Weggesperrt - Die Onleihe

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26. Juni 2013 ... Weggesperrt. Ursula Biondi (1949), mit 17 nach Hindelbank: Jetzt ist fertig. Ich bringe mich um. Ich war ein unternehmungslustiges und ...
Wegsperren statt helfen Wieso Vormundschaftsbehörden «Arbeitsscheue», «Liederliche» und «Verwahrloste» in Straf- oder Arbeitserziehungsanstalten sperren. Und wie dies unter dem Einfluss der Grundrechte langsam ändert.

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Ursula Biondi (1949), mit 17 nach Hindelbank:

Jetzt ist fertig. Ich bringe mich um. Ich war ein unternehmungslustiges und hübsches Mädchen. Vielleicht zu unternehmungslustig und zu hübsch für die Sechzigerjahre. Aufgewachsen bin ich in einfachen Verhältnissen als zweite Tochter eines in der Schweiz geborenen italienischen Vaters (seine Mutter war Schweizerin) und einer Schweizer Mutter, die mit der Heirat ihr Bürgerrecht abgeben musste. Das Drama fing so richtig an, als ich mich mit 13 in einen gleichaltrigen Knaben verliebte. Er drängte mich – wohl beeinflusst durch seine älteren Kollegen – zum ersten Sex. Der war schmerzhaft und folgenreich. Etwas Blut blieb an seinem Slip, den er zu Hause in den Wäschekorb warf. Seine Mutter liess das Blut im Labor analysieren und mein Freund gab zu, dass er mit mir geschlafen hatte. Darauf zeigte mich seine Mutter wegen Unzucht mit Minderjährigen an. Und mein Vater hat mir zuerst den Tod gewünscht und mich dann immer wieder verprügelt. Er hatte Angst, seine Einbürgerung sei nun gefährdet. Danach haute ich immer wieder von zu Hause ab, weil ich es nicht mehr aushielt. 1964, als ich 15 und mit der Schule fertig war, riet mein Lehrer zum Welschlandjahr. Aber da geriet ich vom Regen in die Traufe. Der Hausherr hat mich sexuell missbraucht. Als ich das auf dem lokalen Polizeiposten meldete, rief der Polizist bloss den Täter an und sagte, er solle kommen. Als er kam, zeigte der Polizist auf ein Kämmerchen. Dort drin sollten wir die Sache miteinander klären. Der Mann, Personaldirektor einer grossen Firma und im Dorf eine angesehene Persönlichkeit, ging vor mir auf die Knie und flehte mich an, nichts zu sagen, weil sonst die drei Kinder,

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die ich doch lieb gewonnen hätte, keinen Vater mehr hätten. Ich schämte mich und zog die Anzeige zurück. Bald wurde ich krank, erbrach immer wieder. Das war Bulimie. Und dann kam ich zurück zu meinen Eltern nach Zürich. Vom Missbrauch erzählte ich zu Hause nichts. Wegen der Geschichte mit meiner Jugendliebe hatte ich Angst, man würde mir die Schuld daran in die Schuhe schieben. Ich galt als Versagerin, weil ich ja nicht einmal das Welschlandjahr durchgehalten hatte. Dann fing ich eine Lehrstelle als Verkäuferin von Damenunterwäsche an, langweilte mich da aber bald. Zu Hause gab es ständig Streit, weil ich mich nicht so benahm, wie mein Vater es sich wünschte. Er stand ja stark unter dem Druck der Einbürgerung. Und so haute ich wieder ab. Wenn der Vater schimpfte, dachte ich nur: «Was willst du mir befehlen? Ich habe euch Erwachsene doch längst durchschaut.» Sie steckten mich dann 1965 in ein Mädchenheim. Das verstand ich nicht und floh auch da. In der Hawaii-Bar im Zürcher Niederdorf lernte ich mit 16 den Eisenleger Heinz kennen. Er war sieben Jahre älter und wurde meine grosse Liebe. Doch zusammenziehen konnten wir nicht. Aus zwei Gründen: Zum einen hatte er nach einer Scheidung ein Heiratsverbot, zum andern galt in Zürich noch das Konkubinatsverbot. Deshalb flohen wir nach Genua und mit 17 wurde ich dort schwanger. Heinz reiste immer wieder in die Schweiz, um sein Heiratsverbot vorzeitig aufzuheben. Und dann kam er eines Tages nicht mehr zurück. Da bin ich zusammengebrochen, wurde von der Polizei aufgegriffen und in die Schweiz zurückgeschafft. Und dort hat man mich in die Frauenstrafanstalt Hindelbank im Kanton Bern gesteckt. Ohne for-

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melles Verfahren, ohne mich anzuhören und ohne dass ich je etwas verbrochen hätte. Die Zürcher Vormundschaftsbehörden wiesen mich im April 1967 im Einverständnis mit meinen Eltern «für die Dauer von zwei Jahren in ein geeignetes Erziehungsheim» ein. Das «geeignete Erziehungsheim» war aber keine pädagogisch ausgerichtete Anstalt, sondern eine Abteilung der Frauenstrafanstalt Hindelbank. Da lebte ich unter Straftäterinnen. Eine Frau erzählte mir, sie habe vier Männer ermordet und bereue nichts. Männer hätten nichts anderes verdient. So sah die geeignete Erziehungsmassnahme aus. Ich erlebte in der Anstalt, wie Wärter Frauen für sexuelle Dienste gefügig machten, erfuhr aber auch die Solidarität der Insassinnen. Zum Beispiel von Mädi [Madeleine Ischer, siehe Lebensgeschichte, Seite 45], die mir zusätzliches Essen brachte, das ich wegen der Schwangerschaft brauchte. Immer wieder besuchte mich ein Beamter der Zürcher Vormundschaftsbehörde und forderte mich auf, mein noch ungeborenes Kind zur Adoption freizugeben. Mit einem Kind würde ich mir doch nur das Leben verbauen, sagte er. Ich lehnte immer ab. Nach der Geburt im Berner Inselspital brachte die Hebamme meinen Sohn sofort weg. Ich lag ganz alleine im Kreisssaal und plötzlich sah ich auf dem Beistelltisch einen Zettel mit dem Satz: «Kind der Mutter nicht zeigen wegen Adoption.» Da habe ich geschrien. Und geschrien. Bis

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Der Arzt hat zu meinem

die Oberärztin kam. Ich habe weiter ge-

Sohn gesagt: «Jetzt

schrien. Die Oberärztin hat versprochen,

sagst du deiner Mutter

mit meiner Mutter über meinen Sohn zu

Adieu.»

reden. Und meine Mutter hat gesagt, ich

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alleine dürfe über ihn entscheiden. Da glaubte ich, ich hätte jetzt mein Baby. Zehn Tage blieb ich im Spital. Meinen Sohn durfte ich pro Tag nur zehn Minuten sehen. Am Tag des Rücktransports nach Hindelbank sah ich im Spitalkorridor den Oberarzt mit meinem Sohn auf dem Arm. Mit ausgestreckten Armen bin ich auf mein Baby zu. Aber der Arzt hat mich weggeschoben und zu meinem Sohn gesagt: «Jetzt sagst du deiner Mutter Adieu.» «Schrei jetzt nicht», flüsterte mir eine Krankenschwester ins Ohr. «Jetzt musst du zeigen, dass du eine gute Mutter sein kannst.» Für den Moment konnte ich meine Verzweiflung bändigen. Aber ein paar Tage danach, wieder in Hindelbank, brannten mir in der Waschküche plötzlich alle Sicherungen durch. Ein Schreikrampf schüttelte mich: «Wo ist mein Sohn? Ich will mein Baby!», schrie ich und dachte: «Jetzt ist fertig. Ich bringe mich um.» Da äffte mich eine Insassin nach und lachte mich aus. Und diese Demütigung am Tiefpunkt meines Lebens verwandelte sich in Energie. Ich nahm ein grosses Brett und warf es gegen die Frau. Dafür musste ich zwar drei Tage in die Arrestzelle, aber von da an wusste ich: Jetzt gehts nur noch aufwärts. Die Gefängnis-Sozialarbeiterin versprach mir, alles zu tun, damit ich meinen Sohn bekomme. Ich habe sie nur verächtlich angeschaut. Da hat die Sozialarbeiterin mein Gesicht in beide Hände genommen, mir in die Augen geschaut und gesagt: «Glaub mir.» Drei Monate nach dem Schreikrampf bekam ich meinen Sohn zurück und lebte noch fünf Monate mit ihm in Hindelbank. Dann versetzte man mich Ende April 1968 wegen guter Führung in ein Kinderheim nach Brunnen, wo ich aber ausriss, weil ich Angst hatte, man wolle mir mein Baby wegnehmen. Ich ging zu meinen

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