalysiert DNA-Ligase die Bildung von Phosphodiesterbindungen zwischen zwei benachbarten Nukleotiden nur dann, wenn 1 Nukleotid eine 5'-Phosphatgruppe und das andere eine 3'-Hydroxylgruppe enthält. Die Rezirkulationsneigung kann verringert werden, wenn man die 5'-Phosphate von beiden Enden der linearen DNA mittels bakterieller Alkalischer Phosphatase oder Calf intestinal Phosphatase (Darm-Phosphatase) entfernt. Der Vektor kann daher keine Phosphodiester-Bindung bilden, d. h. keine Rezirkulation; dagegen aber Fremd-DNA mit jeweils 1 Strang. Die zirculäre DNA (Vektor + Fremd-DNA) transformiert trotz der Nicks die Bakterien effizienter als die lineare Plasmid DNA. Bakteriophage λ λ ist ein doppelsträngiger DNA-Virus mit einer Genomgröße von ~ 50 Kb. In λ−Bakteriophagen liegt die DNA als ein lineares Duplex-Molekül vor

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mit einzelsträngigen komplementären Enden ,12 Nucleotide lang (cohesive ends). Nach Eindringen in die Bakterien findet Rezirkulation durch Paarung der kohesiven Enden statt. Es erfolgt dann eine Replikation der ringförmigen DNA. Zwei Vermehrungsprinzipien: 1. Lytisches Wachstum Vermehrung und Bildung von Phagen 2. Lysogenes Wachstum Integration des Phagengenoms in die Wirts-DNA (E.coli) Assembly (Zusammenbau der Phagenuntereinheiten) Die 2 Hauptuntereinheiten der reifen Bakteriophagen - Kopf und Schwanz, werden separat konstruiert und später zum funktionsfähigen Phagen zusammengesetzt. Konstruktion von Bakteriophage λ -Vektoren Zwei verschiedene Typen von Konstruktionen sind üblich: 1) 1. Typ besitzt einen single target site (Angriffspunkt für ein Restriktionenzym), wo die FremdDNA eingefügt wird. (Insertions Vektor) 2) 2. Typ besitzt ein Paar von Sites, die ein Segment betreffen, das entfernt und durch FremdDNA ersetzt werden kann. (Replacement- oder Substitutions- Vektor) Das Klonieren mit Bakteriophage λ -Vektoren umfaßt folgende Schritte: 1. Vektor DNA wird mit geeigneten Restriktionsenzymen geschnitten. Im Falle der Replacement Vektoren werden der linke und rechte Arm vom zentralen „Stuffer“(Füller)-Fragment mittels Dichtegradienten-Zentrifugation oder Gelelektrophorese getrennt. 2. Die Arme werden dann mit Fremd-DNA ligiert, die entsprechende kompatible Endbereiche aufweist. 3. Die so erhaltene rekombinante DNA wird in

vitro in Bakteriophagen verpackt, die dann Plaques bei geeigneten (Lysierung der Bakterien) Wirten bilden. 4. Rekombinante Phagen, die die gewünschte Fremd-DNA integriert haben, werden dann meist mittels Nukleinsäure-Hybridisierung indentifiziert.

Auswahl des geeigneten Vektors Nicht jeder Vektor ist für den Einbau jedes DNAFragments geeignet. Folgende Betrachtungen sind wichtig für die Auswahl: 1. Die Restriktionsenzyme, die verwendet werden sollen 2. die Größe des Fragments der Fremd-DNA, das in den Vektor eingefügt werden soll. Nur etwa 60 % des viralen Genoms (der linke Arm, ~ 20 Kb lang, der die „Kopf und Schwanzgene“ A - J enthält, und der rechte Arm von PR bis zum Cos R site) ist notwendig für die lytische Propagation. Dagegen ist das mittlere Drittel des Genoms nicht notwendig für das lytische Wachstum. Es kann deshalb durch Fremd-DNA ersetzt werden. Die Vitalität des Phagen nimmt jedoch dramatisch ab, wenn DNA e ingebaut wird, die länger als 105 % oder kürzer als 78 % des Wildtyp-Genoms ist. Es ist deshalb wichtig, eine Kombination von Vektor und Fremd-DNA so zu wählen, daß der resultierende rekombinante Phage innerhalb bestimmter Größengrenzen liegt. Das Stuffer-Segment kann als Selektionsprinzip dienen. 1. Wird linker und rechter Arm ohne Stuffer fusioniert, so ist dieses Genom zu klein, um verpackt zu werden. Nur ein Genom mit integrierter FremdDNA wird verpackt. 2. Bestimmte Vektoren enthalten einen Stuffer, der Gene enthält, die einen bestimmten Phenotyp realisieren, der leicht zu identifizieren ist. So enthalten verschiedene Vektoren in dieser Stuffer-Region unter anderem ein Segment der E.

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coli DNA, das für ß-galactosidase kodiert. Solche Vektoren bilden blaue Plaques, wenn sie auf lac-Wirte in Gegenwart des chromogenen Substrats 5bromo-4-chloro-3-indolyl-ß-D-galactoside (X-gal) platiert werden. Die Klonierung mit diesem Vektor resultiert in dem Ersetzen (Replacement) des größten Teils des ß-galactosidase Gens durch Fremd-DNA. Die sich ergebenden Phagen können dadurch erkannt werden, daß sie farblose Plaques im X-Gal-System bilden, wenn sie auf auf lac--Wirte transferiert werden.

IV Deletionen von Wildtyp λ -Sequenzen sind angedeutet durch eine durchgezogene Linie. V Insertionen oder Substitutionen werden durch Boxen mit diagonalen Streifen angedeutet (Insertionen von E.coli), VI Restriktionsenzym-Schnittstellen, die nicht in der Wild-typ-DNA vorhanden sind, sind auf der Vektor-Liste angedeutet (oben auf der Abbildung). VII Rechts von der Vektor-Karte VIIa(auch in der Restrictions Sites-Liste VIIb) sind die Restriktionsenzyme aufgelistet, die bei diesem Vektor angewendet werden können.

Kartierung des Bakteriophagen λ -VekVIII Über jeder Linie ist die Fragmentgröße (in tors Kb) angedeutet, auf der linken Seite die maximale Größe Jede Karte von Bakteriophagen (λ -Vektoren) ist auf der rechten Seite die minimale Größe folgendermaßen aufgebaut (siehe Abbildung auf die von dem Vektor noch toleriert wird. der nächsten Seite): 1. Die erste Zeile ist eine Skala in Kilobasen (Kb). 2. Die zweite Zeile charakterisiert die Restriktionsenzym-Orte und die Positionen der wichtigsten Gene der Wildtyp -λ -DNA. 3. die dritte Zeile ist eine Karte des vorliegendenVektors I weiße Rechtecke repräsentieren Regionen, dievom Wildtyp abgeleitet sind (identisch sind). II spezifische Mutationen (z. B. Wam oder ts) sind über diesen Rechtecken eingezeichnet. III Restriction sites, die durch in vivo oder in vitro selection während der Konstruktion des Vektors entfernt wurden, sind durch kleine x über den Rechtecken angedeutet.

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das Enzym Exonuclease- Aktivität und kann Nuc-

Strategien für die Erstellung einer cDNA- leotide vom 5'-Ende des Nick entfernen. Die Entfernung von Nucleotiden von der 5' Seite und Bibliothek [cDNA-Library]) Definition einer cDNA-library: Erfassung sämtlicher mRNAs, die in einem bestimmten Zelltyp vorkommen. Sämtliche mögliche mRNAs dieses Zelltyps werden in Plasmide oder Phagen verpackt und stehen somit dem kundigen „Leser“ wie in einer Bibliothek zum „Lesen“ (Screening) zur Verfügung. Es handelt sich im Gegensatz zu einer Genomischen Bibliothek nur um einen kleinen Teil der im Gesamtgenom gespeicherten Informationen. Während die genomischen Sequenzen in jeder Zelle weitgehend identisch sind, ergeben sich bei den mRNAs in den verschiedenen, differenzierten Zellen deutliche Unterschiede (Beispiele: in Blutzellen finden wir mRNA, die für Globin kodiert, in Muskelzellen Muskel-α−actin-mRNA, in Epidermiszellen mRNA, die für α−Keratin kodiert oder in zukünftigen Gehirnzellen mRNA, die für neuralspezifisches ß-Tubulin kodiert).

sequentielle Addition an der 3'-Seite resultiert in einer Bewegung des Nick (nick translation) entlang der DNA. Durch Ersetzen der kalten Nucleotide durch hochradioaktive ergibt sich eine spezifische Aktivität höher als 108 cpm/µg. Nachweis der Identität der Klone, die die gewünschte cDNA enthalten:

1. Die klonierte cDNA ist in der Lage, die speziellen mRNA zu selektionieren. cDNA (kloniert) wird an Nitrocellulose-Filter gebunden und mRNA in Lösung daran hybridisiert. Nach Auswaschen der nicht gesuchten mRNAs, wird die gesuchte mRNA aus dem Hybrid abgelöst und in einem zellfreien System translatiert. 2. Hybridisierung der klonierten cDNA an die zu charakterisierende mRNA. Dadurch wird die Translations (Proteinsynthese) inhibiert. Damit kann die Abundant mRNAs (in vielen Kopien vorhandene Identität einer bestimmten mRNA nachgewiesen werden. mRNA) 3. Durch direkte DNA-Sequenzierung, wenn die 50 - 90 % der totalen cytoplasmatischen poly(A)+ Aminosequenz des Proteins bekannt ist und damit RNA, isoliert von bestimmten Zelltypen, ist in auch die Basensequenz. diesem Falle eine bestimmte mRNA, z. B. Ovalbumin oder Globin-mRNA. Ohne weitere Reinigung Low Abundant mRNAs (wenige mRNA-Kopien kann von der abundant mRNA mittels Reverser pro Zelle) Transkriptase 32P-markierte einzelsträngige cDNA synthetisiert werden. Es folgt die Synthese zum Neueste Strategien zum Nachweis seltener mRNAs bestehen darin: Doppelstrang und die Klonierung. Herstellung einer großen Zahl von cDNA Klonen ausgehend von totaler poly (A)+ RNA und IdenticDNA-Synthese mittels Nick-Translation fizierung einer bestimmten cDNA. Die gesamte DNase I produziert Nicks mit 5'-Phosphat-Termi- Kollektion von cDNAs einer bestimmten Präparation von poly (A)+- RNA (aus bestimmten Zellen, ni (Nick = Kerbe). Escherichia coli DNA Polymerase I fügt Nucleo- z.B. Leber oder Muskel) wird cDNA - Bibliothek tide an die 3'-hydroxyl- Termini. Außerdem hat (cDNA-Library) genannt.

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Eine typische Säugerzelle enthält zwischen 10.000 und 30.000 verschiedenen mRNA-Sequenzen. Williams (1981) hat die Zahl der Klone bestimmt, die notwendig sind, um eine komplette cDNALibrary von einer menschlichen Fibroblasten-Zelle zu erhalten, die etwa 12.000 verschiedene mRNA-Sequenzen enthält. Die Low abundance Klasse von mRNAs (